Fünftes Kapitel


Auf dem Weg in die Stadt der Bücher

 

 

Etwa eine Woche später traf eine Karawane von zwanzig Kamelen im Lager ein. Der jüngere Toruk war inzwischen der unbestrittene Anführer. Aber er hielt offenbar nicht viel von dem Gedanken, die Taten seines Vaters in einem Buch verewigen zu lassen.

Der Karawanenführer war ein Turkmene namens Babrak, ein Mann mit dunklen Augen und graumeliertem Bart, der seinem Gesicht etwas Keilförmiges gab. Li glaubte, ihren Augen nicht zu trauen, als sie ihn an der Spitze der Karawane ins Lager ziehen sah. Babrak ritt auf einem kleinen, stämmigen Steppenpferd, genau wie einige bewaffnete Begleiter, deren Aufgabe es war, die Karawane zu schützen, die aus den schwer beladenen Kamelen und ihren Treibern bestand.

»Ist das ein Traum, oder sehe ich da Babrak den Feilscher?«, entfuhr es Li.

Gao, der gerade damit beschäftigt war, seine Kleidung notdürftig zu reinigen, blickte auf.

»Doch, er ist es«, brummte er. »Aber frag mich nicht, ob das ein gutes Zeichen ist, Li!«

»Warum sollte es kein gutes Zeichen sein?«

»Nur weil Babrak der Feilscher in Xi Xia keinen Markt auslässt und wir schon des Öfteren gute Geschäfte mit ihm gemacht haben, heißt das nicht, dass der Kerl jetzt nicht die Gelegenheit für einen Handel nutzt, bei dem wir die Ware sind.«

»Und wenn schon«, murmelte Li. »Alles ist besser, als hierzubleiben und vielleicht noch einmal einen blutigen Schädel vor die Füße geworfen zu bekommen, den ich zubereiten soll!«

Unterdessen sahen sie zu, wie Babrak der Feilscher von seinem Pferd stieg und den jungen Toruk begrüßte. »Allah ist groß!«, rief Babrak in gebrochenem Persisch. »Nur die Reichweite meiner Karawane ist größer!«

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass es sich wirklich um denselben Mann handelte, dem Meister Wang schon ganze Ballen von Seidenlumpen abgekauft hatte, dann war er jetzt zweifellos erbracht. Denn dies war der übliche Spruch von Babrak dem Feilscher, den er in vier oder fünf Sprachen beherrschte und mit dem er nicht selten einen muslimischen Glaubensbruder zum Stirnrunzeln brachte, der einer strengeren Auslegung seiner Religion folgte. Vor allem auf Perser und Araber traf dies zu, während bei den Völkern entlang der Seidenstraße der Glaube an Allah weder mit demselben missionarischen Eifer noch mit der gleichen Sittenstrenge gelebt wurde.

Im Gefolge von Babrak dem Feilscher bemerkte Li einen Mann in brauner Kutte und mit einem Kreuz aus Holz auf der Brust. Ein christlicher Mönch, erkannte sie. Er war offenbar kein Gefangener, sondern reiste mit der Karawane. Die Kameltreiber und Babraks Männer behandelten ihn mit großem Respekt. Allerdings ging er zu Fuß. Seine Habe war lächerlich gering und passte in ein kleines Bündel, das er bei sich trug. Bart und Haare schien er seit Jahren nicht mehr geschoren zu haben, beides reichte ihm fast bis zur Höhe des Bauchnabels und war ausgesprochen verfilzt. Viele unvorstellbar ekelhafte Gerüchte kursierten über die mangelnde Sauberkeit der Menschen des Westens. Diese Gerüchte waren die Seidenstraße entlanggewandert und hatten sich über Xi Xia bis nach Bian verbreitet.

Der junge Toruk und Babrak der Feilscher einigten sich anscheinend schnell, denn es dauerte nicht lang und die Strenge wurde zu den Gefangenen geschickt. Sie wies Meister Wang, Gao und Li auf ihre gewohnt unfreundliche Art an, sich reisefertig zu machen.

»Euer Papier taugt ja vielleicht noch zum Feuermachen!«, meinte sie.

Etwas später kam Babrak der Feilscher zu ihnen, um sich seine Ware anzusehen. »Sei gegrüßt, Meister Wang! Und dein Geselle und deine Tochter natürlich ebenso! Dass wir uns unter diesen Umständen wiedertreffen, muss Allahs Wille sein … Du solltest dir übrigens nicht wünschen, nach Xi Xia zurückzukehren, denn dort sind Unruhen ausgebrochen und die Zukunft des Reichs ist ungewiss. Es ist nicht einmal gesagt, wann ich das nächste Mal bis Bian gelangen und Seide kaufen werde, denn der Weg ist derzeit zu unsicher.«

»So sollen wir dir für unsere Lage auch noch dankbar sein?«, entfuhr es Meister Wang, der ausnahmsweise einmal die Fassung zu verlieren drohte.

»Hör zu, Papiermacher, ich weiß um die Qualität deines Handwerks. Ich werde einen guten Preis für dich bekommen, wenn ich dich in Samarkand abliefere, denn dort ist der Hunger nach Papier unersättlich. Dich hätte ein schlimmeres Los ereilen können! Vergesst übrigens nicht, eure Siebe mitzunehmen. Es kann sein, dass ihr sie schon bald benutzen werdet.«

Schon am nächsten Morgen brach die Karawane auf. Babrak der Feilscher schien es eilig zu haben, weiter nach Westen zu gelangen, und Li bekam mit, dass er Toruk den dringenden Rat gab, das Lager so schnell wie möglich abzubrechen und ebenfalls weiterzuziehen, denn nicht nur die Unruhen würden sich ausdehnen, sondern auch ein Fieber, verbunden mit starkem Durchfall. Es gab also mehrere Gründe, sich westwärts zu wenden.

Li hatte ein Bündel mit ihren wenigen Habseligkeiten geschnürt. Darunter war auch das Sieb aus Rosshaar, das ihr Vater für sie angefertigt hatte.

»Bewahre es gut auf«, sagte er. »Neben dem Wissen um unsere Kunst ist das Handwerkszeug das Wichtigste …«

»Ich weiß«, sagte sie und raffte es unter ihre unförmige Kleidung.

Die Sonne stieg als glutroter Feuerball hinter den Bergen im Osten auf, während die Karawane sich in Bewegung setzte. Die anderen Gefangenen sahen ihnen nach, denn Babrak der Feilscher nahm nur die drei Papiermacher mit.

»Ich frage mich, ob er sich mehr Gefangene nicht leisten konnte oder ob er wirklich glaubt, dass er mit uns ein besonders gutes Geschäft machen kann!«, rätselte Gao.

»Was immer auch kommt, wir werden das Beste darin erkennen müssen«, sagte Meister Wang. »Eine andere Wahl bleibt uns nicht, denn jede Form der Auflehnung kostet nur Kraft. Und vielleicht das Leben.«

Sie gingen neben den Kamelen her, die völlig überladen waren, aber ihren Weg trotzdem mit einer großen Gelassenheit gingen, als könnte sie nichts erschüttern. Ganz gleich, was hinter dem nächsten Gebirge auf sie wartete.

»Wir werden uns blutige Füße holen«, glaubte Gao.

»Schlimmer als das, was wir hinter uns haben, kann das Kommende auch nicht mehr werden«, entgegnete Li.

