Neunzehntes Kapitel


Geständnisse und Wendungen

 

 

 

»Für heute ist die Arbeit geschafft«, sagte Li seufzend. »So sieht man, dass es auch mit weniger Händen geht, wenn es sein muss …«

Der blinde Christos nickte. Die anderen Tagelöhner waren längst fort, aber Christos hatte ihr noch geholfen, eine Liste dessen zu erstellen, was dringend auf dem Forum Tauri eingekauft werden musste. Die Liste war erschreckend lang, wie Li feststellte. Insbesondere wurden geeignete Lumpen knapp. Die Händler, die Konstantinopel auf dem Landweg erreichten, kamen nicht mehr, seitdem die Bulgaren in Thracien eingefallen waren. Und diejenigen, die in der Stadt lebten, trieben einfach nicht genug Nachschub an alten Kleidern auf, obwohl die Preise dafür inzwischen spürbar gestiegen waren – ein Umstand, an dem Li nicht ganz unschuldig war. Ihre Gedanken über Papier aus Hanf wurden daher immer ernsthafter.

Ein paar Blätter hatte sie bereits geschöpft, die nur aus zerstampften Hanffasern bestanden. Aber wirklich zufrieden war sie mit dem Resultat nicht. Diese Blätter wirkten farblos und zerrissen leicht, außerdem war es schwierig, sie so glatt und gleichmäßig zu bekommen, wie man dies vom Lumpenpapier gewohnt war. Es war ganz und gar nicht gleichgültig, welche Art von Fasern man zu Brei zerstampfte, um sie anschließend zu Papier zu verarbeiten.

Sie erinnerte sich nicht zum ersten Mal der Worte ihres Vaters. »Bei jedem neuen Stoff hat man die Kunst seines Handwerks ein zweites Mal zu lernen«, sagte Meister Wang einmal.

Wie sehr er damit Recht hatte, spürte sie nun. Aber sie dachte nicht daran, aufzugeben. Mit Geduld würde sie es hinbekommen, auch aus Hanf ein Papier zu machen, das vielleicht nicht ganz so hohe Maßstäbe erfüllte, aber zumindest als Briefpapier taugte.

»Warum sind heute eigentlich nicht alle gekommen, die sonst in meiner Werkstatt die Stampfer rühren?«, fragte Li an Christos gewandt. »Es finden meines Wissens heute keine Spiele statt.«

»Das hättet Ihr bestimmt gemerkt!«, stimmte Christos zu.

»Aber was kann es sonst sein? Hat jeder von denen einen Sack mit Münzen gefunden, sodass er für das nächste Jahr nicht mehr zu arbeiten braucht? Oder sind sie angesichts der Bulgarengefahr allesamt fromm geworden und haben ein Armutsgelübde als Mönch abgelegt?«

»Es gibt zurzeit mehr Arbeit im Hafen«, sagte Christos. »Jedenfalls habe ich einige Männer davon sprechen hören – und Ihr wisst, ich höre recht gut.«

Das klang einleuchtend. Schließlich musste die Stadt im Moment von der See aus versorgt werden, und das bedeutete, dass selbst Händler aus Makedonien sich zum Eutherios-Hafen einschifften, um ihre Waren in der Kaiserstadt anbieten zu können. Aber Li spürte, dass dies nicht der einzige Grund war. Vor allem konnte er nicht für jeden ihrer Tagelöhner gelten, die an diesem Tag ausgeblieben waren. Normalerweise konnte sie sich vor Interessenten nicht retten und musste vielen absagen – auch weil sie fürchtete, dass das Gildengericht ihr sonst weitere Knüppel zwischen die Beine warf. Bislang hatte man ihr zwar verboten, Lehrlinge auszubilden und Gesellen anzustellen, aber gegen die Hilfsdienste ihrer Tagelöhner war niemand eingeschritten, obwohl sie in der Gerbergilde sicher ebenfalls Missfallen erregten. Es konnte also durchaus noch härtere Maßnahmen gegen sie geben, denn dass sie – gerade wegen ihrer bevorzugten Stellung als Lieferantin des Hofes – keineswegs nur Freunde in der Stadt hatte, wurde ihr des Öfteren schmerzvoll ins Bewusstsein gerufen. Schmerzvoll vor allem deshalb, weil sie immer nach Harmonie strebte und den Gedanken, ein Ärgernis für andere zu sein, unerträglich fand. Aber das war in diesem Fall wohl nicht zu ändern.

»Hast du vielleicht noch von etwas anderem gehört als davon, dass es im Hafen mehr Arbeit gibt?«, hakte Li nach, denn sie kannte Christos inzwischen gut genug, um zu bemerken, wann er nicht ganz die Wahrheit sagte oder ihr etwas verschwieg – manchmal in bester Absicht.

