Viertes Kapitel
Steppenwind
»He, mach schneller!«, rief die gedrungene, faltige Frau mit den giftigen Augen.
Obwohl Li nun schon viele Wochen im Lager von Toruks Leuten lebte, hatte sie den Namen dieser Frau noch nicht herausfinden können, die in der Gruppe offenbar eine wichtige Rolle spielte.
Sie war die Witwe eines früheren Anführers und genoss nach wie vor höchsten Respekt. Allerdings sprach niemand sie mit dem Namen an. Alle nannten sie untereinander nur »die Strenge«. Einige der jüngeren Frauen hatten geradezu Angst vor ihr. Erst recht galt das für die Gefangenen. Die Strenge schien es zu genießen, sie zu schikanieren. Dass sie die niedrigsten Arbeiten erledigen mussten, hatte Li erwartet. Etwas anderes wäre ihr auch gar nicht in den Sinn gekommen. Sie und die anderen Verschleppten konnten froh sein, dass man sie einigermaßen mit Nahrung versorgte, auch wenn es sich dabei zumeist um Abfälle und Überreste handelte. Vieles war kaum noch genießbar. Davon abgesehen vertrugen Li und die anderen Angehörigen des Han-Volks unter den Gefangenen die Milch und den Käse schlecht, die bei Toruks Leuten einen Hauptbestandteil der Nahrung ausmachten. Ungefähr die Hälfte der Gefangenen war daher krank und wand sich in Bauchkrämpfen, während die andere Hälfte sich gerade von der Käsekrankheit erholte.
Aber es schien unmöglich, diesem Gift auszuweichen, denn in Toruks Stamm war es offenbar Sitte, nahezu alle anderen Speisen damit zu vermischen. Der Stamm hielt neben Schafen und Ziegen etliche Rinder, und alles, was an Essbarem durch diese Tiere zu gewinnen war, wurde auch verwertet.
Oft genug mussten die Gefangenen beim Beaufsichtigen der Tiere mithelfen. Dass sie dabei vielleicht fliehen könnten, kam den Nomaden wohl gar nicht in den Sinn – in der Tat hätten die schnellen Reiter die Flüchtlinge selbst unter ungünstigsten Umständen innerhalb von wenigen Stunden wieder einfangen können. Und die Strafen, mit denen zu rechnen war, waren mit Sicherheit schlimmer als alles, was es ansonsten bei ihnen zu erdulden gab.
Li befand sich mit einem Bündel von zusammengeklaubtem Brennholz am Rand des Lagers, als die Strenge sie anfuhr.
»Na los, worauf wartest du, hässliche Pflanze!«
Hässliche Pflanze – das war der Name, den die Strenge ihr gegeben hatte. Sie benutzte für jeden der Gefangenen einen wenig schmeichelhaften Namen und erwartete auch, dass der Betreffende darauf hörte. »Denkst du, dass ich erst Feuer haben will, wenn der nächste Frühling kommt? Oder muss ich dich vorher verprügeln?«
Li hatte es sich längst abgewöhnt, diesen Äußerungen allzu viel Bedeutung zuzumessen. Glücklicherweise war die Strenge zu alt, um ihren Drohungen Taten folgen zu lassen, denn sie hinkte und hatte augenscheinlich weit weniger Kraft in ihrem Körper als in ihrer Stimme. Und wenn sie die jungen Männer ihres Stammes anwies, die Gefangenen für sie zu schlagen, war denen das peinlich. Ehre konnte man so nicht gewinnen und mit entsprechend geringem Enthusiasmus waren sie dann bei der Sache. Jedenfalls war bei ihnen nichts von dem schier grenzenlosen Hass zu spüren, der die Strenge erfüllte.
Li fragte sich, woher dieser Hass wohl genau rührte – ein Hass, der insbesondere den Angehörigen des Han-Volks zu gelten schien, denn die behandelte sie besonders schlecht.
Von einer tibetischen Magd, die Toruks Leuten auf irgendeinem Raubzug in die Hände gefallen war und seitdem der Strengen diente, erfuhr Li dann, dass deren Eltern durch chinesische Soldaten getötet worden waren. Sie hatte das als kleines Mädchen von kaum fünf Jahren mit ansehen müssen.
»Die Strenge spricht mit dir über solche Dinge?«, wunderte sich Li, nachdem die Magd ihr dies erzählt hatte. Göng war ihr Name, und sie hing der Lehre Buddhas an, die sie alles ertragen ließ, was ihr zugemutet wurde. Zumindest erklärte sie das so.
»Sie spricht nur mit mir über solche Dinge, denn von mir fühlt sie sich nicht bedroht.«
»Ich bedrohe sie auch nicht!«
»Oh doch. In dir und deinesgleichen sieht sie die Soldaten des Kaisers aus dem Reich der Mitte, die ihre Eltern getötet haben.«
An diese Unterhaltung musste Li denken, während sie der zornigen Strengen gegenüberstand, die sie ansah, als wäre sie eine Ausgeburt des Bösen.
Ein Trupp von Reitern lenkte nun die Aufmerksamkeit aller auf sich – auch der Strengen. Es waren Toruk und etwa zwanzig Krieger.
Im Lauf der letzten Wochen hatten die Uiguren immer wieder das Lager abgebrochen und waren dann einige Meilen weiter westwärts gezogen.
Manchmal ritten Toruk und seine Männer mit Gefangenen fort, um sich an vorher vereinbarten Stellen zu einem Austausch gegen Lösegeld zu treffen. Von solchen Ritten kehrten die Reiter in jedem Fall ohne ihre Gefangenen zurück, ganz gleich, wie das Treffen vonstatten gegangen war.
