15
Chris bekam es mit der Angst zu tun, als Nanny den roten Faden der Geschichte verlor. Er saß auf einer Seite des Bettes neben ihr, Gert auf der anderen Seite, beide in weiche Kissen geschmiegt und von einer geblümten Decke umhüllt, zwischen ihnen Nannys warmer Körper.
Auf der Suche nach ihren Tabletten hatte Chris es nicht gewagt, sich umzusehen, und als er eben hereingekommen war, war sein Blick sofort auf das Nachtschränkchen und die Schublade gefallen, die er mit zitternden Händen geöffnet hatte. Sein Blick huschte von der Schublade zu Nanny und wieder zurück, viel zu schnell, wie er selbst fand. Verdächtig schnell. Aber Nanny hatte nur gelacht, als er ihr das Tablett überreichte. Seine unbegründete Angst und seine Ungeschicklichkeit, durch die er sich beinahe verraten hätte, trieben ihm die Schamesröte ins Gesicht. Nanny dachte wahrscheinlich, es sei aus Verlegenheit, weil sie sich so gefreut hatte über sein kleines Geschenk und Komplimente ihn immer erröten ließen. Nachdem sie das Tablett auf das Nachtschränkchen gestellt hatte, hatte sie ihn umarmt. Die Angst, die ihn später in der Nacht noch vollkommen lähmen sollte, war vorerst verschwunden.
Nachdem sie sich alle zusammen ins Bett gekuschelt hatten, durfte Gert sich eine Geschichte aus dem großen Buch mit den altmodischen Bildern aussuchen. Nanny brachte die Jungs zum Lachen, indem sie die Stimmen der Märchenfiguren nachahmte, gackerte wie ein Huhn und brummte wie ein Bär. Ab und zu trank sie von dem Cocktail, den Chris ihr immer wieder anreichte. Sie sagte, er schmecke sehr gut. Chris strahlte vor Stolz. Die Geschichte kannte er in- und auswendig, daher sah er sich aufmerksam im Zimmer um.
An der Wand hingen zwei Bilder mit Jagdszenen. Die Farben der feinen Tuschezeichnungen waren im Laufe der Jahre zu Rot- und Brauntönen verblasst, die die Bilder in eine mysteriöse Atmosphäre tauchten, als spielten sich die Szenen am frühen Abend oder dem frühen Morgen ab. Auf den Zeichnungen nahmen Männer mit komischen Hüten, umringt von Hunden und Pferden, Abschied von ihren Frauen. Diese standen auf der Marmortreppe eines stattlichen Landhauses und wirkten besorgt, als hätten sie Angst, am Abend nichts zu essen zu bekommen, oder befürchteten, einer ihrer Männer könnte mit einem Hirsch verwechselt und von seinen Freunden erschossen werden. Chris prägte sich die Szenen in allen Einzelheiten ein, dann könnten er und Gert beim nächsten Mal im Wald spielen, sie wären mit Pferden und Hunden auf der Jagd.
Wie schade, dachte Chris, dass er nicht öfter in Nannys Zimmer kommen durfte, denn hier war es viel gemütlicher als unten im Salon, wo er um Himmels willen nichts anfassen durfte, um nichts von den teuren Sachen kaputtzumachen. Gert lachte über einen Witz von Nanny, und sie bat noch einmal um das Getränk. Chris reichte ihr das Glas vom Nachtschränkchen.
»Deine Shirley Temple schmeckt viel besser als meine, Chris«, lobte ihn Nanny, als sie ihm das Glas zurückgab.
»Danke, Nanny«, sagte er. Sein Plan funktionierte. Nanny war sichtlich ruhiger geworden, und allmählich fragte er sich, wie es weitergehen würde. Schon sprach sie seinen Namen mit schleppender Zunge aus. Die Angst, noch klein und beherrschbar, stieg wieder in ihm auf, und ihm wurde heiß im Nacken. Er wischte sich den Schweiß weg. Vielleicht lag es auch nur am warmen Kissen.
»Ich glaube, ich werde müde, Jungs«, sagte Nanny, nachdem sie noch ein wenig gelesen und irgendwann vollkommen den Faden verloren hatte. »Mir verschwimmt schon alles vor den Augen.«
Ihr Gesicht war gerötet, und sie sprach sehr langsam. Chris’ Herz dagegen klopfte wie wild. Das Glas war so gut wie leer; nur noch ein kleiner Rest war übrig.