»Deine Worte sind ein Zeichen mangelnder Erfahrung«, wandte sich Meister Wang an seine Tochter. »Aber wir werden sehen. Alles Klagen hilft uns nicht.«

Nach einer Weile war vom Lager der Uiguren nichts mehr zu sehen und seltsamerweise fühlte sich Li in jenem Moment wie befreit, obwohl das eigentlich absurd war, schließlich hatte sie nur die eine Gefangenschaft gegen eine andere getauscht.

Und doch war ihr jetzt viel leichter ums Herz. Die Welt, die sie in Xi Xia gekannt hatte, war wohl für immer für sie versunken, und vielleicht war es das Beste, sich frühzeitig mit diesem Verlust abzufinden und sich vom Alten zu verabschieden. Wer weiß, dachte sie, womöglich entgehe ich der Seuche, die dort jetzt anscheinend wütet, nur deshalb, weil ich verschleppt wurde.

Die Füße begannen irgendwann zu schmerzen, aber schließlich achtete sie gar nicht mehr darauf. Li interessierte sich besonders für den christlichen Mönch, der die Karawane begleitete. Er ging wie die Gefangenen und die Kameltreiber zu Fuß, während Babrak der Feilscher und seine gleichermaßen berittenen wie bewaffneten Begleiter sich manchmal eine Meile oder mehr von der Karawane entfernten, um die Gegend zu erkunden und zu sehen, ob es irgendwo in der Umgebung vielleicht etwas gab, dem man lieber auswich. Ein sumpfiges Gelände zählte ebenso dazu wie bestimmte Nomadenstämme, die als räuberisch bekannt waren.

In der Ferne ragten schroffe Gebirge auf, aber während sich die Stunden zu Tagen sammelten, hatte Li manchmal das Gefühl, immer wieder denselben Weg zu gehen, da sich die Lage dieser Berge kaum zu verändern schien.

Abends wurde ein Feuer gemacht und ein einfaches Lager errichtet. Man schlief draußen. Li war aufgefallen, dass auf den Kamelen auch das Gestänge einer Jurte mitgeführt wurde, doch den Aufwand, sie aufzubauen, lehnte Babrak der Feilscher offenbar ab. Die Nächte waren zwar manchmal bitterkalt, aber kurz, denn das Lager wurde erst spät errichtet und der Aufbruch erfolgte morgens gleich nach den ersten Strahlen der Sonne. Das Ziel des Karawanenführers war anscheinend, so schnell wie möglich gen Westen zu gelangen.

Li hatte bemerkt, dass der Mönch sich mit den Kameltreibern auf Persisch unterhielt. Als sie am Feuer saßen, sprach Li ihn daher an.

»Seid Ihr ein Gefangener?«, fragte sie.

Der Mönch wandte ihr sein bärtiges, von Wind und Wetter zerfurchtes Gesicht zu. Seine Haut glich dunkelbraunem, abgegriffenem Leder, gezeichnet durch ein Relief von Falten. Die Augen waren so blau wie der Himmel über Xi Xia an einem schönen, klaren Frühlingstag.

»Nein, ich bin kein Gefangener«, sagte er. »Ich war auf einer Reise in die Länder des Ostens, und ich habe Babrak dem Feilscher einige Silberstücke dafür bezahlt, dass er mich mitnimmt.«

»So seid Ihr doch ein vermögender Mann, obwohl ich gehört habe, dass die Mönche der Christen sich zur Armut verpflichten, wie es auch die Mönche tun, die in der Lehre Buddhas ihr Heil suchen.«

Li musste den Satz dreimal wiederholen, bis der Mönch sie verstand. Die persische Zunge war für sie beide fremd, und es war eben doch etwas anderes, ob man nur Rosshaar für ein Sieb auf dem Markt kaufte oder sich richtig unterhalten wollte. Dann lächelte der Mönch. Er hatte offenbar erfasst, was sie meinte. »Es ist nicht mein Geld, das ich Babrak gab, sondern das der heiligen Kirche von Konstantinopel …«

»So hat Euch Eure Kirche in den Osten geschickt? So seid Ihr ein Missionar, der seinen Glauben verbreiten will?«

»Durch sein gutes Beispiel sollte jeder Christ ein Missionar sein«, sagte der Mönch.

»Erzählt mir von Konstantinopel«, sagte Li, denn sie hatte den Namen dieser Stadt schon gehört. Die Legende von ihrem sagenhaften Reichtum und dem Gold ihrer Kuppeln war weit nach Osten gedrungen. »Sie soll die neue Hauptstadt des Römischen Reiches sein und prächtiger als alle anderen Städte …«

»Das Römische Reich ist schon vor langer Zeit untergegangen«, sagte der Mönch.

»Das höre ich mit Bedauern. Aber es wird von Neuem erstehen«, erwiderte Li. »Das ist sicher.«

»Woher nimmst du deine Zuversicht?«

»Auch das Reich der Mitte des Ostens hat Zeiten der widerstreitenden Herrscher und der Uneinigkeit gehabt. Aber das ist vorübergegangen, und auch im Westen wird es ein neues Rom geben.«

»Du sagst das, als wäre es ein Gesetz der Natur«, wunderte sich der Mönch.

»Ist es das nicht? Strebt nicht alles in der Welt zurück in ein Gleichgewicht?«

Der Mönch lächelte verhalten. »Die Lehre des Dao … Ich war lange genug im Osten, um davon gehört zu haben. Aber ich kann deine Sicht keinesfalls teilen. Die Erde ist vielmehr ein Ort des Jammers und der Gewalt – und erst wenn das Reich Gottes anbricht, wird es Harmonie und Einklang geben.«

»Ich verstehe nicht alles, was Ihr sagt«, erklärte Li zurückhaltend. »Aber das mag daran liegen, dass mir vieles fremd ist, was Euren Glauben betrifft.«

»Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass wir beide schlecht Persisch sprechen.«

Li deutete auf das kleine Buch, das sie bei dem Mönch bemerkt hatte. Er las des Öfteren darin. Es war keine besonders feine Arbeit. Der lederne Einband trug ein mit goldfarbenem Faden eingesticktes Kreuz. »Ist das eine Bibel?«, fragte sie, denn sie hatte von dem heiligen Buch der Christen gehört, allerdings noch nie ein Exemplar davon zu Gesicht bekommen. Abschriften des Korans dagegen waren auf den Märkten von Xi Xia häufiger zu haben.

»Nein, das sind nur ein paar Gebete und die Zehn Gebote«, antwortete der Mönch. »Bibeln sind selten. Und Menschen, die sie lesen könnten, noch seltener …«

»Aber wie soll sich ein Glaube verbreiten, wenn es so wenige Bücher gibt, in denen er erklärt wird?«

»Ja, vielleicht ist das der Grund dafür, dass sich die Lehre Mohammeds in den Ländern des Ostens viel schneller verbreitet als das Wort von Jesus Christus.«

Li streckte die Hand aus, und der Mönch verstand sofort, was ihr Begehr war. Er gab ihr das kleine Buch.

»Du bist eine Papiermacherin, wie ich mitbekommen habe«, sagte der Mönch.

»Mein Name ist Li, ich bin die Tochter von Meister Wang.«

»Mich nennt man Bruder Anastasius.«

Li blätterte in dem Buch und sah sich die Schriftzeichen an. »Die Seiten sind aus Pergament, nicht aus Papier«, stellte sie fest.

»Im ganzen Abendland ist Papier so gut wie unbekannt«, sagte Bruder Anastasius.