War genug Silber bezahlt worden, sah man das bereits an den prall gefüllten Leinensäcken, die an ihren Sätteln hingen. Wenn hingegen die andere Seite nicht genug hatte aufbringen können oder den Versuch unternahm, die Uiguren in eine Falle zu locken, kehrten die Männer mit blutigen Schwertern zurück.
Zur Abschreckung brachte Toruk diesmal einen blutdurchtränkten Jutesack ins Lager mit. Er ließ alle Gefangenen zusammenrufen und rollte den Inhalt des Beutels vor sie auf den Boden hin.
Li erkannte das Gesicht gleich wieder.
Es gehörte einem ranghohen Tanguten, der in ihrer Heimatstadt für den Herrn von Xi Xia die Steuern eingetrieben hatte. Seine Familie genoss dieses Privileg schon, als noch die Kaiser des Mittleren Reichs über Xi Xia herrschten. Ein über Generationen angehäufter, schier unermesslicher Reichtum war die Folge, und da Toruk sehr wohl wusste, was sie da für einen Fang gemacht hatten, war die Lösegeldforderung sicher entsprechend hoch. Warum auch nicht? Selbst wenn die Uiguren die Familie des unglücklichen Steuereintreibers all ihres beweglichen Reichtums beraubt hatten, war doch davon auszugehen, dass der Herr von Xi Xia ihr für die Auslösung eines treuen Dieners ein Darlehen gewährte, was diesen dann umso fester an seine Herrschaft binden würde.
Aber anscheinend war es anders gekommen.
Toruk stellte sich breitbeinig vor die Gefangenen und deutete auf den Kopf des Steuereintreibers. »Wer immer den Gedanken daran hegen sollte, mich hereinzulegen oder von hier zu fliehen, dem wird es nicht anders ergehen als dieser unglücklichen Seele hier, die auf ewig verflucht sei!« Er spuckte in Richtung des Schädels aus. »An welche Götter oder Ahnen ihr auch immer eure Bitten richtet – betet zu ihnen, dass es euren Familien nicht einfallen soll, auch nur eine einzige Silbermünze zu sparen! Jeder, der es versucht, wird das bitter bereuen.« Er ließ den Blick über die völlig eingeschüchterte Schar schweifen. Dann deutete er auf Li.
»Du da!«
Li stand wie angewurzelt und fühlte, wie ihr der Puls bis zum Hals schlug. Seit ihrer Gefangennahme hatte sie zugesehen, sich von Toruk fernzuhalten, denn es war ihr nicht entgangen, wie gewalttätig er schon gegenüber seinen eigenen Frauen werden konnte – wie viel mehr hatte dann eine rechtlose Gefangene zu befürchten, die darüber hinaus noch dem verhassten Han-Volk angehörte. Zwar bewunderte man die Erfindungsgabe der Han, ihr Herrschaftswille war jedoch bis weit in die westlichen Steppen hinein ebenso gefürchtet wie die Grausamkeit ihrer Kaiser.
»Papiermacherin!«, rief er und stellte damit noch einmal unmissverständlich klar, wen er meinte. »Tritt vor!«
»Was willst du von meiner Tochter?«, mischte sich Wang ein, der ebenso wie Gao in ihrer Nähe stand.
»Du schweigst, alter Mann!«, gab Toruk schroff zurück. Dann winkte er mit einer energischen Bewegung.
Wang wechselte einen Blick mit seiner Tochter, der seine Sorge verriet. »Wir sind ihnen ausgeliefert, also tu, was immer von dir verlangt wird«, murmelte er und benutzte die Sprache des Han-Volks, in der Hoffnung, dass Toruk seine Worte dadurch nicht so gut mitbekam, obwohl der Uigure zweifellos auch hier Grundkenntnisse besaß.
Li trat vor.
Die Kleider, in denen man sie verschleppt hatte, waren längst zerschlissen – ein paar Fetzen, die einzig dazu taugten, dass man Papierbrei daraus machte. Inzwischen trug sie die sackartigen, praktischen Gewänder der Uigurenfrauen – allerdings nur solche Stücke, die andere abgelegt hatten und die schon so oft geflickt waren, dass sie fast ausschließlich aus Flicken zu bestehen schienen. Lumpen, gemessen an dem, was sie gewöhnt war. Aber für das raue Leben in den Steppen und Gebirgen der westlichen Länder hatte diese Art, sich zu kleiden, ihre Vorteile. Das Obergewand reichte bis zu den Knien und war unten durch die langjährige Beanspruchung ausgefranst. Darunter trug sie eine weite Hose, und das alles hielt eine Hanfkordel einigermaßen zusammen.
Ein Stück ihres alten Gewandes diente ihr als Kopftuch, auch wenn es nur wenig gegen den schneidenden kalten Wind half, der immer wieder über das Land fegte.
Gleichwohl verbarg diese Kleidung ihre weiblichen Reize nicht so gut, dass sie vor den Nachstellungen der Männer und dem Hass der Frauen im Lager völlig sicher sein konnte.
Toruk riss sein leicht gebogenes Schwert aus der Scheide. Er spießte damit den Kopf des Toten auf und wandte sich an Li.
»Du hast geschickte Hände, Papiermacherin.«
»So geschickt, wie es mein Handwerk erfordert«, erwiderte Li vorsichtig.
