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»Verdammt noch mal, habe ich es mir doch gedacht«, flüstert Tess und greift nach dem Funkgerät, den Blick auf das rote Kreuz mit dem weißen Äskulapstab gerichtet, dem Zeichen dafür, dass das Auto einem Arzt gehört.
»Wir haben ihn!«, flüstert Andy.
»Auto des Verdächtigen gefunden.«
Sie kann die Aufregung in ihrer Stimme kaum verbergen. Andy parkt den Streifenwagen mitten auf dem Weg, um von vornherein einen Fluchtversuch zu vereiteln.
Der schwarze Citroën C5 steht schräg über der Parkplatzmarkierung, und außer ihm parkt kein anderer Wagen hier. Ist Walschap nervös gewesen? Das Auto fällt auf, genau, wie die Frau gesagt hat.
»Behalte die Umgebung im Auge.«
Andy nickt und dreht sich zum Wald und den Maisfeldern um.
Das Auto ist leer. Auf dem Armaturenbrett liegen eine Parkscheibe und einige Parkscheine. Vor dem Beifahrersitz steht ein Rucksack. Er entspricht Charlottes Beschreibung von Sams Rucksack. Im Fach beim Schaltknüppel liegen ein bisschen Kleingeld und eine Rolle Pfefferminz. Der Rücksitz ist leer.
Tess dreht sich zum Café um. Vor den Fenstern hängen dicke rote Gardinen. Die Tische und Stühle der Terrasse sind an einer Wand aufgestapelt und zusammengekettet.
Als sie näher kommt, fällt ihr auf, wie heruntergekommen das Gebäude ist. Die Fenster sind schmutzig, von außen klebt Sand daran, und die Spuren von Regentropfen sind zu sehen. Die Farbe des Zaunes blättert ab, und dicke braune Pilze wachsen an der Unterseite. Innen an den Fenstern, vor den ausgeblichenen Gardinen, haben sich Spinnweben gebildet.
An der Wand dicht neben der Tür steht ein Klappschild. In Gelb und Weiß hat jemand Heiße Pfannkuchen darauf geschrieben. Und in Rot darüber: Jetzt Klosterbier vom Fass! Die Kreide sieht frisch aus – das einzig Frische am ganzen Café.
Auf der Rückseite des Lokals, wo der Wald seinen dunklen Schatten über das Gebäude wirft, scheint die Temperatur zu sinken. Es riecht feucht und muffig. Rund um drei blaue Tonnen voller altem Frittenfett kreisen dicke Fliegen. Hier kommt kaum noch jemand hin, nicht mal der Besitzer des Cafés, denkt Tess, und dort, wo keine Besucher hinsehen, ist die Verwahrlosung noch schlimmer als auf der Vorderseite. An der rückwärtigen Fassade klettert Efeu hinauf, und es scheint, als würde der Wald still und leise das Café in sich hineinziehen.
Dann sieht sie den Zwinger. Ein Hund ist zum Glück nicht darin. An ihn erinnert nur noch ein rostiger Fressnapf.
Tess ist jetzt an der Seite des Cafés angekommen, und der Blick auf die Terrasse erleichtert sie. Sie passiert drei schwarze Müllsäcke, aus denen bräunliche Flüssigkeit sickert, doch je mehr sie sich der Terrasse nähert, desto ordentlicher wirkt das Grundstück. Die Rosensträucher sind gepflegt und blühen üppig. Andy erscheint in ihrem Blickfeld. Ihr schräg gegenüber, den Blick starr auf sie gerichtet, greift er nach seinem Holster, und sie erschrickt.
Er nickt in Richtung des Waldes hinter ihr, und die Bewegung schärft all ihre Sinne. Sie hört Zweige knacken, nicht das beständige Ächzen und Stöhnen des Waldes, der lebt und sich bewegt, sondern das Knacken toter Zweige unter Gewicht, unter Füßen. Blitzschnell dreht sie sich um und richtet die Waffe auf den Wald. Sie orientiert sich nach dem Geräusch, sieht aber nichts. Oder besser: Sie sieht zu viel, denn überall herrscht Bewegung, flimmern Lichtreflexe.
Wieder ein Knacken. Links. Ein Schatten.
»Walschap! Polizei! Der Wald ist umzingelt! Kommen Sie mit erhobenen Händen raus!«
War es nur der Schatten eines Astes? Oder ein Tier, das im Unterholz gewühlt hat? Spricht sie mit einer Fata Morgana?
»Walschap, Sie sind umzingelt. Wir halten unsere Waffen auf Sie gerichtet. Kommen Sie raus, die Hände über dem Kopf!«
Sie wechselt einen schnellen Blick mit Andy, der ein Stück weiter auf dieselbe Stelle im Wald zielt.
»Wal…«
»Nicht schießen!«
Tess fühlt, wie sich die Haare auf ihren Armen aufrichten.
»Ich komme raus, nicht schießen!«