»Selbst in einer Stadt wie Konstantinopel?«

»Selbst dort ist es selten. Meistens schreibt man auf Pergament.«

»Sind dies lateinische Zeichen?«

»Nein, es sind griechische.«

»Aber Latein ist doch die Sprache Roms und seiner Kirche – oder nicht?«

»Ja, das stimmt.«

»Angeblich versteht man sie überall im Westen!«

»Das trifft leider nur auf Männer der Kirche, Gelehrte und hohe Herrschaften zu, denen das Glück zuteilwurde, in dieser Sprache unterrichtet zu werden.«

»Und ist es richtig, dass jeder Christ aufgerufen ist, seinen Glauben zu verbreiten?«

»Auch das trifft zu«, bestätigte Bruder Anastasius.

»Die Muslime sagen, dass man die Sprache des Korans lernen sollte, um den Glauben zu verstehen und richtig zu beten. Müsste man nicht auch Latein und Griechisch lernen, um die Lehre Eurer Kirche zu begreifen?«

»Da die meisten wichtigen Schriften des Glaubens nur in diesen Sprachen verfügbar sind – ja.«

»Wir haben einen langen Weg vor uns – aber vielleicht könnte ich so viel Latein und Griechisch erlernen, um zu entscheiden, ob Euer Glaube auch für meine Seele Erlösung bereithält …«

Bruder Anastasius lächelte, und in seinen Augen blitzte es. »Du willst mich dazu bringen, dir die Sprachen beizubringen!«, erkannte er. »Man sagt den persischen Diplomaten nach, ihre Sprache sei so geschliffen wie ein Schwert, sodass sie Kriege durch Reden gewinnen könnten. Aber du brächtest das sicher auch mit deinem ungeschliffenen Markt-Persisch fertig.«

»Es ist der Gedanke, der geschliffen sein muss. Nicht die Sprache.«

»Mag sein.«

»So werde ich von Euch Latein und Griechisch lernen?«

»Nur für die vage Aussicht, eine heidnische Seele vor der Verdammnis zu bewahren? Der Glaube ist eine Gnade Gottes und nicht etwas, das sich kalt erwägen lässt, wenn man ein wenig Griechisch und Latein kann, um die Heilige Schrift zu lesen. Aber nun gut, du sollst einige Wörter Griechisch von mir lernen …«

»Und Latein! Es ist die Sprache Roms!«, beharrte Li.

»Du nimmst dir viel vor!«

»Nicht so viel wie Ihr, Bruder Anastasius.«

Die Tage gingen einer wie der andere vorbei. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang schritten sie neben den Kamelen her. Li hörte irgendwann auf, die Tage zu zählen. Die Landschaft veränderte sich nur langsam. Die flachen, von weit entfernten Gebirgsmassiven eingerahmten Grasländer gingen irgendwann in eine steinige, staubtrockene Wüste über, an deren südlichem Rand die Karawane entlangzog. Babrak, der Feilscher, und seine Männer machten keinerlei Anstalten, die drei Gefangenen einer besonderen Bewachung zu unterwerfen. Sich in diesem kargen Land allein durchzuschlagen war wenig aussichtsreich. Schon in ihrem eigenen Interesse durften Li, Mister Wang und Gao nicht zurückbleiben.

Es vergingen Tage oder Wochen, in denen sie durch eine öde, menschenfeindliche Landschaft zogen, ohne dass ihnen irgendein Mensch begegnet wäre.

Aber Bruder Anastasius hielt sein Versprechen und brachte Li jeden Tag ein paar neue Wörter in Griechisch und Latein bei. Sie stellte fest, dass sich die Wörter in diesen Sprachen so stark veränderten, dass man sie manchmal kaum wiedererkennen konnte. So ähnlich war es auch im Persischen, und Li fragte sich, weshalb diese einfache Klarheit, die die Sprache des Han-Volks auszeichnete, in der jedes Wort unveränderlich blieb, in den Sprachen des Westens fehlte. Wie hatten es die Perser, die Römer oder ein Grieche wie Alexander, den man selbst in Xi Xia als großen Eroberer der Vergangenheit kannte, je geschafft, bedeutende Reiche zu gründen und zu erhalten, wenn schon ihre Sprache so wirr war! Keine Ordnung der äußeren Dinge ohne eine Ordnung der Gedanken, das war Lis tiefe Überzeugung. Und wie konnte es eine Klarheit und Harmonie der Gedanken geben, wenn sie ständig durch die Sprache behindert wurden?

Vielleicht lag hier der tiefere Grund dafür, dass das Reich der Römer zerfallen war. Bruder Anastasius erklärte ihr, dass derzeit im Westen zwei Kaiser für sich beanspruchten, Erbe des römischen Imperiums zu sein. »Aber nur einen davon kann man ernst nehmen. Er herrscht in Konstantinopel.«

»Und was ist mit dem anderen?«

»Er herrscht von einem kalten, barbarischen Land aus, das jenseits eines großen Gebirges mit dem Namen Alpen liegt.«

»Ein Barbarenkaiser«, schloss Li. »So etwas hat es auch im Reich der Mitte des Ostens schon gegeben. Im Krieg wird sich erweisen, welcher Kaiser das Erbe antreten darf.«

»Sie kämpfen zurzeit nicht gegeneinander. Stattdessen tauschen sie Prinzessinnen.«

»Das ist fast so klug, wie Kriege durch das Gerede von Diplomaten zu gewinnen!«

Die Abstände zwischen den Oasen, in denen sie die Trinkwasservorräte an den Brunnen auffüllen konnten, wurden Lis Gefühl nach immer größer. Sie blieben selten länger als eine Nacht. Die Treiber sorgten dafür, dass die Kamele so viel Wasser soffen, wie sie aufnehmen konnten, und es wurden ein paar Lebensmittel gekauft. Dörrfleisch und getrocknete Früchte, manchmal Trockenfisch, der aus einigen weit entfernten, völlig von Land umgebenen Meeren stammte und den Weg bis hierher gefunden hatte, waren besonders beliebt, da sie sich gut hielten. Die Märkte waren klein. Trotzdem wurden Abgaben verlangt. Es schien entlang dem Weg, den die Seide nach Westen nahm, keine großen Reiche mehr zu geben. Zumindest nicht auf diesem Stück. Und so musste Babrak der Feilscher immer wieder Tribut für den angeblich sicheren Durchzug entrichten. Allerdings war stark zu bezweifeln, dass in dieser Gegend überhaupt jemand die Macht hatte, einen solchen sicheren Durchzug zu garantieren.

Li hörte, wie Babrak darüber fluchte, anstatt der nördlich der Wüste verlaufenden Route die südliche genommen zu haben, die zwar als die schnellere galt, aber auch als unsicher.

In einem Marktflecken erlebten sie, wie der Schädelknochen eines unbekannten Tieres mitten auf dem Brunnenplatz ausgestellt wurde. Der Schädel war größer als alles, was Li zuvor bei einem Tier gesehen hatte. Er war fast so lang wie der Bauch eines Pferdes und erinnerte an den Kopf einer riesenhaften Schlange – oder eines Drachen. Li hörte die Leute darüber reden. Auch wenn das Uigurische, das hier gesprochen wurde, von der Sprache der Märkte in Xi Xia deutlich abwich, konnte sie doch einiges aufschnappen.

Der Staub der Wüste hatte diesen Drachenkopf freigegeben.