»Kannst du kochen?«
»Meine Kinder müssten gewiss nicht hungern – wenn sie schon geboren wären!«
Li hielt den Blick gesenkt, beobachtete dabei aber gleichzeitig jede Bewegung ihres Gegenübers und jede Veränderung seiner Gesichtszüge. Wenn Toruk so auftrat wie im Moment, war er zu allem fähig und vollkommen unberechenbar. Die Tanguten mussten ihm und seinen Männern übel mitgespielt und viele Krieger getötet haben. Was genau geschehen war, darüber konnte Li nur spekulieren. Aber es fügte sich eines zum anderen. Zu dem Trupp, der vor einigen Tagen aufgebrochen war, um sich mit ihnen zu treffen, hatten mehr als doppelt so viele Krieger gehört. Dass nur so wenige ins Lager zurückkehrten, ließ Li nicht gleich darauf schließen, dass die anderen einen grausamen Tod gefunden hatten, denn oft genug teilte sich ein solcher Reitertrupp bei der Rückkehr zum Lager in verschiedene Gruppen auf. Das geschah wohl, um eventuelle Verfolger zu verwirren. Aber diesmal war die ganze Schar der Überlebenden gemeinsam zurückgekehrt. Blanke, unstillbare Wut leuchtete aus Toruks Augen.
Er schleuderte den Kopf des Steuereintreibers in Lis Richtung. Sie bewegte sich nicht. Nur ein paar Schritte von ihr entfernt fiel der Kopf auf den Boden und rollte ihr noch ein Stück entgegen, bis er schließlich eine Handbreit vor ihrem linken Fuß liegen blieb.
»Hier, das ist für dich!«, rief Toruk. »Ihr Han-Leute zerkleinert das Essen doch, bevor ihr es gart, und esst es dann in kleinen Stücken, als wärt ihr zahnlose Greise!«
»Man spart Brennstoff und verträgt es besser«, erwiderte Li. Am liebsten hätte sie ihm zornig entgegengeschleudert, dass ihr die Art, in der die Uiguren aßen, sehr der von Tieren zu ähneln schien, aber sie konnte sich beherrschen. Die Worte ihres Vaters hallten in ihrem Kopf. Sie fühlte dessen angstvollen Blick auf sich gerichtet, aber sie wagte es nicht, sich zu ihm umzudrehen. Schon deswegen nicht, um ihn nicht zu gefährden, denn wer konnte ahnen, ob Toruk dies nicht zum Anlass für irgendeine sinnlose Grausamkeit nahm.
Anfangs hatte Li geglaubt, dass Toruk dabei eine gewisse Grenze einhalten werde. Schließlich mochte er ein Barbar sein, doch er war zweifellos auch ein Händler, der darauf achtete, dass sich seine Kriegsbeute gewinnbringend verkaufen ließ.
Aber wenn der Jähzorn ihn im Griff hatte, schien ihm das völlig gleichgültig zu sein. Er erinnerte dann an ein wütendes Kind, das sein eigenes Spielzeug zerschlug. Nur dass Toruk unter Umständen einfach sein Schwert nahm, um jemandem den Kopf abzuschlagen – allein um zu zeigen, wer hier das Sagen hatte.
»Du wirst mit deinen zarten Händen das Fleisch von diesem Schädel kratzen und es so zerkleinern, wie ihr Han-Leute das mögt! Dann mischst du es in das Essen, das man euch gibt, Papiermacherin!« Er wandte sich an die anderen. »Es soll jeder von euch daran erinnert werden, was mit ihm geschieht, wenn er oder die Seinen versuchen, Toruk hereinzulegen!« Für ein paar Augenblicke wagte es niemand, auch nur heftig zu atmen. Die Strenge stand etwas abseits und sah dem Geschehen zu. Ein wenig schien selbst sie angesichts dessen zu schaudern, was Toruk von Li verlangte.
Toruk drehte sich langsam wieder zu Li herum. »Na los, worauf wartest du, Papiermacherin? Deine Leute haben Hunger!«
Li blickte auf. Eigentlich hatte man ihr beigebracht, dies nicht zu tun. Man starrte nicht direkt in das Gesicht eines anderen Menschen, das geboten der Respekt und die Höflichkeit. Und wenn eine Frau dies tat, konnte es sogar als anzüglich angesehen werden. Aber in diesem Moment hatte alles, was man sie in dieser Hinsicht gelehrt hatte, keine Bedeutung mehr. Sie begegnete dem bohrenden Blick Toruks und hielt ihm stand.
Toruk deutete mit der Spitze seines Schwerts auf den Schädel, um seine unmenschliche Forderung zu unterstreichen.
Li senkte nicht den Blick. »Du sprachst im Zorn – und der Zorn lässt dich vergessen, was dein Glaube von dir fordert!«
Er runzelte die Stirn. »Was redest du da? Du sollst tun, was ich sage, oder dein Schädel rollt neben den dieses unglücklichen Hundesohns!«
»Du magst tun, was immer dir beliebt. Es ist niemand da, der dich daran hindern könnte – aber ich werde nicht machen, was du von mir verlangst«, erklärte Li. Die Festigkeit, mit der sie diese Worte sprach, überraschte sie selbst am meisten. In diesem Moment fühlte sie eine innere Stärke wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie hatte nichts mehr zu verlieren, ihr Leben war eigentlich zu Ende, und es gab auch nichts, was ihr noch hätte Furcht einflößen können. In diesem Moment dachte sie an das, was die tibetischen Wandermönche verbreiteten, die auch nach Xi Xia gelangt waren. Die Lehre Buddhas, wonach man sich von allem Irdischen lösen sollte, um vom Leid erlöst zu werden. Sie hatte das nie wirklich verstanden, aber jetzt glaubte sie, zu begreifen, was die Tibeter meinten.
Das Gesicht Toruks lief dunkelrot an. Er trat auf sie zu. Seine Schritte waren schnell und energisch. Den Griff des Schwerts hielt er nun mit beiden Händen. Die Nasenflügel bebten vor Wut.
