16
»Sam!«
Er flucht unterdrückt.
»Sam!«
Wo ist er? In dem kurzen Moment, in dem Chris der Frau nachgeschaut hat, kann sich sein Sohn doch nicht in Luft aufgelöst haben? Falsch gedacht. Er späht zwischen den Bäumen hindurch. Nichts zu sehen.
Die Herbarium-Mappe knackt. Chris lässt locker und beschließt, einfach weiter dem Weg zu folgen. Wahrscheinlich wartet Sam irgendwo hinter einem Baum oder hat ein Tier entdeckt und ist ihm gefolgt.
In der Ferne erkennt er weißes Plastik im Grün. Zunächst hält Chris es für achtlos weggeworfenen Müll, doch beim Näherkommen erkennt er Sams Plastiktüte. Er hebt sie auf. Die Stacheln der Kastanienschale bohren sich hindurch.
»Sam?«
Die Tüte liegt unterhalb eines Holzpfahls, der zu einem Reck gehört, dem ersten von vier immer höher werdenden, die zusammen ein Turngerät bilden. Darunter wachsen Brombeersträucher, und an den Pfählen wuchert Unkraut empor. Vom Metall der Querstangen blättert grüne Farbe ab, und darunter kommen orangebraune Rostflecken zum Vorschein.
Auf dem Boden liegt ein weißes Hinweisschild, umgeworfen oder umgefallen und größtenteils mit Sträuchern und Unkraut überwuchert. Dazwischen wuseln Kellerasseln herum. In blauen Buchstaben erkennt Chris die Aufschrift FIT-O-METER. Über die Geräte hinweg ragen dicke Äste. Wie lange wird es wohl noch dauern, bevor dieser Eingriff des Menschen in die Natur endgültig vom Wald verschlungen sein wird? Am Fuße eines Baumes entdeckt Chris wieder einen Holzpflock mit einem grünen Schild darauf.
SOMMEREICHE (QUERCUS ROBOR).
Dann hört er kurze, heftige Lachsalven.
Chris blickt nach oben.
»Komm runter, Sam.«
Der Junge blickt von einem breiten Ast aus auf ihn hinunter. Er räuspert sich und spuckt. Chris tritt einen Schritt zur Seite. Der Speichel trifft das grüne Schild und tropft träge hinunter. Sein Sohn grinst.
»Komm schon, Sam.«
Der Junge zieht sich am Stamm hoch und klettert von Ast zu Ast immer weiter hinauf. Von Chris’ Standpunkt aus ist der Abstand schwer einzuschätzen, aber Sam scheint mit jeder Bewegung einen Meter höher zu klettern.
»Ich sehe unser Auto!«, ruft er.
»Kannst du gar nicht!«, ruft Chris zurück.
Daraufhin klettert Sam noch höher und verschwindet im Wirrwarr von Zweigen und Blättern. Chris bekommt Nackenschmerzen.
»Ich sehe das Café!«
Sam stellt sich auf die Zehenspitzen, und der junge Ast, der ihn trägt, beugt sich durch. Er federt mit, ohne die Füße vom Ast zu lösen, kichert hoch und hysterisch.
»Ich versuche, über das Café drüberzugucken!«
Gelbgrüne Blätter wirbeln herunter. Das übrige Laub raschelt besorgniserregend, und dazu knackst es ab und zu, als protestiere der Zweig gegen Sams Gewicht.
Wenn er fällt, sind alle Probleme gelöst.
Wenn Chris ihn anspornt, noch höher zu klettern, damit er das Auto tatsächlich sehen kann, wird er weder die Hüfttasche noch die Lichtung brauchen. Sam wird es versuchen, das weiß er genau, ebenso, wie er weiß, dass die höher gelegenen Zweige den Jungen nicht tragen können. Jedenfalls nicht lange.
Dann sieht er seinen Sohn vor sich, ausgestreckt, mit glasigem Blick und inhaltsleerem Grinsen, während Charlotte Schleim von dem Röhrchen wischt, mit dessen Hilfe die Notärzte ihn am Ersticken gehindert haben. Er bekommt nicht richtig Luft, röchelt und hustet. Chris riecht das Desinfektionsmittel, das den leichten Kotgeruch überlagert, hört das Piepen und Tuten von Maschinen, die das nutzlose Leben verlängern.
»Komm da runter, Sam.«
Der Junge hört auf, auf dem Ast zu wippen.
»Komm da runter«, äfft sein Sohn ihn mit hoher Piepsstimme nach. »Komm da runter, komm da runter«, während er blitzschnell am Baum hinunterklettert. »Komm da runter, komm da runter, komm da runter!«
Sam lässt sich vom untersten Ast des Baumes hängen. Das Haar klebt ihm an der Stirn, sein Blick ist wild. Keuchend schaut er seinen Vater an.
»Mit dir kann man keinen Spaß haben, Papa.« Er hält kurz inne, um Atem zu schöpfen. »Deswegen hassen wir dich, Mama und ich.«