»Er ist ein Vermögen wert«, meinte Gao dazu. »Ich nehme an, dass man ihn zu Medizin zerkleinern wird.«

»Auf jeden Fall haben wir Glück, dass uns der Kopf eines Drachen begegnet«, glaubte Meister Wang. »Es ist ein Zeichen des Himmels, dass sich für uns doch noch alles zum Guten wendet!«

Der Großteil der hiesigen Bevölkerung hatte sich um den Drachenschädel versammelt, und ein Schreiber verzeichnete auf einem Pergament die Namen aller Anwesenden, die bereit waren zu bestätigen, dass sie erstens den Drachenschädel gesehen hatten und zweitens Zeuge geworden waren, wie man ihn zu einem weißen Pulver zerkleinerte.

Zwei kräftige Männer machten sich bereits mit großen Feilen daran, den Schädel zu bearbeiten.

»Es würde mich nicht wundern, wenn sie das Drachenknochenpulver mit zerriebenen Steinen oder Wüstensand vermischen würden«, mutmaßte Gao. »Und am Ende wird man sich wundern, wie viel Pulver ein einziger Drachenschädel ergibt, dem sogar noch der Unterkiefer fehlt!«

»Ein einziger Zahn davon ist mehr wert als die Arbeitskraft von drei Papiermachern wie uns«, meinte Meister Wang.

Li fiel auf, dass Bruder Anastasius sich bekreuzigte, eine Geste, die sie schon verschiedentlich bei ihm und anderen Christen bemerkt hatte.

»Die Schlange ist das Zeichen des Teufels«, stieß er hervor. »Ein Beweis dafür, dass der ewige Widersacher Gottes existiert.«

»Aber diese Schlange muss vor langer Zeit gestorben sein«, gab Li zu bedenken. »Sollte jemand wie Ihr sie nicht als Beweis dafür ansehen, dass der Widersacher Gottes irgendwann besiegt worden ist?«

»Der Herr gibt dem Gläubigen so mancherlei Rätsel auf, um ihn zu prüfen«, sagte Bruder Anastasius. »Aber auch Jesus Christus begegnete dem Widersacher in der Wüste und erlag nicht seiner Versuchung …«

Seltsam, wie der gleiche Knochen den einen das Zeichen des Glücks und den anderen das Symbol des schlimmsten Übels sein konnte. Aber für diejenigen, die das Knochenpulver als Mittel gegen Verdauungsprobleme, Kinderlosigkeit und den Tod an sich verkaufen würden, war der Drache ganz sicher für eine Weile das Zeichen unerwarteten Wohlstands.

In der Stadt des Drachenkopfs blieben sie nicht lange. Abgesehen von den Legenden, die schon jetzt durch die staubigen Gassen zwischen den wenigen festen Steinhäusern drangen und mit immer erstaunlicheren Details ausgeschmückt wurden, gab es auch sehr beunruhigende Gerüchte. Li verstand nicht alles. Nur dass von einem Reich des Schwarzen Herrschers die Rede war, dem Kara Khan. Und davon, dass dessen Krieger sich in alle Richtungen ausbreiteten und die Wege unsicher machten.

Kurz nachdem die Karawane wieder aufgebrochen war, hörte Li sogar Babrak den Feilscher mit einem seiner Männer über den Kara Khan reden. Auch hier verstand Li nicht alles, aber sie erfasste den Tonfall, und der ließ einen furchtsamen Respekt erahnen. Eigentlich war Furcht ein Wesenszug, den Li mit Babrak bestimmt nicht in Verbindung gebracht hätte. Aber wenn der Karawanenführer die Nachrichten über den Schwarzen Herrscher bereits so zur Kenntnis nahm, musste man das wohl ernst nehmen.

»Habt Ihr schon einmal von einem Herrscher gehört, der Kara Khan genannt wird?«, fragte Li irgendwann während des weiteren Wegs Bruder Anastasius, nachdem sie schon eine ganze Weile griechische und lateinische Wörter geübt hatten.

Li hatte diesen Satz auf Latein gebildet. Vielleicht fehlte es ihr an jener Perfektion und dem Stilempfinden, wie sie den Gelehrten des Westens eigen sein mochten – aber sie sah Bruder Anastasius’ Gesicht an, dass er sie verstanden hatte.

Und so antwortete der Mönch in derselben Sprache. Allerdings musste er seinen Satz dreimal wiederholen und am Ende noch einige Wörter ins Persische übersetzen, bevor Li begriff, was er ihr sagen wollte. »Als ich vor drei Jahren den Weg in die entgegengesetzte Richtung wanderte und nach Samarkand kam, da hatte der Kara Khan gerade das goldene Buchara erobert, die Hauptstadt von Chorasan. In Samarkand sammelten sich die Truppen, um die Krieger des Kara Khan zurückzuschlagen, was auch gelang. Und zwar noch bevor ich weiterzog.« Bruder Anastasius schüttelte den Kopf. »Sie müssen starke Krieger sein, denn die Samaniden-Herrscher von Chorasan sind die Herren des unzerbrechlichen Stahls! Aber die Krieger des Schwarzen Herrschers sind offenbar so zahlreich, dass sie auch mit überlegenen Waffen nur schwer zu besiegen sind …«

»Ist der Kara Khan ein Muslim oder ein Anhänger Buddhas oder Manis?«

»Er ist Muslim, genau wie die Herren von Chorasan. Aber unter den Muslimen ist es wie unter den Christen – sie sind sich gegenseitig die schlimmsten Feinde.«

Schließlich erreichten sie eine Stadt namens Khotan, die deutlich größer war als alle Orte, in denen sie in den letzten Wochen Rast eingelegt hatten. Im Süden ragten schneebedeckte, wuchtige Berge auf.

In Khotan wurde Babraks Talent auf eine harte Probe gestellt. Der Zoll, den er für den Durchzug durch das Gebiet des Khans von Khotan abführen sollte, war anscheinend außerordentlich hoch. Li bekam einiges von den lautstark geführten Verhandlungen mit. Die Beamten des Khans ließen nicht mit sich handeln – und wieder spielte der Schwarze Herrscher dabei eine Rolle. Offenbar waren auch die Krieger Khotans von ihm angegriffen worden und hatten alle Mühe, ihr Gebiet gegen ihn zu verteidigen.

Angeblich hatte man sogar Gesandte nach Bian geschickt, die das uralte Bündnis zwischen Khotan und dem Reich der Mitte erneuern sollten, um die Truppen des Schwarzen Herrschers abzuwehren. Aber bislang war keiner von diesen Gesandten zurückgekehrt.

Babrak blieb keine andere Wahl, als zu bezahlen, was von ihm gefordert wurde. Seine Laune war entsprechend schlecht.

Zwei Tage blieb die Karawane in Khotan. Ein Kamel lahmte, und Babrak kaufte ein neues dazu.

Die ganze Stadt war von großer Nervosität erfüllt. Auf dem Markt lagen die Preise für Nahrungsmittel aller Art so hoch, wie es Li nie zuvor erlebt hatte. Etliche Karawanen erreichten mit erheblicher Verspätung die Stadt. Außerdem waren offenbar derzeit wichtige Gebirgspässe nach Süden, über die man in das Land zwischen Indus und Ganges gelangen konnte, nicht passierbar. Wertvolle Gewürze kamen aus der Heimat des großen Buddha nach Khotan, von wo aus sie sowohl nach Osten als auch nach Westen weiterverkauft wurden und dabei ihren Wert noch einmal um ein Vielfaches steigerten. Doch wenn die Pässe nicht passierbar waren, blieben die Gewürzhändler aus und mit ihnen das Silber, das sich beim Handel mit Safran oder Pfeffer verdienen ließ.