Er hatte gerade die Klinge zum Schlag erhoben, da ließ ihn ein Ruf augenblicklich innehalten.
»Toruk!«
Ein Mann mit weißem Haar und einem ebensolchen, dünnen Bart stand da, gestützt auf einen Stock aus Hartholz, der ihm bis zur Schulter reichte und mit mannigfachen Schnitzereien versehen war. Der Alte wurde von zwei jungen Kriegern flankiert, die beide Schwerter sowie Pfeil und Bogen trugen.
Toruk sah dem Alten wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Es war sein Vater. Zweifellos traf Toruk die meisten Entscheidungen, aber der Alte genoss enormes Ansehen und war offenbar vor ihm der Anführer des Stammes gewesen. Soweit Li mitbekommen hatte, hieß er ebenfalls Toruk und hatte die meisten Führungsaufgaben längst seinem Sohn überlassen. Aber niemand nannte ihn bei seinem Namen. Stattdessen wurde er nur der Ruhmreiche genannt. Allerdings lagen die Tage seines Ruhmes wohl schon lange zurück. Jetzt konnte er froh sein, sich über längere Zeit auf zwei Beinen zu halten.
Der jüngere Toruk drehte sich zu seinem Vater herum und ließ dabei die Klinge sinken.
»Ich höre deine Stimme, Vater!«, sagte er.
»Ich will, dass die Papiermacher zu mir gebracht werden. Sofort.«
»Ja, Vater …«
Der alte Toruk deutete auf den Schädel zu Lis Füßen. »Schaff die Fratze dieses Tanguten fort … Sie erinnert mich an die Gesichter der Männer, die ich im Kampf erschlug … Eines Tages verfolgen dich die Seelen der Erschlagenen im Schlaf, Sohn Toruk. So sagt es der Prophet Mani, und ich will nicht, dass hier etwas geschieht, das vor den Augen Gottes abscheulich wäre. Es gibt keinen Glauben, der nicht die Toten verehrt, auf dass sie nicht zornig werden. Willst du da die einzige Ausnahme in der weiten Steppe sein, mein Sohn?«
»Nein, Vater«, murmelte der junge Toruk, in dessen Adern das Blut im Augenblick kochen musste. Aber wenn es auch sonst kaum eine Macht geben mochte, die dazu in der Lage war, ihm Beherrschung aufzuzwingen, bildete sein Vater hier zweifellos die Ausnahme.
Warum hatte er nur so lange geschwiegen? Warum hatte er dem perfiden und den Glauben jedweden Bekenntnisses verhöhnenden Spiel seines Sohnes tatenlos zugesehen? Diese Gedanken beherrschten Li jetzt. Wäre nicht zuvor schon genug Anlass gewesen, den Hang zur Grausamkeit bei Toruks Sohn zu dämpfen? Li schluckte, aber sie senkte den Blick nicht, als dieser sich noch einmal zu ihr umdrehte.
»Du hast Glück, dass mein Vater ein so großes Herz hat«, sagte er. »Das sollte dich beschämen, Han-Frau!«
Er rief einen der Gefangenen herbei und befahl ihm, den Schädel fortzubringen. »Verbrenne ihn auf der Anhöhe dort hinten!«, forderte er. »Aber warte mit dem Entzünden des Feuers, bis sich der Wind in eine andere Richtung gedreht hat, auf dass wir den Gestank des Tanguten nicht ins Lager geblasen bekommen.«
Etwas später wurden Li, ihr Vater und Gao in das Zelt des alten Toruk geführt. Er saß auf einem Teppich und hielt ein Buch in der Hand. Es war in Leder gebunden, und zweifellos bestanden die Seiten aus Papier, denn sie waren viel zu dünn für Pergament oder Papyrus.
»Setzt euch!«, befahl der ältere Toruk.
Die Gefangenen gehorchten, und der alte Mann verlangte von den Wachen, dass sie das Zelt verließen. Sie waren erst etwas irritiert. Aber nachdem der ältere Toruk sie ein zweites Mal aufforderte, gingen sie schließlich hinaus.
»Mein Sohn sagt, ihr beherrscht die Kunst des Papiermachens«, sagte der ältere Toruk dann.
Wang neigte den Kopf, wie er es gegenüber hohen Würdenträgern oder Beamten des Herrn von Xi Xia gewöhnt war, und auch Li und Gao hielten den Blick gesenkt.