»Ischglaubwirsolllltenmabessernsbettgehn.« Sie versuchte, sich aufrecht hinzusetzen. Chris stand vom Bett auf und half ihr. Auch Gert stand auf. Er nahm Nanny das Buch aus den Händen und legte es zurück ins Regal.
»Können wir dir noch irgendwie helfen, Nanny?«, fragte Gert.
»Dasssissehrliebvoneuch«, antwortete Nanny. »Aber … ich gehjetz … muss schnell zur Toilette.«
Sie stand aus dem Bett auf, ging zwei Schritte und geriet ins Schwanken. Chris versuchte, sie aufrecht zu halten. Er griff nach ihrer Taille, spürte durch den Schlafanzug ihre Brüste und ihren Bauchspeck und ließ sie los, wie von der Tarantel gestochen. Das Blut stieg ihm zu Kopf, und er hoffte, dass Nanny bis morgen vergessen hätte, dass er sie so berührt hatte.
Nanny stürzte auf den Dielenfußboden. Im Garten ertönte Gelächter, als würden seine Eltern und ihre Freunde durch eine versteckte Kamera Zeugen der Szene.
Nanny stöhnte und richtete sich auf alle viere auf.
»Oh je«, sagte Gert. Chris betrachtete die Zeichnungen an der Wand und fragte sich, wie die Männer mit den Hunden in dieser Situation handeln würden.
Nanny kroch zur Badezimmertür und versuchte, sie zu öffnen. Gert eilte ihr zu Hilfe. Als er das Licht einschaltete, erhaschte Chris einen Blick auf einen Spiegel und ein Waschbecken. Das Badezimmer war bis auf halbe Höhe blau gekachelt und darüber weiß gestrichen. Gert kam zurück ins Schlafzimmer.
»Sollen wir Papa holen gehen?«
Alles, nur das nicht. Nicht nach dem ganzen Ärger wegen ihrer Waldexpedition. Chris musste selbst eine Lösung finden. Da hörte er ein widerwärtiges Geräusch aus dem Badezimmer.
Gert schlich zur Tür, Chris hinter ihm her.
»Du musst nachsehen«, flüsterte Gert, »du bist der Ältere!«
Chris schluckte und schlich zur Tür. Im Badezimmer lag der intensive Duft von Nannys Parfüm, gemischt mit einem leicht säuerlichen Geruch. Nanny saß auf der Toilette, den Schlafanzug mit gelblichem Glibber bedeckt.
»Oh«, stöhnte sie.
»Sie hat sich übergeben«, sagte Chris und blickte sich zu Gert um. Dieser schob ihn ein Stück beiseite, um Nanny sehen zu können. »Wenn Papa das sieht, flippt er aus«, sagte er und dann, an seinen Bruder gewandt: »Was machen wir jetzt?«
Chris wusste sich keinen Rat mehr, die Verbindung zwischen seinem Gehirn und seinem Körper schien gekappt zu sein. Er schaute seinen jüngeren Bruder an in der Hoffnung, dieser hätte eine Lösung parat.
»Wir müssen zusehen, dass sie wieder normal wird«, sagte Gert. Chris lief zum Waschbecken, nahm die Zahnbürste aus dem Glas und füllte es mit Wasser.
»Hier, trink, Nanny.«
Nanny hob den Kopf. Auch an ihren Lippen und am Kinn hing Erbrochenes. Chris setzte ihr das Glas an die Lippen, aber sie trank nicht. Das Wasser troff aus ihrem Mund. Sie hustete ein paarmal.
Chris sah Gert an, der den Kopf schüttelte und mit den Schultern zuckte.
»Spritz ihr ein bisschen Wasser ins Gesicht, das hilft vielleicht.«
Chris tauchte die Finger ins Glas und spritzte Tropfen über Nannys Gesicht. Keine Reaktion.
»Wir brauchen mehr Wasser!«, sagte Gert. »Das ganze Glas!«
Chris zögerte. Gert drängte ihn beiseite und nahm ihm das Glas ab.
»So!« Nanny hob erstaunt den Kopf, als sich das Wasser über sie ergoss. Es lief über ihr Gesicht und ihren schmutzigen Pyjama, und Chris hörte es auf das Linoleum tropfen. Nanny prustete kurz und ließ danach wieder den Kopf hängen.
