20

»Vielleicht braucht der Junge ein Haustier«, sagte Charlottes Vater nach dem Urlaub in der Schweiz. Er wartete einen Moment und legte eine bedeutungsschwere Pause ein, während er das Fleisch auf dem Grill umdrehte. Ohne von den Würstchen aufzublicken, fuhr er fort: »Tiere sind anhänglich. Er bräuchte ihm kein Freund zu sein – er wäre das Herrchen.«

»Keine schlechte Idee, Papa«, antwortete Charlotte. Was hältst du davon?, schienen ihre Augen zu fragen. Chris trank einen Schluck von seinem Bier. Sam tobte hinten im Garten zwischen den Sträuchern herum. Im Geiste sah Chris vor sich, was Sam alles mit einem Hamster, Meerschweinchen oder einem Kaninchen anstellen könnte. Gebrochene Pfötchen, ausgestochene Augen, abgeschnittene Ohren. Er sah schon eine kleine Tierleiche aus einem Abfluss herausragen oder aus einer Tüte Tiefkühlgemüse fallen. Und wie schnell konnte ein brennendes Nagetier ein Haus lichterloh in Brand setzen?

Charlotte stieß ihn an. »Es käme doch auf einen Versuch an, oder?«

»Ich glaube nicht, dass er mit Baumstämmen danach werfen würde«, bemerkte Eddy lachend und legte die Würste auf eine Platte. Um den Appetit der Nachbarn anzuregen, streute er eine Handvoll Kräuter auf die Kohlen. Martine kam mit Kartoffelsalat heraus.

»Ich fände es auch schön, wenn Sam einen Spielkameraden bekäme«, sagte sie, als spräche sie von einem Bruder oder einer Schwester.

»Jetzt sind wir drei gegen einen«, sagte Charlottes Vater.

»Wollt ihr, dass er auch noch für das belohnt wird, was er getan hat?«

Eine Stille trat ein, in der Eddy, Martine und Charlotte vielsagende Blicke wechselten.

»Du bist zu streng zu Sam«, warf Eddy ihm vor. »Wenn er bei uns ist, haben wir nie Probleme mit ihm.«

»Das kommt daher«, erwiderte Chris, »dass ihr ihn über die Maßen verwöhnt. Warum sollte er Schwierigkeiten machen, wenn ihr immer mit ihm auf Kuschelkurs geht?«

»Man fängt keine Fliegen mit Essig. Wann hast du den Jungen zum letzten Mal in den Arm genommen?«

Charlotte erwiderte mit sorgenvollem Blick: »Papa!«

»Das geht dich gar nichts an«, sagte Chris.

»Sam braucht Zuneigung«, fuhr Eddy fort, »und wenn er selbst einem Tier ein wenig Zuneigung schenken kann, mindert das vielleicht seine Aggressionen.«

Ihre Zweifel waren Charlotte deutlich anzusehen.

»Wenn du Psychologen und Medikation weiterhin ablehnst«, sagte sie zu Chris, »müssen wir doch etwas anderes finden, um ihn ein wenig in den Griff zu bekommen.«

»So oder so«, fügte Eddy hinzu.

Chris blickte auf die Wurst auf seinem Teller. Dann mussten sie eben die Konsequenzen tragen. Er schluckte seine Wut herunter, und während Martine nach Sam rief, sagte er: »Na schön.«

Als das graue Tigerkätzchen, das Sam Muschi genannt hatte, zum ersten Mal an seinem Bein hochsprang, dachte Chris: Pass nur auf, sei ein bisschen nett zu dem Familienmitglied, das von morgen an dein Katzenklo saubermacht. Aber hier irrte Chris. Er brauchte weder das Katzenklo sauberzumachen noch den Wassernapf aufzufüllen oder das Tier zu füttern.

Wenn Chris abends nach Hause kam, sprang das Kätzchen zusammen mit Sam hinter Bällen oder Püppchen her, fraß schmatzend frisches Futter für Katzenjunge oder schlief schnurrend auf Sams Schoß. Vom Wohnzimmersessel aus zwinkerte Charlotte Chris zu.

Eines Abends wollte Sam die Katze in sein Zimmer mitnehmen. Chris verbot es ihm.

»Nicht die Katze auf dein Zimmer, Sam. Das ist unhygienisch.«

Charlotte kam hinzu.

»Ich habe es ihm versprochen«, erwiderte sie. Sam wartete nicht weiter ab und rannte nach oben.

Charlotte zog Chris mit ins Wohnzimmer.

»Lass ihn doch«, sagte sie.

»Die Katze hält ihn die ganze Nacht wach. Das ist eklig. Angenommen, sie …?«

Charlotte umarmte ihn.

»Das werden wir schon sehen, bestimmt regelt es sich von selbst. Bitte, lass ihn.«

Er ließ ihn. Manchmal hörte er nachts die Katzenpfötchen auf der Treppe, wenn das Tier in den Abstellraum ging, um etwas zu fressen oder die Katzentoilette aufzusuchen. Nach einer Woche trottete das Kätzchen überall hinter Sam her, der sanft mit ihm redete und versuchte, ihm Kunststücke beizubringen.

»Das wird die erste Zirkuskatze, Mama!«, rief er, wenn Muschi einen Ball fing.

Charlotte war begeistert und Chris, wie er zugeben musste, auch. Er wunderte sich über die Sorgfalt, mit der Sam sich um die Katze kümmerte, und die absolute Hingabe des Tieres, das sich nur wohlfühlte, wenn der Junge in seiner Nähe war.

Als Chris einen Monat später den Hausmüll rausbringen wollte, fand er weiße Flocken im Abfall. Hatte Charlotte einen Vorrat Watte weggeworfen? Warum? Er wühlte im Müll herum. An einigen Wattestücken hingen Streifen von braunem Stoff.

Er fuhr mit dem Arm bis an den Ellbogen in die Tonne. Er berührte säuerliche, weiche Spaghetti, Kaffeesatz und Bolognesesauce. Normalerweise gaben sie den Abfall immer in Plastiktüten, aber offenbar hatte ihn diesmal jemand einfach lose hineingeworfen. Er förderte mehr weiße Flocken und Stoffstreifen zu Tage. Seine Hand fuhr an altem Brot und verdorbenem Schinken vorbei. Schließlich fühlte er ein großes, rundes Stück Stoff und zog es hoch.

Es war ein Kopf. Beschmiert mit Sauce und Kaffeesatz. Wo die Augen hätten sein sollen, quollen weiße Flocken Plüsch aus den Höhlen. An der rechten Augenhöhle klebte rote Schmiere.

Zurück im Haus fragte er Charlotte: »Hast du Sams Teddybär in den Müll geworfen?«

Sie schaute vom Herd auf.

»Wie bitte? Was hast du gesagt?«

»Der Teddybär. Er liegt im Müll, in Stücke gerissen.«

Chris ging ins Wohnzimmer.

Sam saß vor dem Fernseher. Auf seinem Schoß lag die Katze und schnurrte mit geschlossenen Augen.

»Ich habe deinen Teddybären im Müll gefunden«, sagte Chris.

Der Junge schwieg. Die Katze öffnete die Augen und begann, ihre Vorderpfoten zu lecken.

»Teddy, in Stücke gerissen, im Abfall«, wiederholte Chris.

Sam seufzte.

»Na und?«

»Er war dein bester Freund.«

Sam streichelte der Katze über den Kopf.

»Ich brauche Teddy nicht mehr.«

Die Katze gähnte, und Sam kraulte sie unter dem Kinn.

»Ich hab doch jetzt Muschi.«

Der Psychopath
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