»So ist es, Herr«, sagte Wang. »Ich bin Meister dieser Kunst, aber meine Tochter steht mir inzwischen in nichts nach, und auch mein Geselle Gao versteht sich darauf, Papier von allerhöchster Qualität zu schaffen.«
Der ältere Toruk hob die Augenbrauen. »Hast du deine Tochter dieses Handwerk gelehrt?«
Wang verneigte sich tief. »Ja, Herr.«
»Es ist ungewöhnlich, dass ein Vater seine Tochter solche Künste lehrt anstatt die Dinge, die eine Frau wissen sollte, um gut verheiratet zu werden.«
»Es ist ja nicht so, dass sie diese Dinge nicht ebenfalls könnte«, antwortete Wang. »Aber keiner meiner Söhne lebt mehr, und ich wollte nicht, dass eines Tages meine Kunst mit mir stirbt, ohne dass sie meinen Nachfahren noch von Nutzen sein kann. Und davon abgesehen ist dieses Wissen das einzige nennenswerte Gut, das ich vererben kann.«
»Es ehrt dich, dass du so weit in die Zukunft denkst – wenngleich das in deiner jetzigen Lage sinnlos erscheinen mag, aber andererseits werden Papiermacher in Ländern wie Chorasan und Persien dringend gesucht, sodass du einst gewiss dein Auskommen haben wirst, Han-Mann!« Der ältere Toruk beugte sich vor und fuhr dann fort: »Hast du gewusst, dass es in Buchara und Samarkand eigene Viertel gibt, in denen Leute mit schmalen Augen leben? Leute wie ihr?«
»Man erzählt viele Dinge über die westlichen Länder«, sagte Wang. »Und es ist schwer zu beurteilen, was davon stimmt und was nur der Legende entspringt.«
»Einer Legende nach hat es vor zweieinhalb oder drei Jahrhunderten eine Schlacht zwischen den Arabern und den Truppen des Mittleren Reiches gegeben, bei der die Soldaten des Himmelssohnes eine verheerende Niederlage erlitten und all ihre westlichen Gebiete verloren. Nur so konnten sich wohl auch diese verfluchten Tanguten, die sich Kaiser nennen, von elenden Vasallen zu unabhängigen Herrschern emporschwingen. Damals sollen mit den Kriegsgefangenen die ersten Papiermacher nach Samarkand und Buchara gekommen sein, wo man fortan mehr Bücher geschrieben hat, als ein einzelner Mensch in zwei Leben zu lesen vermag.« Der ältere Toruk lächelte in sich hinein. Erinnerungen schienen in ihm aufzusteigen. »Als ich noch ein junger Mann war, ritt ich einmal durch die Tore von Samarkand. Ich sah eine Stadt, die prachtvoller war als alles, was ich bis dahin gesehen hatte. Aber einer wie du wird wohl behaupten, dass meine Bewunderung nur daher rührte, dass ich die Residenz der Himmelssöhne in Bian nie gesehen habe.«
Wang blieb höflich, wie man es ihm beigebracht hatte. Und Li bewunderte ihren Vater in solchen Situationen für die Ruhe, die er zu bewahren wusste. Ihr selbst kam es manchmal vor, als müsste sie explodieren wie einer der Feuerwerkskörper, die man im Reich der Mitte zu Ehren des Kaisers bei besonderen Anlässen entzündete. Sie selbst hatte das nie gesehen, denn in Xi Xia gab es solchen Luxus nicht. Aber ihr Vater hatte ihr mit so großer Lebendigkeit davon erzählt, dass sie es sich sehr gut vorstellen konnte.
»Man erzählt sich viel über die Städte des Westens«, sagte Wang. »Über Samarkand, über Bagdad und vor allem über Rom …«
»Rom?«, fragte der ältere Toruk stirnrunzelnd.
»Man sagt, es gäbe neben dem östlichen Reich der Mitte auch ein westliches Reich der Mitte, in dessen Zentrum Rom liegt … Zwei Reiche und zwei Kaiser, die die Welt ausbalancieren wie die Gewichte einer Waage.«
»Wer weiß, ob du von diesem westlichen Reich nicht mehr zu sehen bekommst, als es mir vergönnt war«, sagte der ältere Toruk. Fast schwang darin ein wenig Bedauern mit. Er hob das Buch, das er schon die ganze Zeit in der Hand hielt. »Ich glaube an die alte Lehre des Propheten Mani – und nicht an die neue des Propheten Mohammed, der viele junge Leute in unserem eigenen Volk verfallen sind. Und ich habe mich immer gefragt, warum die Lehre Mohammeds so viel machtvoller ist als jene des Mani und warum sich der Glaube an Allah scheinbar von allein verbreitet …«
Li hielt den Blick gesenkt. »Habt Ihr eine Antwort darauf gefunden, Herr?«
»Es hat mit eurer Kunst zu tun. Die Anhänger Mohammeds schreiben ein Buch nach dem anderen. Sie verbreiten Abschriften ihres heiligen Korans, aber auch andere Schriften in so großer Zahl, dass sie bald in jeder Jurte zu finden sein werden. Es sind Bücher aus Papier, die die Worte und Taten eines Propheten oder eines anderen großen Mannes bewahren und verbreiten.« Er warf ihr das Buch hin, das er hochgehalten hatte. »Kannst du mir so etwas herstellen?«, fragte er an Li gewandt. Sie nahm das Buch. Die Seiten waren mit Schriftzeichen bedeckt, die Li nicht lesen konnte. Eine Schrift aus fliehenden Linien und Haken und Bögen, dazu jede Menge Striche und sehr feine Zeichen, die wie in großer Eile geschrieben wirkten. Und doch erkannte Li sofort, dass dies nur dem ersten Eindruck entsprach und der Schreiber in Wahrheit ein Kalligraf gewesen sein musste, der sehr sorgfältig vorgegangen war. Man konnte es daran erkennen, wie er die Feder an- und wieder abgesetzt hatte und mit welcher Präzision die Striche geführt worden waren.
