18
»Nanny?«
Die Lichttrapeze lösten sich im Wellenschlag auf, sobald Nanny das Wasser berührte. Gert und Chris sprangen zurück, als sie die Spritzer im Gesicht fühlten, und warteten darauf, dass Nanny an den Rand strampeln würde, wonach sie ihr aufs Trockene helfen würden. Chris würde sie dabei fest unter einer Achsel greifen, damit er sie nicht wieder auf diese obszöne Art berührte.
Durch die unruhige Wasseroberfläche und das Licht, das unstrukturiert darauf spielte, war schwer zu erkennen, was mit Nanny geschah. Doch schon ziemlich schnell schlug Chris die Panik ums Herz, denn es kam kein Laut. Eine aufgeschreckte Nanny würde mindestens so fluchen wie ein Bauarbeiter, der vom Gerüst fällt.
Doch außer dem leisen Plätschern des Wassers war nichts zu hören, und schon bald sah Chris, dass die Lichtspiegelungen von einem dunklen Fleck durchbrochen wurden. Einem Fleck, der in etwa den Umfang von Nanny hatte.
Er rief ihren Namen noch einmal, lauter, und blickte sich zu den Fenstern um. Nur der Schein eines Spots bewies, dass Papa und Mama noch auf der Terrasse saßen. Dann erschien Gerts Gesicht in seinem Blickfeld. Er sagte etwas. Chris sah, wie sich sein Mund bewegte, hörte aber nichts. Er brauchte auch nichts zu hören, Gerts aufgerissene Augen sagten ihm genug. Gert packte ihn an den Schultern, aber Chris riss sich los.
Er stellte sich näher an den Rand des Wassers, das sich größtenteils wieder beruhigt hatte, sodass sich der dunkle Fleck noch deutlicher abzeichnete. Ähnlich einer Insel oder dem Rücken eines Delfins.
Es war ein beruhigender Anblick; er hätte stundenlang hinsehen können.
Da hörte Chris ein Wort – Papa. Er drehte sich zur Tür um und sah gerade noch Gerts dunkle Gestalt am Lichtschalter. Noch bevor er »Nein!« rufen konnte, wurde er so stark geblendet, als explodierte die ganze Umgebung in Licht, und zusammen mit dem Licht kehrte auch sein Gehör zurück. Während er mit den Augen blinzelte, hörte er, wie die Schiebetür zum Garten aufgerissen wurde und sein Vater brüllte: »Was macht ihr hier?«, und seine Mutter fragte: »Wo ist …?«, gefolgt von einem Schrei.
Als sich seine Augen endlich an das Licht gewöhnt hatten, waren bereits Männer in den Swimmingpool gesprungen. Sie drehten die Insel um – sie drehten den Delfin auf den Rücken –, und Mama brachte ihn und Gert weg. Chris drehte sich immer wieder um, während die Männer den leblosen Körper aus dem Wasser zogen und begannen, auf die Brust einzudrücken.
Nanny verschwand.
Sie kehrte nie mehr zurück.
Wenn Chris nach ihr fragte, antwortete seine Mutter, er brauche sich keine Sorgen zu machen, und sein Vater sagte, alles sei gut geregelt. Fragen nach ihrer Gesundheit wurden damit abgewimmelt, dass ihn das nichts anginge. Als er wissen wollte, ob sie böse sei, fragte sein Vater, was er sich denn wohl denken würde. Nach einem Monat verlangten sie, dass er nicht mehr über den Vorfall redete.
Aber er konnte ihn nicht vergessen. Beim Einschlafen sah er immer wieder Nanny auf der Toilette vor sich, den vollgekotzten Schlafanzug, dann ihren Körper im Swimmingpool und die Männer, die auf ihre Brust drückten, nachdem sie sie aus dem Wasser gezogen hatten. Sie berührten ihre Brust ohne Scham, rau und emotionslos, was ihm noch obszöner erschienen war als seine eigene leichte Berührung von Nannys Rundungen. Doch sie versuchten so, ihr Leben zu retten; seine Berührung war anders gewesen.
Das war das Schlimmste von allem: die Erregung, die er empfunden hatte. Er hatte es genossen, seine Angst zu verdrängen und sich von der Impulsivität seines jüngeren Bruders mitreißen zu lassen. In seinem Körper war eine Wärme entstanden, die er vorher nur gefühlt hatte, wenn er den Mädchen in der Schule beim Sportunterricht zugesehen hatte – und ein bisschen auch bei der Lehrerin im letzten Jahr. Während er Nannys Leben aufs Spiel setzte, hatte die Wärme seinen Pimmel steif gemacht und ein merkwürdiges Kribbeln im Bauch verursacht.
Das war unerträglich. Er wusste genau, dass Nanny ihm nie vergeben würde. Er hatte sich von einem braven, vernünftigen Jungen in ein böses Kind verwandelt. Er war so geworden wie die Männer, die er ab und zu in Papas Zeitung sah. Sie äußerten Reue, weil sie jemandem den Schädel eingeschlagen hatten, hatten aber auf den Fotos einen Anflug von Sehnsucht in den Augen.