»Ach, Evangelia!«, sagte er, und da war ihr klar, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

»Zumindest Kleitos würde doch mit seinem Klumpfuß niemals eine Arbeit im Hafen finden«, meinte Li. »Wieso kommt er nicht?«

»Weil er bedroht und verprügelt wurde«, gab Christos nun zu.

Lis sonst vollkommen glatte Stirn bekam eine Zornesfalte. »Aber weshalb denn das? Stecken diese Nichtsnutze aus der Gerbergilde dahinter? Denen würde ich so etwas zutrauen …«

Aber Christos schüttelte den Kopf. »Es hat nichts mit den Gilden zu tun. Das waren verbohrte Ikonoklasten.«

»Diese Bilderhasser, die die Kirche angezündet haben, an der wir neulich vorbeigekommen sind?«

»Ja.«

»Aber … warum?«

»Vielleicht weil auf Eurem Papier die Ikonenmaler ihre Skizzen zeichnen! Wenn Kleitos noch einmal bei Euch gesehen wird, droht ihm Schlimmeres. Mit seinem Fuß steht er ohnehin im Verdacht, ein Verwandter des pferdefüßigen Satans zu sein …«

»Wurdest du auch bedroht?«

»Ja, aber ich bin nicht ängstlich. Davon abgesehen, hat es bisher niemand von denen gewagt, die Hand gegen einen Blinden zu erheben, denn den Blinden war ja unser Herr Jesus immer sehr zugetan, als er mit seinen Jüngern Heilwunder wirkte …« Ein mattes Lächeln erschien jetzt um seinen Mund. »Ich wollte Euch nicht unnötig beunruhigen, Evangelia. Sobald die Truppen aus dem Osten hier sind und der Kaiser die Bulgaren verjagt hat, werden sich viele Gemüter wieder beruhigen, das könnt Ihr mir glauben!«

»Das will ich hoffen«, murmelte Li.

Ein Ruck ging plötzlich durch Christos. Er hatte offenbar etwas gehört. »Es kommt jemand zu Euch«, stellte er fest.

Im nächsten Moment klopfte es an der Tür. Arnulf von Ellingen stand vor ihr.

»Bis morgen, Evangelia«, sagte Christos, der bereits seinen Blindenstock genommen hatte, mit dessen Hilfe er sich sicher durch das Gewirr der Straßen und Gassen von Konstantinopel zu bewegen wusste. »Von Herrn Arnulf werdet Ihr ja wohl nichts zu befürchten haben, denn ich habe bislang nicht gehört, dass er ein Bilderhasser wäre …«

Christos hatte Griechisch gesprochen, und so verstand Arnulf nichts von seinen Worten.

»Pass auf dich auf«, sagte Li besorgt.

»Das ist nicht nötig«, erwiderte Christos. »Ich trage den Namen des Herrn, und schon allein deswegen wird er auf mich achten, wie er es bisher immer getan hat!«

Li wusste, dass Christos in einem herrenlosen Haus zusammen mit anderen Tagelöhnern wohnte. Da die Stadt einmal weitaus mehr Einwohner hatte als zurzeit, gab es genug verfallende Häuser, von denen Tagelöhner und Bettler manche vorübergehend in Besitz nahmen. Li hatte dieses Haus noch nie gesehen, und Christos machte stets wechselnde Angaben über seine Lage. Er wollte anscheinend nicht, dass Li seinen Unterschlupf kannte.

Li schloss die Tür und wandte sich an Arnulf. »Er hat dich erkannt! Aber frag mich nicht, woran! Vielleicht am Geruch deines Lederwamses oder an den Geräuschen deines Schwertgehänges …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich bin immer wieder überrascht, dass er ohne Augenlicht besser zu sehen vermag als mancher Sehende!«

Sie näherte sich ihm und schlang die Arme um seinen Hals. Ihr Herz schlug heftiger, und ein Lächeln spielte um ihre vollen Lippen, als sie ihn zärtlich ansah. Er erwiderte den Blick und umfing ihre Taille. Aber noch bevor sich ihre Lippen zum Kuss trafen, spürte Li, dass sich etwas verändert hatte. Die Leichtigkeit und Unbeschwertheit ihrer ersten innigen Begegnung war verschwunden. Irgendetwas schien Arnulf davon abzuhalten, sich dem Zauber des Augenblicks hinzugeben.

Er löste sich von ihr. »Ich muss mit dir über ein paar sehr wichtige Dinge reden«, kündigte er an.