»Ein Meisterwerk«, sagte Li. »Auch wenn ich nur seine äußere Gestalt zu würdigen weiß, denn von dieser Schrift vermag ich nicht ein einziges Zeichen zu lesen. Ich weiß nur, dass es arabische Buchstaben sind, mit denen auch die persische Sprache geschrieben wird.«
»Ich vermag diese Sprache zu verstehen, aber nicht zu lesen«, sagte der alte Toruk. »Dieses Buch hat mir ein Karawanenführer verkauft, und es enthält die Schriften eines berühmten Arztes aus Buchara. Sein Name ist Ibn Sina, und er soll Methoden gefunden haben, das Leben zu verlängern und die Folgen des Alters zu mildern … Du wirst verstehen, dass mich das interessiert!«
»Gewiss, Herr.«
»Leider gibt es zwar viele Menschen entlang der Seidenstraße, die Persisch sprechen, aber nur wenige, die es lesen können, und so haben sich mir bisher nur wenige der Ratschläge erschlossen, die dieser große Arzt gibt …«
»Es tut mir aufrichtig leid, dass wir dir in dieser Sache nicht weiterhelfen können«, sagte Li. »Aber keiner von uns vermag diese Schrift zu lesen.«
»Das habe ich auch nicht erwartet, und ich bete, dass ich noch einem Schriftgelehrten begegnen werde, der mir diese Zeichen deutet. Was ich von euch verlange, ist etwas anderes … Ich will, dass ihr ein Buch herstellt, das genau wie dieses ist, aber mit freien Seiten, ohne Zeichen darauf.«
Li blickte nur kurz auf. Sollte dies eine Probe ihrer Fähigkeiten sein? Hatten die Uiguren inzwischen Zweifel daran, dass ihr Vater, Gao und Li selbst tatsächlich in der Kunst der Papierherstellung bewandert waren? Vielleicht vermutete man in der Behauptung nur eine List Wangs, um seine Tochter bei sich zu behalten und zu verhindern, dass sie an jemanden verkauft wurde, den dieses Talent der jungen Frau nicht im Geringsten interessierte.
»Fragt meinen Vater, er ist der Meister.«
»Nein, ich frage dich!«, erwiderte der ältere Toruk scharf.
»Gewiss ist es möglich, so ein Buch zu schaffen. Aber es ist schwierig. Wir haben nicht die nötigen Werkzeuge und wahrscheinlich auch keine geeigneten Lumpen.«
»Ihr sollt alles bekommen, was ihr braucht«, meinte der alte Mann. »Meine Tage sind gezählt. Mein Blick ist trüb geworden, und meine Beine schmerzen bei jedem Schritt. Nicht mehr lange und ich werde für immer die Augen schließen. Aber ich will nicht, dass alles, was ich erlebt habe, mit mir vergeht. Darum soll aufgeschrieben werden, was mir erzählt wurde und was ich gesehen und getan habe. Doch ich will kein Tier dafür schlachten, um Pergament aus seiner Haut zu machen, die man viel besser gerben und zu Leder verarbeiten kann.«
»Und wer soll die Zeichen in diesem Buch für dich niederschreiben?«, fragte Li.
»Ich habe Freunde unter den Karawanenführern. Manche sind Turkmenen, andere Uiguren, Choresmier oder Perser oder haben längst vergessen, welchem Volk sie angehören, weil sie so viel herumziehen, dass sie kaum noch in der Sprache ihrer Mutter sprechen. Ich hoffe, dass sie mir Schreiber anwerben können, die dies für mich tun, bevor ich die Augen schließe. Denn die Schlachten und Kämpfe all der Männer, die mit mir zusammen durch das weite Land zwischen dem östlichen Reich der Mitte und Samarkand gezogen sind, werden sonst vergessen sein, aber sie haben mit ihrem Blut dafür bezahlt, dass man sich an sie erinnert.« Er lächelte fast mild. »Ich werde nur mit meinem sauer erworbenen Silber dafür zu zahlen haben, aber das lässt sich verschmerzen.« Er beugte sich vor. »Seid ihr etwa nicht des Schreibens mächtig?«, wunderte er sich.
»Doch, gewiss«, sagte Li.
»Aber wir schreiben die Zeichen, die im Reich der Mitte üblich sind«, erklärte Wang sogleich. »Und ein wenig von der Schrift, in der das Uigurische geschrieben wird, Herr …«
»Das ist gut«, sagte der ältere Toruk, und ein zufriedener Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. »Das ist sogar sehr gut, denn ich will, dass mein Buch nicht nur eine Art von Zeichen enthält! Dieselben Worte sollen in möglichst vielen Arten von Zeichen wiederholt werden! Ich will, dass die Kunde meiner Taten und der meiner Gefährten überall verstanden wird – gleichgültig, welche Sprache dort gesprochen und welche Zeichen geschrieben werden! So werdet ihr mir eine große Hilfe sein …«
»Ja, Herr«, sagte Wang unterwürfig, und auch Li senkte den Kopf.
»Und nun hinaus mit euch. Verliert keine Zeit, denn ich spüre, dass die meine immer mehr dahinschwindet …«
In der nächsten Zeit besserte sich die Lage für Li, Wang und Gao erheblich. Der ältere Toruk sorgte dafür, dass sie besser versorgt wurden und alles bekamen, was sie zur Herstellung des Papiers brauchten.
»Ich glaube, er will nur unser Talent auf die Probe stellen, um später einen höheren Preis zu erzielen«, sagte Gao einmal, als sie dabei waren, Lumpen zu zerkleinern, die man ihnen zur Verfügung gestellt hatte. Mit einfachen Holzknüppeln droschen die drei darauf ein. Schließlich gab es hier weder die Kraft eines durch Strömung angetriebenen Mühlrads noch die Hände zahlreicher Knechte und Tagelöhner, die diese Arbeit für sie verrichten konnten, wie es daheim der Fall gewesen war. Aber Wang meinte, es habe durchaus sein Gutes, wenn die Arbeit nicht so schnell von der Hand gehe.
»Solange unsere Arbeit nicht beendet ist, sind wir wertvoll für unseren Herrn«, sagte er. »Wer weiß, wie es uns danach ergeht!«
»Wenn wir diese Städte erreichen sollten, von denen unser Herr sprach … Vielleicht wäre das sogar zu unserem Besten und wir könnten dort ein gutes Leben führen«, meinte Li. »Schließlich sagte er doch, dass es dort Menschen aus dem Han-Volk gibt. Und unser Handwerk dürfte nirgendwo mehr gefragt sein als an einem Ort, von dem man sich erzählt, dass jeden Tag ein Buch geschrieben wird!«
»Die Pracht eines Reichs erstrahlt zumeist in der Ferne heller als aus der Nähe!«, erwiderte Wang deutlich skeptischer.
