22
»Warum haben Sie sich von Ihrem Mann getrennt?«
»Würden Sie es mit so jemandem aushalten?«
Charlottes Stimme zittert ein wenig. Noch einmal fährt sie mit der Hand durchs Haar und ruiniert damit ihre Frisur.
»Sie haben alles aufgehoben«, stellt Tess fest.
»Mein Rechtsanwalt hat mir geraten, Beweismaterial aufzubewahren, um die Forderung nach dem alleinigen Sorgerecht zu untermauern.«
»Das haben Sie vor zwei Wochen erhalten, nicht wahr?«
»Ja, außerdem hat Chris ein Kontaktverbot auferlegt bekommen.« Charlotte wendet den Blick ab. »Es blieb nicht bei den Artikeln. Er rief häufig an, verfolgte Sam und mich, stand draußen unter dem Fenster. Es musste aufhören.«
»Ich kann mir vorstellen, dass Chris Ihnen das Kontaktverbot sehr übel genommen hat.«
»Natürlich.«
Charlotte schlägt die Augen nieder. Tess nimmt ein Blatt vom Tisch.
»Was meint Chris hiermit, Charlotte?«
Sie hält einen Artikel über ein Mädchen in der Hand, das von einem Jungen aus der Nachbarschaft misshandelt wurde. Erinnerst du dich an Emelys Gesicht?, steht am Rand.
»Emely war doch Ihr Nachbarsmädchen, stimmt’s? Was ist mit ihrem Gesicht geschehen?«
Charlotte strafft abrupt den Rücken, als hätte sie jemand von hinten angestoßen.
»Chris bildet sich ein, dass Sam Emely irgendwann etwas antun wird. Und dass es nicht mehr allzu lange dauern wird.«
»Und was hat ihr Gesicht damit zu tun?«
»Es gab einen Vorfall bei dem Geburtstagsfest.«
Charlotte sucht ein Foto auf dem Tisch, reicht es Tess und sagt: »Das ist Emely. Sie war auch da.«
Tess sieht einen verlegenen Blick unter glattem, fettigem Haar. Sie hat einen Gesichtsausdruck wie diesen schon öfter gesehen. Es ist der Blick des geborenen Opfers.
Auf einmal klingelt es.
Charlotte schreckt auf, Tess eilt zur Sprechanlage.
»Hallo?«
»Charlotte?«
»Tess Jonkman, Kriminalpolizei.«
»Guten Tag, ich bin Eddy, Charlottes Vater.«
Im Hintergrund hört Tess eine Frauenstimme. Sie wendet sich an Charlotte.
»Es sind Ihre Eltern.«
Charlotte presst die Lippen zusammen und sinkt auf einen Stuhl.
»Bitte, kommen Sie rauf«, sagt Tess und betätigt den Türöffner.
Tess bleibt im Wohnzimmer stehen, als Charlottes Eltern hereinkommen. Ihr ausgeprägtes Taktgefühl drängt sie eigentlich dazu, im Flur zu warten, bis sich die ersten Gefühlsaufwallungen gelegt haben, aber manchmal muss das Mitgefühl hinter dem gesunden Menschenverstand zurückstehen. Es macht sie verlegen, Zeugin intimer Gefühle zu werden, die sie nichts angehen, daher versucht sie, sich in einer Ecke neben einer palmenartigen Pflanze unsichtbar zu machen. Während sich Charlotte und ihre Eltern umarmen, betrachtet sie ein großes Foto über dem Sofa. Wange an Wange lachen Charlotte und Sam in die Kamera. Das Foto wurde in einem Studio aufgenommen. An den Wänden hängen auffällig viele Fotos von Charlotte und Sam – in einem Vergnügungspark, an einem Strand; auf einem Bild erkennt Tess den Park auf der gegenüberliegenden Straßenseite – und in der Küche verzieren Geburtstagskarten und Kinderzeichnungen eine große Pinnwand. Der Raum ist gemütlich eingerichtet, mit alten Möbeln und einem großen Sessel, in dem man versinken kann. So wohnt eine glückliche Familie. Nur der Duft von Pfannkuchen fehlt noch. In nichts erinnert dieses Apartment an die Wohnung einer terrorisierten Mutter mit ihrem verhaltensgestörten Sohn. Wieder betrachtet Tess das große Foto, die dunklen Augen der Mutter und die noch dunkleren Augen des Sohnes und fragt sich, wie lange sie das Fehlverhalten eines solchen Kindes ertragen könnte und wie sie es schaffen würde, damit zu leben. Auf welcher Seite der Verrücktheit würde sie landen? Würde sie nach beschönigenden Erklärungen suchen, den weichen Ansatz wählen, der jeden Fehltritt mit Mutterliebe übertüncht, oder würde ein Moment kommen, in dem sie das Verhalten nicht länger ertragen könnte und einen radikalen Entschluss fassen würde?