Aber überall in den engen Gassen der Stadt und auf Basaren unter freiem Himmel wurde von arabischen Pferden über Teppiche aus Persien bis zu Porzellan und Seide aus den Werkstätten im Reich der Mitte alles angeboten, was man sich nur vorstellen konnte.

Natürlich hatte Li keine Möglichkeit, sich dort auf eigene Faust umzusehen. Zusammen mit Gao und ihrem Vater zog sie im Gefolge von Babrak durch die Straßen, als sie auf dem Weg zu einer der Karawansereien waren, und später noch einmal beim Verlassen der Stadt, die Li wie ein einziger großer Basar erschien. Eine Mischung der seltsamsten Düfte drang Li in die Nase. Gerüche von Gewürzen und Essenzen, die sie kannte, aber niemals in dieser Intensität wahrgenommen hatte. Weihrauch aus Arabien wurde hier verkauft, und es gab Aromen, deren Namen nie bis Xi Xia gelangt waren. Und all das wurde durchdrungen von den Sorgen, die sich die Basaris offenbar über die Ausbreitung jenes Reichs machten, das Kara Khan beherrschte.

»Es sind gute Muslime, warum sollten wir uns vor ihnen fürchten!«, hörte Li einen der Händler sagen, woraufhin ein anderer erwiderte: »Du hast gut reden! Aber die meisten Bewohner Khotans glauben an die Lehre des Buddha!«

Ein paar Tage später saßen sie am Feuer, und Li lauschte den Reden von Babrak dem Feilscher. Wahrscheinlich ahnte er nicht einmal, wie gut Li inzwischen seine Sprache verstand. »Man sagt, dass der Vorgänger des Kara Khan von Korangelehrten eine Fatwa erstellen ließ, mit der nachträglich der Mord an seinem Vater gerechtfertigt wurde – denn der war noch ein Heide und glaubte nicht an Allah!«, berichtete Babrak. »Das zeigt, was für einer Brut dieser Schwarze Herrscher entstammt! Der kennt keine Verwandten, und wenn er sagt, dass es ihm um den Glauben geht, dann lügt er! In Wahrheit geht es ihm nur um sich selbst und seine Macht!«

»Da sind christliche Herrscher sicher ganz anders!«, spottete einer der anderen Männer am Feuer. Diese Bemerkung war natürlich auf Bruder Anastasius gemünzt, der sich allerdings nicht provozieren ließ.

»Ich wünschte, ich könnte so etwas guten Gewissens behaupten«, gab er zurück. Und wirkte dabei sehr ernsthaft. Diese Ernsthaftigkeit übertrug sich auch auf die anderen. »Eigentlich sagt unser Herr, dass wir unsere Feinde lieben sollen. Das höchste Gebot ist es, den Frieden zu erhalten.«

»Wie kommt es aber, dass man die Christen überall genauso Krieg führen sieht wie die Anhänger Mohammeds, Buddhas oder Manis?«, fragte Babrak. »Ich habe nicht den Eindruck, dass christliche Herrscher weniger darauf bedacht sind, ihre Reiche auszudehnen und ihre Feinde zu töten. Verstoßen sie dann nicht andauernd gegen das höchste Gebot ihres Glaubens?«

»Sie führen ihre Kriege, um den Frieden zu erhalten«, sagte Anastasius. »Jedenfalls sollten sie das …«

Babrak konnte das nicht nachvollziehen. »Allah verbietet uns den Genuss des Weines und anderer berauschender Getränke. Wenn ich jetzt wie ein Christ argumentieren würde, könnte ich sagen: Ich trinke möglichst viel davon, um es mir abzugewöhnen!« Die anderen am Feuer lachten, mit Ausnahme des Mönchs. Dann fügte Babrak noch hinzu: »Es wundert mich, dass es Menschen gibt, die bereit sind, für einen Glauben zu sterben, dessen Grundsätze sich so leicht in ihr Gegenteil verkehren lassen …«

Die Nächte waren empfindlich kalt, und Li fand kaum Schlaf, obwohl sie oft von den Strapazen des Tages vollkommen erschöpft war. Die Lagerfeuer brannten schnell herunter und erloschen schon ein paar Stunden vor dem morgendlichen Aufbruch. Viel Zeit zum Brennholzsuchen blieb ohnehin nicht, wenn am Abend das Lager aufgeschlagen wurde. Und davon abgesehen war es mühsam genug, Brennbares zusammenzusuchen, um daraus ein Feuer zu machen, das eine Weile warm hielt. Am Tag wurde es dann zumeist recht warm, und die Sonne brannte von dem strahlend blauen, sehr klaren Himmel herab, der sich wie ein riesiges blaues Dach von Horizont zu Horizont spannte.

Das lahmende Kamel wurde schließlich geschlachtet, denn es hätte sonst die Karawane nur aufgehalten. Was genau mit ihm war, bekam Li nicht mit. Dazu verstand sie auch die Treiber zu schlecht. Aber es schien ernst zu sein. Li, Gao und Meister Wang mussten mithelfen, dem Kamel das Fell abzuziehen und das Fleisch aufzuteilen.

»Es ist wohl einfach nicht mehr zu retten gewesen«, meinte Gao. »Und jedem von uns, der irgendeine Schwäche zeigt, wird es ähnlich ergehen.«

Ein Teil des Fleisches wurde am Feuer verzehrt.

»Besser, ihr tragt es in euren Mägen mit euch herum, als dass es die Aasfresser als Beute davontragen!«, meinte Babrak. Ein paar Geier kreisten bereits über den Bergen und warteten anscheinend nur darauf, mit ihren Schnäbeln wenigstens die Knochen abzuschaben, denn mehr wollte Babrak der Feilscher ihnen nicht übrig lassen.

»Halte Maß, auch wenn dir der Magen knurrt vor Hunger, als hättest du lange nichts mehr gegessen!«, warnte Meister Wang seine Tochter.

»Aber das trifft doch zu, Vater«, gab Li zurück.

»Das mag schon sein, aber dieses Fleisch ist nicht zubereitet, wie es bekömmlich wäre!«

Die Lasten, die das getötete Kamel getragen hatte, wurden auf die anderen Tiere verteilt. Es handelte sich überwiegend um Ballen mit Seidenstoffen. Die bunten Gewebe waren sehr edel. Li hatte immer wieder einmal einen bewundernden Blick darauf geworfen, und ihr war schmerzlich bewusst geworden, wie sehr sich ihr Leben verändert hatte. Es erschien ihr wie eine ferne Erinnerung, dass sie früher gewöhnt war, Gewänder aus seidigen Stoffen zu tragen. Inzwischen hätte sie auf ein Gewand aus Seide gar keinen Wert mehr gelegt, denn für das entbehrungsreiche Leben in den Steppen und Halbwüsten, die sie durchquerten, waren Kleider aus diesem edlen Stoff alles andere als praktisch.

Nach endlos erscheinenden Tagen des Weiterwanderns erreichten sie schließlich einen Ort namens Yarkand, in dem die meisten Menschen Uigurisch sprachen. Viele von ihnen waren anscheinend Christen.

Jedenfalls bemerkte Li das Kreuzeszeichen an verschiedenen Gebäuden. Auch etliche Menschen, denen sie begegneten, trugen dieses Zeichen auf der Brust. In Gold die Reichen und Mächtigen, die weniger Begüterten hatten Kreuze aus Holz.

»Nestorianer«, meinte Bruder Anastasius. Und in seinem Tonfall schwang leise Verachtung mit.

»Ich dachte, das wären auch Christen«, meinte Li verwirrt.