»Also, ich hätte nichts dagegen, mal wieder in einer zivilisierten Umgebung zu leben«, meinte Gao. »Anstatt hier in der Wildnis, zusammen mit Tieren und in Kleidern, die einen so hässlich machen, dass sich in Xi Xia die Kinder vor einem erschrecken würden.«
»Wir müssen es nehmen, wie es kommt«, sagte Wang.
Tage und Wochen vergingen mit harter Arbeit. Die Lumpen zu zerschlagen war anstrengend, und davon abgesehen hatten sie sehr unterschiedliche Qualität. Es mangelte vor allem an den für die Papierherstellung nötigen Gerätschaften. Gefäße fehlten ebenso wie geeignete Werkzeuge zum Schöpfen.
So blieb nichts anderes übrig, als alles Notwendige selbst herzustellen, soweit dies möglich war. Die einzigen wasserdichten Gefäße der Uiguren waren Schläuche aus Tierhäuten oder Tonkrüge. Beides ließ sich nicht verwenden. Holz gab es kaum – und das wenige, das vorhanden war, wurde in erster Linie als Brennmaterial gebraucht.
Wang hob schließlich eine Grube im Erdreich aus – so breit wie die ausgestreckten Arme eines erwachsenen Mannes und ebenso lang. Die Grube war zwei Handbreit tief und wurde mit gegerbten Tierhäuten auf ähnliche Weise ausgelegt, wie er es in den Jurten gesehen hatte.
Sie sollte das Schöpfbecken werden.
Zum zweiten Mal musste Li beim älteren Toruk vorsprechen, damit zumindest einer von ihnen das Lager verlassen durfte, um einen Baum zu suchen, dessen Rinde genug Harz zum Abdichten der Grube lieferte. Außerdem brauchte man geeignete Pflanzen. Ihre Fasern sollten den Lumpen beigemengt werden und das Papier geschmeidiger machen. Zerschlagener Bambus verlieh ihm eine größere Festigkeit, aber die Hoffnung, in dieser Gegend irgendwo Bambus zu finden, hatte Li von vornherein aufgegeben.
»Wir brauchen auch noch Rosshaar und Flechtwerk zur Herstellung von Sieben«, erklärte sie dem Stammesführer. Zwar hatte Meister Wang sein Sieb mit in die Gefangenschaft genommen, aber ein einziges Sieb reichte natürlich nicht aus. Schließlich sollte das Buch ohne Zeichen möglichst schnell fertig werden. »Die Satteldecken deiner Männer scheinen mir gut geeignet zu sein, um die Feuchtigkeit aufzunehmen, wenn die Blätter gepresst und getrocknet werden«, fuhr Li fort.
Der alte Mann nickte langsam und mit einer Bedächtigkeit, wie sie dem Alter vorbehalten war.
Da der ältere Toruk sich Li gegenüber nicht ungewogen zeigte, war es zu ihrer Aufgabe geworden, die Anliegen der Papiermacher vorzubringen. Ihr Vater hatte es jedenfalls nicht geschafft, das Ohr des Anführers zu finden. Li hegte den Verdacht, dass dieser manchmal auch gar nicht verstand, was eigentlich alles zur Herstellung des herbeigesehnten Buches notwendig war. Für den älteren Toruk grenzte ihr Handwerk an Magie, und so gab sich Li auch jetzt wieder große Mühe, ihm die Zusammenhänge zu erklären. Sie beschrieb ihm, was sie beabsichtigten. Dass die zerschlagenen Lumpen mit bestimmten Gräsern, Baumrinde, Holz oder anderen Pflanzen zusammengemischt wurden, dass man alles in Kesseln aufkochte, erneut zerschlug, bis nur noch ein Brei übrig blieb, aus dem dann mit dem Sieb die Blätter herausgeschöpft wurden. »Wenn man sie vollkommen glatt haben will und von beiden Seiten beschreiben möchte, kann man sie mit Leim bestreichen, der sich aus Knochen und Harz gewinnen lässt«, fügte sie noch hinzu. »Dann bekommt das Papier Glätte, wie sie sonst nur die Haut von Säuglingen besitzt, sodass kein Federstrich stockt und ein Kalligraf sich nur noch ganz seiner Kunst und nicht dem Material zu widmen braucht!«
»Wenn du das sagst, klingt es so leicht und schön wie die Poesie der Straßendichter von Samarkand«, erwiderte der ältere Toruk, und seine Stimme hatte dabei einen fast melancholischen, weichen Klang, wie man ihn in diesem weiten Niemandsland zwischen dem Reich der Mitte des Ostens und dem sagenhaften Römischen Reich der Mitte des Westens nur selten zu hören bekam. »Ich sehe es schon vor mir, dieses Buch … Auch wenn so viel mehr dafür notwendig ist, als ich zunächst geglaubt habe!« Er seufzte. Und dann blitzte es in seinen Augen auf eine Art und Weise, die Li sehr stark an den Sohn erinnerte. »So höre, was ich entscheide: Mein Sohn wird dir sein bestes Pferd geben und dich bei der Suche begleiten, Han-Frau.«
»Mir steht es nicht zu, mich dazu zu äußern«, sagte Li daraufhin, die ihr Entsetzen nur schwer zu verbergen vermochte.