Und angenommen, ihr Mann würde sich für die andere Seite entscheiden? Wie lange würde sie es mit ihm aushalten?
Tess erwacht aus ihrem Tagtraum. Ihre Anwesenheit stört bei dem Treffen. Eltern und Tochter flüstern miteinander.
»Chris hat Sam entführt?«, fragt Eddy, als Charlotte ihn aus ihrer Umarmung entlässt.
Charlotte nickt und sagt etwas, das Tess nicht verstehen kann.
»Was?«, fragt die Mutter. »Ihn ermorden?«
»Haben sie ihn schon?«, fragt Eddy und sieht Tess an.
»Nein«, sagt Charlotte, »und ich glaube auch nicht, dass …« Der Rest ist erneut unverständlich.
»Typisch«, sagt Eddy.
Ihre Gereiztheit verwandelt sich in gespannte Erwartung, als sie sich zu Tess umwenden. Sie hasst diesen Blick. Als würde man ihnen schon auf der Polizeischule die Lösung für jede erdenkliche Situation eintrichtern. Dabei beruht der Erfolg der Polizei meist auf dummen Fehlern der Täter. Da Tess nicht sofort etwas sagt, richten die Eltern ihre Aufmerksamkeit auf den Tisch. Die Mutter nimmt ein Foto in die Hand, erschrickt und legt es zurück. Eddy erkennt die Fotos wieder.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Können Sie sich vorstellen, wo Herr Walschap mit Sam hingefahren sein könnte?«
Eddy schüttelt den Kopf.
»Nein, aber eines weiß ich sicher: Das hier bringt Sie kein Stück weiter. Mein Enkel ist in Gefahr! Warum sitzen Sie hier herum und blättern Fotos durch? Sie belästigen meine Tochter mit Fragen, die nichts zur Sache tun, während der Täter frei herumläuft. Das kann die Polizei gut, oder?«
»Papa, dein Herz«, mahnt Charlotte.
»Sie sollten da draußen sein!«
Keuchend zeigt er zum Fenster hinaus.
»Hier werden Sie meinen Enkel nicht finden, und auch seinen gestörten Vater nicht!«
Tess kennt diese Art Männer, die sie an den Chihuahua ihrer Oma erinnern. Wahrscheinlich postet er auf Nachrichtenartikel im Internet regelmäßig Kommentare nach dem Motto: »Mit unseren Steuergeldern!«, oder: »Schande!« Von Charlottes Eltern hat Tess keine Hilfe zu erwarten, daher hält sie sich lieber an die praktischen Belange.
»Bleiben Sie hier, oder nehmen Sie Charlotte mit nach Hause?«, fragt sie.
Die Wut in den Augen der Eltern weicht der Unsicherheit.
»Wir wollten eigentlich hierbleiben«, sagt die Mutter, »für den Fall, dass Sam aus eigenem Antrieb zurückkehrt. Aber wenn Sie …«
Tess hebt die Hand.
»Nein, alles in Ordnung.« Sie stellt sich ans Fenster und schiebt die Gardine beiseite.
»Meine Kollegen überwachen das Haus Tag und Nacht. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, falls Herr Walschap plötzlich vor der Tür steht.«
»Sie rechnen also doch damit, dass …« Eddy schluckt.
»Ja, die Chance besteht.«
»Aber dann kommt er nicht, um Sam zurückzubringen«, flüstert Charlotte.
Test stellt sich neben sie.
»Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, egal, was, egal, wie unbedeutend es Ihnen auch erscheinen mag, lassen Sie es mich wissen. Egal, wann. Sie können mich rund um die Uhr erreichen.«
Als sie aus dem Haus tritt, nickt Tess den Kollegen im alten Peugeot zu. Sie heben die Hand. Tess zwinkert zufrieden, sie sind aufmerksam.