»Es scheint das Schicksal unserer Kirche zu sein, sich immer und immer wieder zu spalten. Und obwohl wir den Frieden als das höchste Gut erachten, geraten wir offenbar über nichts lieber in Streit als über den Glauben …«

In der Karawanserei übernachteten die drei Papiermacher und der Mönch bei den Kamelen. Babrak der Feilscher sprach eine ganze Weile mit einem persischen Basari aus der Stadt.

Li konnte nur einen Teil dessen verstehen, was die beiden zu besprechen hatten, aber es ging anscheinend um den Weg, den sie nehmen würden, um weiter nach Westen zu gelangen.

»Babrak wird uns schon wissen lassen, wenn er etwas erfährt, was für unseren Reiseweg von Bedeutung ist«, sagte Bruder Anastasius, als er bemerkte, wie Li angestrengt lauschte.

»Es geht um den Kara Khan«, stellte sie fest.

»Natürlich. Es geht zurzeit fast immer um den Schwarzen Herrscher in diesem Land.«

Als die Karawane Yarkand verließ, war sie um einige Kamele reicher. Babrak hatte zusätzliche Tiere gekauft. Er wollte die Waren, die er mitführte, auf mehr Tiere verteilen.

»Es heißt, wir sollten Kaschgar meiden, weil es von Truppen Kara Khans beherrscht wird«, erklärte Babrak gegenüber seinen Männern. »Und da er Krieg gegen den Emir von Buchara führt, werden so hohe Zölle verlangt, dass man seine Waren angeblich gleich verschenken kann!«

»Bist du dir sicher, dass man dir das nicht nur erzählt hat, um zu verhindern, dass du auf dem Markt von Kaschgar jemandem Konkurrenz machst?«, argwöhnte einer der Männer.

Aber Babrak quittierte das mit einem finsteren Blick, der jeden Zweifel darüber ausschloss, dass er es sehr ernst meinte. »Die Quelle, von der ich das habe, ist vertrauenswürdig«, erklärte er. »Der Weg, den wir stattdessen einschlagen, ist gebirgiger. Die Tiere brauchen mehr Kraft und sollen nicht so schwer tragen … Und was die Gegend angeht, durch die wir jetzt kommen, so kenne ich mich dort aus wie kaum jemand sonst …«

Der Weg, auf den Babrak sie führte, zog sich durch ein schroffes Bergland. Schneebedeckte, einschüchternde Gipfel ragten zu beiden Seiten auf, es gab tiefe Schluchten und schattige Täler, karge Hochweiden und sogar dunkle Wälder, die an steile Felshänge grenzten.

Die Luft war klar und kühl. Warm wurde es dort, wohin die Sonne reichte. Immerhin war es am Abend nicht mehr ganz so mühsam, Feuerholz zu suchen. Es gab genügend Sträucher und kleine Bäume.

Li war ein ums andere Mal erstaunt, wie die zweihöckrigen Trampeltiere selbst schwierige Steigungen und steile Hänge zu bewältigen vermochten, während die Pferde dabei häufig viel größere Mühe hatten.

Tage vergingen in diesem Labyrinth. Manchmal folgten sie Schluchten, die so schmal waren, dass sie den ganzen Tag über im Schatten lagen und kein Sonnenstrahl den Erdboden erreichte. An kleinen Wasserläufen machten sie Halt, die Schmelzwasser von den vergletscherten Höhen in die tiefer gelegenen Gebiete spülten – Wasser, das kalt und klar war und in den Stunden des frühen Abends und bei Sonnenaufgang geisterhafte Nebelschwaden aus den Tälern emporsteigen ließ.

Auf einer Hochweide begegneten sie einem Nomadenstamm, dem offenbar eine Ziegenherde gehörte. Die Angehörigen des Stammes beherrschten keine der Sprachen, die Babrak der Feilscher verstand. Er versuchte es mit verschiedenen uigurischen und turkmenischen Dialekten und auf Persisch. Aber das Idiom, in dem sich die Menschen des Jurtendorfs unterhielten, hatte mit keiner dieser Sprachen auch nur entfernte Ähnlichkeit.

Babrak tauschte etwas Ziegenmilch gegen ein paar Stoffbahnen, aus denen die Nomaden ein Banner für ihre Hauptjurte schnitten.

Eine der Frauen sprach Li an, und diese verstand natürlich kein einziges Wort. Die Nomadin war klein, wirkte stämmig, sie hatte tiefliegende dunkle Augen und eine kurze Nase, die leicht nach oben zeigte.

Sie gestikulierte mit ihren Armen und strich sich über das Kinn. Dann hielt sie insgesamt sechsmal die auseinandergespreizten zehn Finger hin.

»Ich habe leider keine Ahnung, was du mir sagen willst«, entgegnete Li freundlich. »Sechs mal zehn Finger sind sechzig. Aber sechzig was?«

»Vielleicht Männer mit Bärten«, sagte eine tiefe Stimme auf Griechisch. Es war Bruder Anastasius. Li kannte inzwischen genug griechische Worte, um zu verstehen, was er sagte, auch wenn es ihr immer noch große Schwierigkeiten bereitete, selbst die richtigen Formen zu bilden oder die genaue Bedeutung jener Veränderungen zu erfassen, denen Wörter in den westlichen Sprachen unterworfen waren. Schon als sie die ersten persischen und uigurischen Wörter gelernt hatte, um damit auf den Markt zu gehen, hatte sie festgestellt, dass diese Wortveränderungen gar nicht so wesentlich für den Sinn dessen waren, was gesagt wurde. Es reichte oft aus, die grundlegenden Bedeutungen zu erfassen. Ob etwas in der Vergangenheit geschah oder erst morgen, ob etwas einfach vorhanden war oder mehrfach, das ergab sich in der Regel aus dem Zusammenhang der Situation.

Bruder Anastasius trat näher.

Die Frau wich zurück. Gegenüber dem Mönch schien sie eine gewisse Scheu zu haben. Vielleicht nur deshalb, weil er ein Mann war und es die Männer ihrer Sippe nicht gerne sahen, wenn sie sich mit einem Fremden unterhielt. Oder sie verband den Anblick eines Mönches wie Bruder Anastasius mit irgendwelchen schlechten Erinnerungen und war deshalb so reserviert.

Bruder Anastasius hob beschwichtigend die Hände und bekreuzigte sich dann. Anschließend sandte er ein kurzes griechisches Gebet zu seinem Gott, dessen Sinn Li überraschenderweise nicht einmal annähernd verstand, obwohl sie viele der Wörter kannte. Sie waren in einer Weise miteinander verbunden, die es ihr unmöglich machte, die Bedeutung zu erfassen. Anscheinend muss ich noch viel lernen, ging es ihr durch den Kopf.

»Männer mit Bärten – das ist nun wirklich kein besonderes Merkmal«, meinte Bruder Anastasius und deutete dabei auf seinen eigenen. »Das könnten Mönche wie ich sein, aber auch Perser oder Araber.«

»Zumindest scheint das Tragen von Bärten bei den Männern dieses Stammes kaum üblich zu sein«, hatte Li bereits festgestellt. »Ich nehme an, dass er bei ihnen nicht so stark wächst …«

»Wie bei den Angehörigen des Han-Volks?«

»Ja.«

Die Frau deutete jetzt auf den hellbraunen Lederriemen, der ihr grob gewebtes Gewand zusammenhielt, und anschließend noch einmal auf ihr Kinn. Dazu redete sie ununterbrochen in ihrer Sprache auf Li ein.