»Dann halte dich an das, was du als richtig erkannt hast«, erwiderte der ältere Toruk. »Und sei unbesorgt – mein Sohn Toruk wird dich zu jedem Baum begleiten, den du für richtig hältst, und dich dabei beschützen, als wärst du seine Schwester.«
»Er verabscheut mich.«
»Er wird seine Abscheu bezähmen, und vor allem wird er den Herzenswunsch seines Vaters genau so erfüllen, wie es ihm gesagt wurde. Glaub mir, er wird nicht einmal ein böses Wort dir gegenüber verlauten lassen.«
Als der Stammesführer den Blick abgewandt hatte, sah Li in seine Gesichtszüge. Der Blick seiner müde gewordenen Augen war in fernes Nichts gerichtet. Li verstand plötzlich, weshalb der ältere Toruk seinem Sohn diese Pflicht aufbürdete, die eigentlich jeder seiner Wächter erfüllen konnte. Ja, es wäre sogar möglich gewesen, Li einfach auf sich gestellt losziehen zu lassen, um einen geeigneten Baum zu suchen, denn der Gedanke an Flucht verbot sich aus mehreren Gründen. Schon die Tatsache, dass ihr Vater und Gao noch gefangen waren, hätte sie daran gehindert. Aber da sie sich in diesem Land nicht ein bisschen auskannte und es auch durch ihre Erziehung keineswegs gewöhnt war, allein durch die Wildnis zu streifen, hätten sie die schnellen Reiter jederzeit einholen und zurückbringen können. Ihnen waren die endlosen Weiten ebenso vertraut wie anderen Menschen die engen Gassen einer Stadt.
Aber der ältere Toruk bezweckte offensichtlich etwas damit.
Er wollte seinen Sohn demütigen und ihm zeigen, dass der Vater immer noch über dem Sohn stand.
Genau dieser Umstand gefiel Li an der Sache am wenigsten.
Li bekam ein gutes Pferd. Außer dem jüngeren Toruk begleiteten sie zwei Männer, die Li bisher nur in der Nähe des älteren Toruk gesehen hatte. Ihre Gesichter waren wettergegerbt und von einem Mosaik aus Falten überzogen, die Haare mit grauen Strähnen durchwirkt. Offenbar waren sie Vertraute des Vaters, und es war dem jüngeren Toruk anzumerken, welche Vorbehalte er ihnen gegenüber empfand.
Stundenlang ritten sie durch die Wildnis, bis sie auf kleinere Ansammlungen von Bäumen stießen. Das Harz, das man ihnen entnehmen konnte, war zumeist minderwertig, wie Li schnell feststellte. Manche dieser Bäume hatten Beutel aus gegerbten Rinderhäuten an den Stamm gebunden und waren bereits vor Monaten angeritzt worden. Aus dem Harz in den Beuteln kochten die Uiguren wohl Pech und Lampenöl. Für die Papierherstellung eignete es sich nur bedingt. Papier, das damit bestrichen war, hätte in Xi Xia vielleicht gerade noch zum Verpacken von getrockneten Früchten Verwendung gefunden, aber kein Beamter oder gar ein hoher Würdenträger würde darauf sein Zeichen oder gar sein Siegel setzen. Li konnte jedoch nicht wählerisch sein. Und das, was im Reich der Mitte als minderwertig gelten würde, mochte für den älteren Toruk dennoch die Kraft einer ganz besonderen Magie haben. Einer Magie, die als einzige den Tod zu überwinden versprach, denn genau das wollte der alte Stammesführer letztlich erreichen, indem er seine Taten aufschreiben ließ. Der jüngere Toruk gab Li ein Messer. Damit ritzte sie die Rinde auf und ließ das Harz in einen mitgebrachten Beutel laufen.
Die neuen Siebe für Li und Gao zu flechten ließ Meister Wang sich nicht nehmen. Allerdings war auch hier ein Machtwort des älteren Toruk notwendig, um das nötige Rosshaar zu bekommen. Für den Rahmen nahm man Holz von ein paar Fässern, die auf verschlungenen Pfaden hierher gelangt waren und wohl die unterschiedlichsten Dinge beherbergt hatten. Li hoffte nur, dass der faulige Geruch des Holzes nicht auf das Papier überging.
»Unseren Auftraggeber wird das am wenigsten stören«, meinte Gao zuversichtlich.
Gepresst wurden die Blätter mit schweren Steinen. Die anderen Gefangenen mussten sie von weither heranschleppen oder, wenn sie zu schwer waren, über den Boden schleifen. Um die Feuchtigkeit aus den mühsam geschöpften Blättern herauszubekommen, brachte man dicht gewebte und sehr saugfähige Satteldecken zwischen die einzelnen Papierlagen.
Aber die ersten fertigen, beschnittenen Blätter bekam der ältere Toruk nicht mehr zu Gesicht. Eines Morgens machte die Nachricht im Dorf die Runde, dass ihn in der Nacht der Schlag ereilt hatte.
Die Steine, mit denen die Blätter gepresst worden waren, kamen nun auf das Grab des alten Anführers. Ein Grab ohne Inschrift. Das Buch des älteren Toruk würde nie geschrieben werden.
»Die Götter scheinen nicht auf unserer Seite zu sein«, murmelte Li leise, während sie auf das nun nutzlos gewordene Schöpfbecken blickte, in dem der Papierbrei bereits zu einer bröckeligen, porösen Masse zu trocknen begann, die entfernt an ein riesenhaftes Wespen- oder Hornissennest erinnerte.
»Nein«, widersprach Wang. »Wir haben nur noch nicht erkannt, was sie für uns bestimmt haben …«