12

Chris bog auf den Parkplatz des Waldlokals ein. Heute Ruhetag stand auf einem Schild. Niemand war im Café, niemand auf der Terrasse, niemand auf dem Parkplatz. Kies spritzte auf. Chris hob den Fuß, mit dem er auf Gaspedal und Bremse zugleich getreten hatte, und trat noch einmal auf die Bremse. In einer Staubwolke holperte das Auto auf den Parkplatz.

Er blickte auf seine Hände. Rund um die abgekauten Fingernägel hatten sich dunkelrote Flecken gebildet. Seit Kurzem kaute er auch die Nagelhaut ab bis aufs Blut. Selbst jetzt spürte er den Drang, den Daumen zum Mund zu führen und auf den losen Häuten zu kauen. Er hatte seine Hände früher stets ordentlich gepflegt; sie waren seine wichtigsten Instrumente. Für die Patienten waren gepflegte Hände und eine saubere Praxis mindestens so wichtig wie ein Rezept. Aber jetzt brauchte er keine gepflegten Hände mehr.

Erst heute Nachmittag während seiner Vorbereitungen hatte er diese milde Form der Selbstverstümmelung bemerkt. Jetzt nahm er die Hände vom Lenkrad und befühlte die Hüfttasche. Er unterdrückte die Neigung, zu kontrollieren, ob nichts fehlte.

Die ganze Woche über hatte ihn ein nagendes Schuldgefühl dazu getrieben, zur Sicherheit noch einmal im Internet zu recherchieren, wider besseren Wissens auf der Suche nach einer Alternative. Doch die Lösung, zu der er sich entschlossen hatte, war und blieb die einzige Möglichkeit.

Deshalb hatte er gestern zwischen zwei Hausbesuchen in einem Sportgeschäft nach Schuhen gesucht, die ihm auf den Waldwegen Halt bieten würden. Diesen Kauf, den letzten Schritt, hatte er bis zuletzt hinausgezögert, und als es so weit war, wollte er ihn so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Chris hatte sich über die große Auswahl geärgert. Offenbar gab es für jeden Typ Wanderung einen anderen Typ Schuh. Bei dem Schild Mittelschwere Wanderungen blieb er stehen. Ihn interessierten weder Modell noch Preis. Er nahm einfach einen Schuh aus dem Regal – wasserfest, Vibramprofilsohle etc. pp. –, probierte ihn an, ging fünf Schritte hin und fünf Schritte zurück, fand die Passform okay, suchte das Gegenstück, zog seinen eigenen Schuh wieder an und ging zur Kasse.

Dort versuchte er, seine Gedanken von dem abzulenken, was er im Begriff war zu tun. Er konzentrierte sich auf die schwieligen Fersen der Frau vor ihm. Ihr Körper war zu schwer für die Knöchel, die von den ausgelatschten Sandalen nicht genügend gestützt wurden und sich nach innen bogen. Das würde ihr noch Probleme bereiten. Er studierte die kleinen Wunden an ihren Füßen und beobachtete die mühsame Art, mit der sie sich fortbewegte. Zweifellos hatte sie zumindest einen gestörten Glukosestoffwechsel.

Wahrscheinlich hatte sie oft ein Kribbeln in Händen und Füßen. Oder Empfindungsstörungen. Durch das verschlechterte Sehen, eine weitere Begleiterscheinung, konnte sie die kleinen Wunden an den Füßen nicht erkennen, wodurch diese unbehandelt blieben. Man könnte den Diabetes dieser Frau zum jetzigen Zeitpunkt eventuell noch abmildern oder gar verhindern. Eine gesunde Lebensweise wäre ein wichtiger Bestandteil der Therapie, aber nur wenigen Betroffenen gelang es, diesen Teil in die Tat umzusetzen. Manche seiner Patienten hielten sich für zu alt, um ihren Lebensstil noch zu verändern, und starben letztendlich zu früh.