Nach einer Weile bekam er Angst davor, ins Bett zu gehen. Immer knarrte oder quietschte etwas im Stockwerk über ihm. Er lag wach und lauschte den Geräuschen, in denen er einmal Nannys Schritte, ein andermal das Klicken ihres Nachttischlämpchens, dann wieder das Quietschen ihres Bettes erkannte. Stunden später, voller Panik und auf tränennassem Kissen, schrie er das ganze Haus zusammen, weil er Nanny die Treppe herunterkommen hörte, um ihn zu bestrafen. Nachdem seine Eltern ihn ein paarmal beruhigt hatten und irgendwann böse geworden waren, schickten sie ihn zu einem Arzt.
Chris hatte erwartet, dass der Arzt ihn untersuchen würde, aber er bat ihn nicht einmal, sein Hemd auszuziehen. Der Mann trug keinen Arztkittel, sondern einen Wollpullover und eine Cordhose. Auf seinem Schreibtisch lag kein Stethoskop, sondern ganz viel Papier, und am Rand stand die Büste eines Mannes mit wirrem Haar und Ringbart. Chris sollte sich nicht auf eine Behandlungsliege setzen, sondern durfte sich auf ein gemütliches Sofa legen.
Der Arzt setzte sich neben ihn, und sein schnaufender Atem beruhigte und störte ihn zugleich. Dann fragte ihn der Arzt mit sanfter Stimme, ein wenig wie der Pastor bei der Beichte, ob er ihm nicht erzählen wolle, was geschehen sei. Zögernd begann Chris, und damit die Bilder nicht allzu deutlich zurückkehrten, blickte er sich im Zimmer um. Vor den Fenstern hingen schwere Gardinen und an den Wänden Gemälde von Blumenvasen. Ringsum ragten hohe Regale voller Bücher auf, und auf einem von ihnen stand ein Jagdhorn. Weiter oben, verborgen im Schatten des schummrigen Lichts, sah er Hirschköpfe. Geschossen von Männern mit verrückten Hüten, dachte Chris, die inmitten ihrer Hunde und Pferde Abschied von ihren auf einer Marmortreppe stehenden Frauen genommen hatten. Tränen traten ihm in die Augen, und während sie über seine Wangen strömten, wanderte der Arzt vor sich hin murmelnd zu seinem Schreibtisch und schrieb einen Brief.
Als Chris’ Mutter den Umschlag öffnete und den kurzen Brief las, blickte sie einen Augenblick auf ihn und dann zu seinem Vater, der ihr den Brief abnahm, mit den Schultern zuckte und sagte: »Dann geht es eben nicht anders. Das macht es auch für dich um einiges leichter.«
Ab dem nächsten Morgen lagen jeden Tag beim Frühstück und Abendessen Tabletten neben seinem Teller.
Er schlief viel besser.
Es schien sogar, als ob er niemals mehr erwachen würde.
Zwei Jahre lang lebte er in einem Nebel. Papa arbeitete noch härter als früher, war nur selten zu Hause und verbrachte seine karge Freizeit am liebsten mit Squash, Golf und Restaurantbesuchen mit Mama, die ihrerseits mehr zu Hause blieb, um sich um ihre Söhne zu kümmern. Sie konzentrierte sich auf Gerts Musikerkarriere, wahrscheinlich, um ihren eigenen Karriereknick zu kompensieren. Auf Anraten von Gerts Klavierlehrer meldete sie ihn zu verschiedenen Wettbewerben an, die er oft mit verblüffender Leichtigkeit gewann. Chris ging mit zu den Konzerten und starrte dabei vor sich hin, während die Musik über ihn hinwegplätscherte.
Ganz allein wanderte er durch die Leere und dachte weder an Nanny noch an den Swimmingpool, ja, er dachte an fast gar nichts mehr. Eines Tages lag er erneut auf dem gemütlichen Sofa des Arztes im Schlabberpulli und der Cordhose. Das Sprechzimmer sah noch genauso aus wie zuvor, nur die Papiere auf dem Schreibtisch waren vermutlich andere als vor zwei Jahren. Auch das Haar des Arztes hatte sich verändert, war dünner und grauer geworden. Er hatte es nach hinten gekämmt – hier und da hob es sich widerspenstig vom Kopf ab –, und er ließ sich einen Ziegenbart wachsen, durch den er der Büste ähnelte, die noch immer auffällig den Schreibtisch zierte.
Chris hielt den Blick auf einen der Hirschköpfe geheftet. Er erzählte, dass er und sein Bruder früher oft im Wald Jagd gespielt hätten und dass es ihm Spaß machen würde, einmal mit richtigen Jägern jagen zu gehen. Er erzählte von der Musikerkarriere seines Bruders, auf den er sehr stolz sei. Er sagte auch, dass er gerne Arzt werden würde, um Menschen zu helfen, genau wie seine Eltern. Über Nanny sagte er nichts. Als der Arzt das Gespräch in diese Richtung lenken wollte, wich Chris aus, ganz so, als interessiere ihn das Thema nicht.
Am nächsten Tag lagen keine Tabletten mehr neben seinem Teller. Er nahm sich vor, nicht mehr über Nanny nachzudenken und auch seinen Eltern keine Fragen mehr zu stellen. Bis der richtige Moment gekommen war.
Viel mehr interessierte ihn, was mit ihm in den vergangenen zwei Jahren geschehen war.