»Vielleicht Männer mit hellen Bärten?«, fragte Li. Manche der persischen Händler, die bis Xi Xia gekommen waren, hatten hin und wieder etwas feilgeboten, von dem sie behaupteten, es sei das Haar hellhaariger Frauen aus einem fernen Land.

Meister Wang hegte immer den Verdacht, dass es in Wirklichkeit von Pferden stammte. Weil es aber für die Herstellung von Sieben zu fein und zu rissig war, verlor der Papiermacher schnell das Interesse an diesem Angebot – während die Perücken- und Pinselmacher Höchstpreise dafür boten.

Vorausgesetzt, es hatte sich wirklich um Frauenhaar gehandelt, lag eigentlich die Vermutung nahe, dass es auch Männer mit dieser Haarfarbe gab.

»Männer mit hellen Bärten – so weit im Osten …«, murmelte Bruder Anastasius. »Das ist kein gutes Zeichen!«

»Was sind das für Männer?«

»Nordmänner. Die wildesten Krieger und die gerissensten Händler, die man sich denken kann! Raub und Handel sind für sie dasselbe. Und der Kaiser von Konstantinopel hat eine Leibgarde von mehreren tausend Mann angeworben, die nur aus solchen Männern besteht! Waräger nennt man sie.«

»Dann sind wir schon so nahe an Konstantinopel?«, fragte Li.

Bruder Anastasius schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Und diese Nordmänner sind auch ganz sicher keine Gardisten des Kaisers. Mich wundert nur, dass sie in einem so gebirgigen Land unterwegs sind.«

»Weshalb?«

»Weil sie normalerweise die Reise auf Schiffen bevorzugen. Sie folgen den Wasserläufen und fahren über die Meere.«

»Dann muss es einen besonderen Grund dafür geben, dass sie hier waren. Sind sie Christen oder Muslime?«

»Manche sind Christen, manche glauben an ihre eigenen alten kriegerischen Götter. Aber ich habe noch nie einen Nordmann getroffen, der Muslim war.« Der Mönch lächelte nachsichtig. »Das ist auch nicht verwunderlich.«

»Warum?«

»Weil der Koran die berauschenden Getränke verbietet, und die hellbärtigen Nordmänner gelten als unmäßige Trinker!«

»Haben wir etwas von ihnen zu befürchten oder zu erhoffen?«

»Das kann man vorher nie sagen. Ich persönlich traue nur den Nordmännern, die in der Garde des Kaisers dienen. Denn deren Loyalität ist über jeden Zweifel erhaben.«

Bruder Anastasius wandte sich wenig später an Babrak, um ihm von den Zeichen und Gesten der Nomadenfrau zu berichten. Babrak reagierte ziemlich beunruhigt. Er rief alle bewaffneten Begleiter der Karawane zusammen, aber von dem, was sie untereinander sprachen, bekam Li nichts mit.

Weitere Tage gingen dahin. Einige der Nomaden begleiteten sie bis zur Grenze jenes Gebiets, das sie offenbar für sich beanspruchten. Sie waren mit Speeren und Pfeil und Bogen bewaffnet und hüllten sich die meiste Zeit über in vollkommenes Schweigen. Allerdings kannten sie günstige Pfade, auf denen sich ein paar von weitem recht schroff und unwegsam wirkende Höhenzüge leichter überwinden ließen.

Die Grenze ihres Gebiets markierte schließlich ein schmaler, aber reißender Fluss. Doch auch hier kannten die Nomaden eine flache Stelle, die Babrak mit seinen Tieren gefahrlos passieren konnte.

Das klare Wasser war eisig. Li hatte schon nach wenigen Schritten, die sie durch die Furt watete, das Gefühl, ihre Beine nicht mehr zu spüren.

Erst am Abend, als sie am Feuer saßen, bekam sie ihre Kleidung wieder einigermaßen trocken.

Das Land, in das sie jetzt gelangten, war nicht mehr ganz so zerklüftet. Es gab weitere, zumeist mit Gras bewachsene Flächen, die das Fortkommen erleichterten und vor allem die Möglichkeiten zu einem Hinterhalt einschränkten.

»Das Schlimmste haben wir geschafft!«, hörte sie Babrak den Feilscher zu seinen Männern am Feuer sagen. »Und dann warten die Kuppeln und Minarette von Samarkand auf uns … Gepriesen sei Allah!«

»Gepriesen sei Allah!«, fielen die anderen in diesen Ausdruck tiefer Dankbarkeit ein. Aber Li traute der Ruhe und der freudigen Stimmung nicht. Sie hatte die Nomadin und ihre rätselhaften Hinweise auf die hellbärtigen Männer nicht vergessen. Die Erleichterung von Babrak und seinen Männern kam ihr verfrüht vor.

Ihr Vater hegte anscheinend denselben Gedanken.

»Sie reden ihr Glück herbei, noch ehe sie es in den Händen halten«, erkannte Meister Wang. »Aber was auch immer geschehen mag, wir werden versuchen, es zu unserem Besten zu nutzen.«

Es war eine eiskalte Nacht, und Li vertrieb sich die innere Unruhe, indem sie die griechischen und lateinischen Wörter wiederholte, die sie zuletzt von Bruder Anastasius gelernt hatte.

Schließlich schlief sie doch ein, denn sie war von den Strapazen der zurückliegenden Zeit sehr erschöpft. Aber ihr Schlaf war äußerst leicht, als wollte irgendeine innere Stimme sie ständig davon abhalten, sich zu sehr dem traumlosen Nichts hinzugeben.

Geräusche drangen an ihre Ohren. Schritte, dann Schreie, das Röcheln Sterbender, vermischt mit den durchdringenden Lauten von störrischen Trampeltieren.

Li schnellte hoch. Das Feuer prasselte noch. Sie hatten diesmal mehr und vor allem besseres Brennholz zur Verfügung gehabt, deswegen war es nicht schon längst niedergebrannt.

Und so fühlte Li sich weniger klamm und steif als sonst, wenn sie am Morgen aufstand, um einen weiteren Tag endloser Wanderschaft zu erwarten.

Aber vielleicht war es gerade das helle Feuer, das der Karawane zum Verhängnis geworden war.

Im Schein der Fackeln sah Li schwer bewaffnete Krieger. Die Helme hatten einen Nasenschutz, der dem Antlitz alles Menschliche nahm. Aber viele von ihnen trugen Bärte, deren Farbe jener erschreckend ähnlich war, die der Gürtel der Nomadin hatte.

Mit Schwertern und Streitäxten fielen sie über Babrak den Feilscher und seine Männer her. Babrak kam nicht einmal mehr dazu, die Decke zur Seite zu schlagen und nach seinem gebogenen Schwert zu fassen, da hatte ihm bereits einer der Angreifer den Schädel mit der Streitaxt gespalten.

Stimmen riefen in einer Sprache durcheinander, die Li noch nie zuvor gehört hatte und die weder Griechisch noch Latein oder irgendein verwandter Dialekt war.

Laut schreiend stoben zwei der Trampeltiere davon, und gleich mehrere Angreifer machten sich sofort daran, sie wieder einzufangen.

Reiter tauchten in der Nacht wie schattenhafte Geister auf. Nur ihre Umrisse waren zu erkennen. Hin und wieder streifte das Mondlicht ihre Körper und Gesichter.

Bruder Anastasius hatte lautstark zu beten begonnen.

Der Kampf war innerhalb weniger Augenblicke zu Ende. Die meisten der Bewaffneten, die im Gefolge von Babrak dem Feilscher die Karawane begleitet hatten, wurden noch halb im Schlaf erschlagen.