»Hast du das gesehen? Es funktioniert! Wir brauchen mehr«, sagte Gert, der das Glas bereits wieder füllte.
»Wir können doch nicht einfach immer mehr Wasser über sie schütten!« Chris beugte sich über Nanny. Sie schaukelte hin und her und murmelte unverständliches Zeug, als redete sie im Schlaf. Chris befürchtete, dass sie von der Toilette fallen würde. Er hatte Angst. Sein ganzer Körper war wie erstarrt vor Angst, alles zu verlieren. An diesem Tag hatte er Mama und Papa enttäuscht, Nannys Vertrauen missbraucht, und jetzt hatte er sie auch noch unter Drogen gesetzt. Was, wenn sie starb?
»Haben wir einen Eimer?«
Chris schüttelte den Kopf. Dann schlug er vor: »Oder sollen wir sie unter die Dusche setzen?«
Gert runzelte die Stirn. Dann hellte sich sein Gesicht auf, und er sagte: »Ich habe eine bessere Idee!«
Er stieß Chris an der Schulter an.
»Was?«, fragte Chris.
»Wir bringen sie ins Schwimmbad! Wenn wir sie ins kalte Wasser werfen, wird sie ganz bestimmt wieder wach. Glaub mir!«
Die Idee war bescheuert. Chris sah die Gefahr sofort.
Doch da war noch dieses andere Gefühl. Als sein Bruder den absurden Vorschlag äußerte, erfasste ihn eine seltsame Erregung. Mit seinem braven, vernünftigen Verhalten hatte er eine Katastrophe verursacht, da sollte er jetzt, da Gert mit einer so außergewöhnlichen Lösung kam, vielleicht einmal seinen Verstand ausschalten und seinem Gefühl folgen.
Der Swimmingpool konnte tatsächlich eine Lösung sein. Er hatte selbst gesehen, wie Nanny auf das Glas Wasser reagiert hatte. Ein ganzes Schwimmbecken voll würde sie garantiert wieder zur Besinnung bringen. Bestimmt würde sie wütend werden, aber eine wütende Nanny war ihm immer noch weit lieber als wütende Eltern. Er sollte sich diesem Kribbeln hingeben und aufhören nachzudenken. So machte es Gert, und hatte er bisher jemals Ärger deswegen bekommen? Schulterklopfen und Applaus bekam er, und er hatte immer die Lacher auf seiner Seite.
Wärme breitete sich von seinem Hals bis in den Bauch aus und konzentrierte sich in seinem Pimmel, der steif wurde.
»Gut«, sagte er, während er Nanny unter einer Achsel packte, »dann ab ins Schwimmbad.«
»Wir dürfen das Licht nicht einschalten«, sagte Gert, als sie die Tür zum Schwimmbad öffneten. Es war schwierig gewesen, Nanny die Treppe hinunterzubugsieren, und ihr Herz hatte einen Schlag ausgesetzt, als sie an der Küche vorbeikamen und Papa gerade Bier holte. Er sah sie nicht, hörte nicht einmal Nannys leises Murmeln. Sie ließ sich willig von den Jungen führen, und Chris fragte sich, ob sie eine Ahnung hatte, was ihr bevorstand.
Gert stieß die Tür auf, und der Chlorgeruch stach Chris in die Nase. Er verdrängte den Gedanken an das Verbot, das sein Vater ihm eingebläut hatte: Nie nachts in den Swimmingpool gehen! Jetzt wollte Gert auch noch wissen, ob sie Nannys Schlafanzug ausziehen sollten.
»Nein!«, fuhr Chris ihn an, der unwillkürlich an ihren weichen Busen und ihren Bauch zurückdachte. Sie stellten sich an den Rand des Schwimmbads. Das Licht aus dem Garten fiel in großen Trapezen auf das Wasser, das spiegelglatt dalag.
»Nicht böse sein, Nanny«, flüsterte Chris. War es da schon die Angst, die ihn betäubte, oder wieder die Erregung? »Gleich wird’s kalt.«
Er nickte Gert zu, sie gaben ihr beide einen Schubs, und mit einem Riesenplatscher stürzte Nanny ins Wasser.