Bei diesen Worten schnürte es ihr förmlich die Kehle zu. »Du willst mir sagen, dass du bald aufbrechen musst und nach Saxland zurückkehrst?«

Er nickte. »Ja, so ist es. Ich habe den Brief von Basileios an Otto ausgehändigt bekommen, und nun gibt es von Amts wegen keinen Grund, länger hierzubleiben. Abgesehen davon, scheine ich hier in Konstantinopel nicht länger willkommen zu sein …«

»Warum nicht?«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Fallen der oströmischen Hofpolitik … Da weiß, glaube ich, nicht einmal mein in diesen Dingen überaus kundiger Fra Branaguorno wirklich Bescheid … Aber vielleicht interessiert es dich, dass ich Thorkild Eisenbringer wiedergetroffen habe!«

In knappen Worten fasste Arnulf ihr die Geschehnisse im Palast zusammen. Sie berührte ihn am Oberarm. »Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist!«

Arnulf verzog das Gesicht. »Diesmal war sein Leben mehr gefährdet als das meine – ich hingegen war nur in der Gefahr, eine Dummheit zu begehen.« Arnulf ballte die Hände zu Fäusten. »Einzig das Himmelreich mag Gerechtigkeit kennen – aber nicht die Welt, wie sie nun mal ist. Gero ist tot, und Fra Branaguorno hat den Überfall nur durch ein Wunder überlebt. Aber außer dem Herrn wird niemand Thorkild dafür zur Rechenschaft ziehen, denn er scheint unantastbar zu sein. Mag der Herr wissen, was er für den Kaiser getan hat, um solche Freiheiten zu genießen.«

»Dann überlasse dem Herrn doch das Gericht und maße es dir nicht selbst an!«, erwiderte Li mit großer Deutlichkeit.

Er sah sie erstaunt an und hob die Augenbrauen.

»Du redest schon wie Fra Branaguorno, obwohl du ansonsten kaum etwas mit ihm gemein hast!«

»Es ist die Sorge um dich, die mich so sprechen lässt, Arnulf. Ich weiß, was Thorkild für ein Mensch ist. Ich war seine Gefangene. Aber du tätest gut daran, dem Eisenbringer aus dem Weg zu gehen.«

»Nichts anderes habe ich vor«, versprach Arnulf.

Sie nahm seine Hand und sah ihn an. »Es wird schwer genug für mich, auszuhalten, dass du nicht mehr in meiner Nähe sein wirst – aber wenn dir etwas geschehen würde, könnte ich das nicht ertragen!«

Liebevoll strich er Li eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrer stets straff gekämmten Frisur herausgestohlen hatte.

»Das geht mir mit dir genauso«, sagte er.

»Steht schon fest, mit welchem Schiff Fra Branaguorno und du Konstantinopel verlassen werdet?«

»Nein. Fra Branaguorno spricht im Quartier der Venezianer mit einem Händler namens Lorenzo D’Antonio, der uns vielleicht mitnimmt. Fra Branaguorno scheint in der Lagunenstadt einige Verbindungen zu haben. Aber wo hat er die nicht?«

»Und von Venedig aus ziehst du weiter nach Magdeburg, nehme ich an.«

»Vielleicht erhalte ich auch irgendeine Botschaft, dass ich mich an einen anderen Ort begeben soll, weil sich dort gerade das Heer des Reichs versammelt … Aber falls das nicht der Fall ist, geht es nach Magdeburg.«

»Wie viel Zeit bleibt uns? Ein paar Tage?«

»Die wohl ganz gewiss.«

»Dann sollten wir die Zeit, die der Herr uns schenkt, dafür nutzen, uns nahe zu sein.« Sie umschlang seinen Hals und wollte ihn küssen, aber er fasste sanft ihre Handgelenke.

»Li …«

»Kannst du nicht für immer hierbleiben? Ist ein christlicher Kaiser nicht wie der andere? Du könntest doch auch diesem dienen, genauso gut wie dem in Magdeburg. Griechisch wirst du schon lernen, das ist nicht schwer!« Sie atmete tief durch. »Ich rede törichtes Zeug, nicht wahr?«

»Ich fürchte.«

»Ist es so, dass dich …« Li zögerte, ehe sie die Frage vollendete. »… dass dich jemand in Magdeburg erwartet?« Jetzt, da es heraus war, bereute Li schon, ihn überhaupt gefragt zu haben. Welchen Sinn hatte das, da doch ihr gemeinsames Glück von Anfang an flüchtig gewesen war. Sollte sie sich nicht eher darüber freuen, dass sie sich überhaupt begegnet waren? Schließlich gab es keinerlei Hinweise darauf, dass irgendwo geschrieben stand, sie könnten sich noch einmal wiedersehen.

Maktub, wie es in der Sprache des Propheten hieß.

»Die Antwort ist Ja«, murmelte Arnulf.

Li schluckte. Sie fühlte einen Stich in der Herzgegend. »Eine Ehefrau?«, fragte sie fast tonlos.

