28
Am Horizont, über den Maisfeldern, ragt der Wald auf. Tess liebt die dichte Baumformation. Eine faszinierende Bedrohung geht von ihr aus, die sie an ihre Pfadfinderzeit erinnert. Dennoch hofft sie auf Neuigkeiten von den Mannschaften am Fluss, denn sie hat keine Lust, diesen dunklen Wald auf der Suche nach einem gestörten Vater mit einer Wahnsinnsidee durchzukämmen. Doch die Nachricht kommt nicht, und je mehr sie sich dem Wald nähern, desto überzeugter ist sie, dass Walschap dort ist. Die Baumkronen scheinen ihr zuzuwinken: Komm, hier ist er! Komm ihn holen.
Andy lenkt das Auto an den Straßenrand. Der schmale Weg bietet nicht genügend Platz für zwei Fahrzeuge, und doch hält er nicht an, als ihm jemand entgegenkommt.
»Guck mal, der Hund geht mit Frauchen Gassi«, scherzt er grinsend, kurbelt die Scheibe herunter und lehnt sich aus dem Fenster. Der Hund, ein wunderschönes Tier – es scheint eine Kreuzung zwischen einem blonden Labrador und einer Dogge zu sein, nur doppelt so groß –, ist offensichtlich zu stark für die kleine Frau. Sie geht wie jemand, der einen Berg hinuntersteigt, Po und Schultern hinter der Körperachse, mit den Füßen bremsend, die Leine zwischen sich und dem Hund straff gespannt. Das Tier nimmt die Hälfte des unbefestigten Wegs in Anspruch, um nach Herzenslust seiner Nase zu folgen.
»Das ist kein Hund, das ist ein Zugpferd«, bemerkt Andy und verschluckt sich an seinem Lachen.
Hustend schlägt er sich auf die Brust.
»Ruhig, Kay, ruhig«, sagt die Frau und wirft einen Seitenblick zum Auto. Sie schiebt sich eine Locke aus dem Gesicht, die aber sofort zurückfällt. Als sie den grinsenden Andy sieht, reißt sie kurz an der Leine. Der Hund bellt und wendet den Kopf zum Auto.
»Tag, Hund«, sagt er und dann, zerknirscht wie ein Schuljunge, zur Frau: »Guten Tag.«
Die Frau nickt. Sie hat große rote Flecken im Gesicht, das an einigen Stellen geradezu violett verfärbt ist.
»Die kommt geradewegs aus dem Café, wetten?«, sagt Andy, als sie vorbei ist.
Tess blickt in den Rückspiegel. Der Hund schnüffelt am Straßenrand, die Frau hängt an der Leine, ihr Slip zeichnet sich deutlich unter der weißen Hose ab. Sie trägt weiße Sportschuhe, die nicht zu ihrer spießigen Kleidung passen.
Tess stößt Andy an.
»Schau zu und lern was.«
Sie steigt aus und geht zu der Frau hinüber.
»Entschuldigen Sie …«
Hinter sich hört sie, wie Andy fluchend die Autotür öffnet.
Die Frau dreht sich um. Der Hund, der weitergehen will, bringt sie ins Schwanken, aber sie bleibt standfest.
»Tess Jonkman von der Kriminalpolizei.«
Die Frau erschrickt, als hätte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie einen Hundehaufen nicht eingesammelt hat.
»Haben Sie einen Mann mit einem kleinen Jungen gesehen? Der Mann ist Anfang vierzig, der Junge elf Jahre alt.«
»Blondes Haar?«, fragt die Frau erleichtert. Tess nickt.
»Ja, die beiden habe ich gesehen. Der Junge hat meinen Hund mit Kastanien beworfen.«
»Wo genau haben Sie sie gesehen?«
Die Frau zeigt auf den Wald.
»Ich gehe jeden Tag mit meinem Hund hier spazieren, aber die beiden habe ich zum ersten Mal gesehen. Haben sie noch andere Leute belästigt?«
»Nein, aber sind Sie zufällig am Waldcafé vorbeigekommen?«
»Ja.«
»Hat dort ein Auto gestanden?«
»Ja, nur eines. Krumm und schief geparkt. Das ist mir sofort aufgefallen.«
»Können Sie den Wagen beschreiben?«
»Es war so einer, wie Geschäftsleute ihn fahren. Dunkel.«
»Welche Farbe?«
»Schwarz? Oder dunkelblau, ich weiß nicht genau.«
»Welche Marke?«
Die Frau lacht. »Keine Ahnung. Ich kenne mich mit Autos nicht aus.«
»Danke!«, sagt Tess, dreht sich um und prallt beinahe gegen Andy.
»Los, komm, Watson, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Sie rennen zum Auto.
Andy fährt los, und Tess ruft Frank an.
»Eine Zeugin hat Walschap im Wald gesehen!«
»Gut. Du bekommst jede Hilfe, die du brauchst. Viel Glück, Tess!«
In ihrem Augenwinkel wird der Wald immer größer, wie eine heraufziehende Gewitterwolke.