Einige der Kameltreiber versuchten zu fliehen, aber die Fremden trieben sie zurück ins Lager. Einer von ihnen starb unter einem Schwertstreich, doch der Krieger, dessen Waffe dem Treiber in den Leib gefahren war, wurde von einem Reiter angeherrscht, der offenbar der Anführer war. Von seiner Klinge troff Blut. Er trug einen Helm ohne Nasenschutz, sodass sein Gesicht im Mondlicht gut zu sehen war. Der Bart war hell und leicht rötlich. Die Stimme klang dunkel und erinnerte an das Knurren eines Bären, wie man sie auf den Märkten von Xi Xia manchmal ausgestellt sah.

Er ließ sich aus dem Sattel gleiten. Die blutige Klinge wischte er an einem der Seidenballen ab, die man den Kamelen für die Nacht abgenommen hatte. Dann steckte er die breite, gerade und sehr lange Klinge wieder in die Lederscheide an seinem Gürtel. Li fühlte einen groben Stoß von hinten. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden.

Von allen Seiten waren sie von bewaffneten Nordmännern umgeben, die die Überlebenden zusammentrieben.

Anscheinend hatten die Angreifer die Kameltreiber ganz bewusst am Leben gelassen, weil sie jemanden brauchten, der sich um die Tiere kümmerte. Ob es auch einen Grund für sie gab, drei Papiermacher am Leben zu lassen, musste sich erst noch zeigen. Li erhob sich.

Der Mönch betete noch immer abwechselnd in Griechisch und Latein und rief seinen Gott um Hilfe und Gnade an.

Einer der Nordmänner hatte schon zum Schwertschlag ausgeholt, um dieser Litanei ein Ende zu setzen, aber der Anführer hob die Hand und gebot ihm damit unmissverständlich, die Waffe zu senken. Die Worte, die dann folgten, erinnerten Li an den Klang des Donners, wenn sich über den weiten Steppen Xi Xias ein Sommergewitter entlud.

Sie fragte sich, ob der Rotstich in den Barthaaren des Anführers der Nordmänner eine besondere Laune der Natur war oder vielleicht von der Sitte dieser Barbaren zeugte, sich das Blut ihrer Feinde in den Bart einzustreichen. Vielleicht waren sie auch so unzivilisiert, dass sie rohes, blutiges Fleisch aßen, und wenn ihre Essensgewohnheiten auch nur halb so schauerlich waren, wie Li es bisher bei den Menschen des Westens kennengelernt hatte, dann ließ sich damit dieser Rotstich hinreichend erklären. Ein menschenfressendes Ungeheuer, erfunden für Geschichten, deren einziger Zweck darin bestand, kleine Kinder zu erschrecken und dazu zu bringen, fleißiger zu lernen oder Speisen zu sich zu nehmen, die gesund, aber wenig schmackhaft waren – so erschien Li dieser riesenhafte Mann. Nur dass er leider alles andere als die alptraumhafte Erfindung eines begabten Dichters war, sondern leibhaftig vor ihnen stand.

Er sagte ein paar Worte zu Bruder Anastasius, die dessen Gebeten ein ebenso plötzliches Ende setzten, wie es ansonsten ein Schwertstreich vermocht hätte.

»Gott hat dich erhört, frommer Mann!«, sagte er in einem Griechisch, das so klar klang, wie es nur jemand sprechen konnte, dem diese Sprache sehr vertraut sein musste.

»Herr, Ihr seid ein Christenmensch?«

»Ich stand lange Jahre in den Diensten des christlichen Kaisers von Konstantinopel«, sagte der Rotbärtige. »Ich selbst nehme mir von allen Göttern das Beste und glaube ansonsten an die Härte meiner Schwertklinge und an das Klimpern von Silber!«

»Wie ist Euer Name?«, fragte Bruder Anastasius. »Denn wenn ich nach Konstantinopel zurückkehre, werde ich ihn dort gerne rühmend erwähnen …«

Der Rotbärtige lachte schallend. »Man nennt mich Thorkild Larsson Eisenbringer – und ich bin mindestens bei der Hälfte derer, die dem Kaiser zurzeit als Gardisten dienen, gut bekannt! Auf den Ruhm durch deine Worte bin ich nicht angewiesen – und davon abgesehen, was macht dich so sicher, dass du Konstantinopel lebend erreichst?« Er deutete auf die Treiber. »Sprichst du die Sprache dieser Leute?«

»Das tue ich«, nickte der Mönch.

»Dann sag ihnen, sie sollen die Trampeltiere zum Aufbruch fertig machen. Womit sie beladen waren, lassen wir hier.«

»Aber Herr, das ist wertvollste Seide!«, erwiderte der Mönch.

»Jetzt sind es Lumpen«, erwiderte Thorkild Larsson Eisenbringer. »Ich brauche nur die Kamele. Und was soll ich mit einem Stoff, der nicht wärmt.«

»So habt Ihr ein Gut, das noch wertvoller ist als Seide?«, fragte der Mönch.

Thorkild Larsson Eisenbringer nickte. »Barren aus einem Stahl, aus dem Schwerter geschmiedet werden, die nicht zerbrechen – so wie das hier!« Er zog seine Klinge und hielt sie Anastasius unter die Augen. Der Mönch schluckte. »Du hast von mir gehört, nicht wahr?«

»Es gibt Gerüchte über einen Mann, der mit diesem Stahl handelt.«

»Und du wurdest nicht zufällig ausgesandt, um mehr darüber herauszufinden?«

»Ich bin ein Mann des Glaubens, und mein einziges Begehren ist es, das Wort Jesu Christi zu verbreiten.«

Thorkild Larsson Eisenbringer maß den Mönch mit einem nachdenklichen Blick. »Wenn ich etwas anderes herausfinden sollte, bringe ich dich um!«, kündigte er an. »Ganz gleich, wie fromm du bist!« Der wahre Grund für seine Barmherzigkeit war vermutlich, dass er im Moment auf den Mönch angewiesen war, da Thorkild offenbar nicht die Sprache der Kameltreiber beherrschte und auch keiner seiner Männer.

Der Nordmann wandte sich nun Li, Meister Wang und Gao zu.

»Wir sind Papiermacher auf dem Weg nach Samarkand, in die Stadt der Bücher und der Gelehrsamkeit«, sagte Li auf Griechisch, noch ehe Thorkild etwas gesagt hatte.

Zum Beweis ihrer Worte streckte sie ihm ihr Rosshaarsieb entgegen. Er hob überrascht die Augenbrauen. Er nickte. »Der Karawanenführer, mit dem ihr durch diese Berge gezogen seid, wird euch nicht umsonst mitgenommen haben«, stellte er fest.

»Wir waren seine Gefangenen«, erwiderte Li.

»Und jetzt seid ihr meine!«

»Dann werdet Ihr anstelle von Babrak dem Feilscher den guten Preis erzielen, den man in einer Stadt wie Samarkand für jemanden bezahlt, der unsere Kunst beherrscht!«

Thorkild zuckte die breiten Schultern. Er wechselte ein paar Worte mit einem seiner Männer, einem grauhaarigen, hageren Krieger, an dessen Rat ihm wohl viel lag. Da sie sich in der Sprache der Nordmänner unterhielten, verstand Li natürlich kein einziges Wort.

Umso genauer achtete sie auf jede Regung im Gesicht des rotbärtigen Thorkild.

»Wir nehmen euch mit«, meinte er schließlich auf Griechisch. »Schließlich könnt ihr im Gegensatz zu den Seidenballen selbst laufen.«