Aus der Innentasche ihres Mantels holt sie eine Zigarette, inhaliert den Rauch tief und bläst ihn in Richtung des Parks auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dort wird er ja wieder in Sauerstoff umgewandelt, denkt sie fröstelnd. Letztes Jahr hatte sie sich vorgenommen, jeden Abend im Schutz der hohen Bäume den ganzen Weg rund um den Park zu laufen. Wie oft hatte sie es geschafft? War es am dritten oder am vierten Abend gewesen, als sie nach der halben Runde aufgab? Weil es so stark regnete. Sie hat es nicht noch einmal versucht. Sucht sie nicht immer einen Grund, möglichst keinen Sport zu treiben? Wie lange verstaubt schon das Fitnessfahrrad in ihrem Schlafzimmer?
Sie zieht das Handy heraus, um nachzusehen, ob neue Nachrichten eingegangen sind. Sie erschrickt, als es klingelt.
»Tess.«
»Hier ist Frank. Wir haben den größten Teil von Walschaps Sachen durchsucht, aber nichts gefunden, woraus sich schließen lässt, wo er jetzt ist.«
»Mist!« Sie zieht an ihrer Zigarette und sagt: »Ich möchte, dass ihr noch mal zu den Nachbarn geht.«
»Den Stinkenachbarn?«
»Genau«, bestätigt Tess. »Befragt die Tochter, Emely. Sie ist offenbar von entscheidender Bedeutung bei diesem ganzen verrückten Scheiß.«
»Okay, machen wir. Es gibt übrigens gute Neuigkeiten. Der Nerd durchforstet Walschaps Computer.«
Der »Nerd« – so nennen sie ihren IT-Spezialisten Nico, der ziemlich stolz auf seinen Spitznamen ist.
»Augenblick, er will dich sprechen. Ich gebe ihn dir mal kurz.«
Tess hört, wie das Telefon weitergereicht wird, und dann ertönt seine Stimme, so laut, als riefe er ihr direkt ins Ohr: »Hallo, Tess!«
»Tag, Nico.«
»Gute Nachrichten! Die Computer zu knacken, war ganz simpel, sie waren nicht speziell gesichert. Ich habe noch nicht alles durchgesehen, bin aber schon auf etwas Interessantes gestoßen.«
»Erzähl.«
»Sein Internet-Userverhalten ist auffällig. Neben Online-Zeitungen, ab und zu Facebook und Internetbanking, also dem Üblichen, hat er oft die Seite der örtlichen Hausarztvereinigung aufgerufen – auch noch logisch. Aber ansonsten hat er praktisch nur wissenschaftliche Websites besucht.«
»Er hat nach Studien über Psychopathie gesucht. Das hat seine Ex mir erzählt.«
»Stimmt, sein Download-Verzeichnis ist voll mit dieser Psychokacke.«
»Du hast eben etwas von ›praktisch nur wissenschaftlichen Websites‹ gesagt. Was war sonst noch dabei?«
»Die Website der regionalen Forstverwaltung und der Blog einer Grundschulklasse. Das ist alles.«
»Einen Blog?«
»Ja, den führen Lehrerinnen und Lehrer heute öfter. Das ist schön für die Eltern. Und für die Kinder. Die sind echt fit, was die neuen Medien angeht. Gib einem Fünfjährigen ein iPhone in die Hand und er …«
»Nico, bleib beim Thema! Was steht in dem Blog?«
»Es gibt Fotos von Ausflügen, Berichte über ein Schulfest und so weiter. Der letzte Post stammt von letzter Woche. Ich les ihn dir vor, warte einen Moment.«
Während Tess zuhört, wie Nicos Tastatur klappert, blickt sie hinauf zu den Baumkronen rings um den Weg. Sie schimmern.
»Hier ist es. Der Titel lautet ›Herbarium‹. Gepostet von Jolien, der Lehrerin.« Er räuspert sich. »›Der Sommer ist fast vorbei, und der Herbst steht vor der Tür. Die Tage werden kürzer, und die Bäume verlieren ihre Blätter. Habt ihr sie schon hinunterrieseln sehen? Die ideale Jahreszeit also, um ein Herbarium anzulegen. Ein Herbarium ist eine Sammlung von getrockneten Blättern. Geht ab Mittwoch nächster Woche mit euren Eltern in den Wald und sammelt Blätter, über die wir anschließend in der Klasse sprechen.‹« Nico hält inne und sagt dann: »Tja, das war’s.«
»Danke, Nico«, sagt Tess. »Bitte gib mir Frank noch mal kurz.«
Sie zieht ein letztes Mal an der Zigarette und wirft die Kippe in den Rinnstein.
»Tess?«
»Hast du das gehört?«
»Ja.«
»Der Dreckskerl steckt im Wald!«