Chris’ Blick fiel auf den Gegenstand, den die Frau der Kassiererin reichte. Ein Basketball. Er stellte sich vor, wie sie den Ball ihrem Enkel schenkte. Unwillkürlich sah er daraufhin seine Eltern vor sich: seinen Vater, der mit Sam Fußball spielte, seine Mutter, die ihrem Enkel eine Geschichte vorlas. Doch solche Erinnerungen waren selten. Chris’ Eltern, beide pensionierte Chirurgen, verbrachten ihren Ruhestand am liebsten auf Kreuzfahrten und in ihrem Ferienhaus an der portugiesischen Küste. Natürlich schickten sie Sam zum Geburtstag eine Karte, an Nikolaus stand garantiert ein großes Geschenk vor der Tür, und an Weihnachten kam ein noch größeres; dennoch waren seine Eltern allmählich Fremde für ihren Enkel geworden. Vielleicht war das auch besser so. Er selbst hatte ihre Liebe verloren, als er elf Jahre alt gewesen war – falls sie ihn überhaupt je geliebt hatten –, und ihre Gegenwart bedrückte ihn nur.

Das nächste Bild war schlimmer: Charlottes Eltern an der Haustür ihrer kleinen Villa, winkend, während er das Auto vor der Tür parkte. Chris winkte vom Fahrersitz aus zurück, obwohl er wusste, dass Eddy und Martine nur Augen für das Kind hatten, das auf sie zugerannt kam, und für Charlotte, die sie innig umarmte, nachdem sie ihnen Sams Koffer überreicht hatte. Beim Abschied weinte der Junge nicht, denn auf ihn wartete eine ganze Woche, in der er grenzenlos verwöhnt wurde. Jeden Tag ein anderer Vergnügungspark, das Meer, der Badesee. Jeden Tag sein Lieblingsessen und zwischendurch massenweise Süßigkeiten.

Chris schloss die Augen. Er hasste es, wie sich unkontrollierbar Dinge in seinen Kopf schlichen, an die er keinesfalls denken wollte.

»Wollen Sie bezahlen?«, fragte die Kassiererin.

Er öffnete die Augen.

»Entschuldigen Sie«, sagte er und legte die Schuhe an die Kasse. Nachdem er bezahlt hatte, verabschiedete er sich übertrieben freundlich, als wolle er sich selbst davon überzeugen, dass er trotz allem ein guter Mensch war.

Chris schaltete in den Leerlauf und drehte den Zündschlüssel. Mit leisem Ticken kam der Motor zur Ruhe. Chris schmeckte Blut. An seinem Daumennagel rann ein Tropfen aus der kleinen Wunde vorbei. Er kaute auf dem geschmacklosen Hautstück und schluckte es herunter.

Ein wenig Blut war bereits im Nagelbett eingetrocknet. An der Wunde hing ein neuer Tropfen, der langsam gerann. Chris hatte den Gerinnungsprozess des Blutes seit jeher faszinierend gefunden. Zunächst verengte sich das Blutgefäß, woraufhin die Blutplättchen sich an die Kollagenfasern der Gefäßwand hefteten. Danach begann ein komplizierter Prozess, bei dem Dutzende Faktoren zur Gerinnung beitrugen. Fibrinfäden fingen Blutplättchen ein, und diese blieben kleben wie Fliegen in einem Spinnennetz. Dann schrumpfte das Netz, die Ränder wurden aufeinander zugezogen, und die Gefäßwand konnte sich regenerieren.

Neben ihm ertönte ein Seufzer. Chris blickte von seinem Daumen zu dem Jungen. Die Augen, diese tiefschwarzen Kohlen, hatte er von seiner Mutter, ebenso wie den kleinen Mund mit den dünnen Lippen. Doch die Nase und die Kinnpartie waren unverkennbar Walschap-Erbe. Die Ähnlichkeit, die ihm in diesem Moment besonders prägnant vorkam, verletzte ihn. Auch das widerspenstige blonde Haar hatte Sam von ihm geerbt. Sein Haaransatz würde eventuell schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr zurückweichen. Charlottes Vater hatte schon mit fünfundzwanzig eine Glatze gehabt, und diesen genetischen Defekt hatte er ziemlich sicher über seine Tochter an seinen Enkel weitergegeben.

»Bist du bereit?«, fragte Chris.

Sein Sohn nickte.

»Hast du alles dabei?«

Der Junge zog eine Mappe zwischen seinen Füßen hervor und hielt sie hoch. Herbarium hatte er darauf geschrieben.

»Lass den Rucksack ruhig im Auto. Und dein Smartphone auch, dann kannst du es nicht verlieren.«

»Ist nicht nötig. Es steht sowieso auf Lautlos, das wollen die Lehrer so.«

»Du lässt es hier.«

Sam steckte das Telefon in die vordere Tasche des Rucksacks.

»Na dann, auf geht’s.«

Sie stiegen aus.

Der Psychopath
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