»Eine zukünftige Ehefrau«, antwortete Arnulf. »Du hast es verdient, dass ich dir die Wahrheit sage, auch wenn ich wünschte, es wäre anders und ich könnte einfach meinem Herzen folgen.«

»Was würdest du dann tun?«

Sie sahen einander an. Er lächelte, aber es war nicht nur Freude in diesem Lächeln, sondern auch etwas Schweres, Schmerzvolles. »Ich würde dich mit nach Magdeburg nehmen und anschließend auf meine Güter bei Burg Ellingen. Meinem Großvater hat sie König Heinrich gegeben, meinem Vater wurden sie erneut von Otto Magnus übereignet, und ich erhielt diese Güter von Kaiserin Theophanu.«

»Ist solcher Besitz nicht erblich?«, fragte Li.

»Das könnte er werden – wenn ich Woda von Ostfalen heirate. Wir sind uns seit Langem versprochen.«

»Liebst du sie?«

»Ich kenne sie kaum.«

»Du hast mir einiges über Saxland erzählt – aber noch lange nicht genug, sodass ich vieles nicht weiß«, sagte sie. »Ist es nicht so, dass Männer deines Standes zumeist eine Frau haben, mit deren Familie sie verbunden sein wollen, und noch eine andere, mit der nur ihr Herz verbunden ist?«

»Ja, das gibt es auch bei uns«, bestätigte Arnulf. »Eine Kebs-Ehe nennt man das. Andere nennen sie auch normannisch. Aber so etwas kann sich ein einfacher Ritter wie ich nicht erlauben, wenn man ins Kaiserhaus einheiratet …«

»Oh!«, entfuhr es ihr. Aber sie fasste sich schnell. Sie hatte einen schönen Traum gehabt von einem Ritter, der sie auf seine Güter mitnahm. Doch das würde ein Traum bleiben. Von Anfang an war ausgeschlossen gewesen, dass er sich erfüllte. Warum hätte ich es aber nicht genießen sollen?, dachte sie. Schließlich gehörte dieser Traum zweifellos zu dem wenigen Guten, das ihr seit ihrer Verschleppung widerfahren war. Und was hinderte sie eigentlich daran, ihn zu Ende zu träumen, so viel wie möglich davon in sich aufzunehmen?

»Glaubst du, dass du mit dieser …«

»Woda.«

»… glücklich werden wirst?«

»Nein.«

»So war unsere Begegnung hier in Konstantinopel vielleicht das Maß an Glück, das der Herr uns zugedacht hat. Aber wir können uns immer daran erinnern.«

»Das werde ich ganz bestimmt! Ich könnte dich niemals vergessen!«

Er zog sie an sich, und sie küssten sich mit einer Inbrunst, in die sich Schmerz mischte. Eng umschlungen gingen sie wenig später hinauf ins Obergeschoss. Als sie auf Lis Lager sanken, war es nicht aufgestaute, zügellose Leidenschaft, die sie antrieb. Sie dehnten ihre Vereinigung aus, unendlich viel langsamer und inniger als vorher. Fast so, als wollten sie jeden Moment bis zur Neige auskosten, um sich später umso genauer an ihn zu erinnern.

Li erwachte an Arnulfs Seite. Ihr Kopf lag an seiner Schulter, und sie spürte seinen gleichmäßigen Atem.

An einem der Fensterläden knarrte es, als versuchte jemand, ihn aufzubrechen.

Sie war sofort hellwach. »Arnulf!«, flüsterte sie, auch er hatte die Augen bereits aufgeschlagen. Es war fast stockdunkel in der Kammer. Stimmen waren draußen zu hören. Holz barst, und dann hörten sie Schritte.

Arnulf war sofort auf den Beinen.

Nur in der Hose und mit dem Schwert in der Hand lief er die Treppe hinunter. Li folgte ihm, nachdem sie sich etwas übergeworfen hatte.

Fackeln leuchteten in den Räumen der Werkstatt. Schattenhaft waren Gestalten zu erkennen. Hier und da flackerte der Schein des Feuers über hassverzerrte Gesichter.

»Verschwindet!«, rief Arnulf und ließ das Schwert durch die Luft kreisen. Die Eindringlinge – es waren mindestens fünf oder sechs – wichen zurück, während ein Stapel fertiger Papierbogen in Flammen aufging.

Die Eindringlinge flohen aus der Tür und durch das aufgebrochene Fenster. Die Zugluft fachte das brennende Papier an. Die Alabasterblende eines Fensters fing ebenfalls Feuer.

Arnulf jagte die Eindringlinge hinaus. Sie rannten die Gasse entlang und waren kurz darauf hinter der nächsten Ecke verschwunden. Li lief unterdessen in den Nebenraum, wo die Bottiche voller Wasser mit halbzerstampften Lumpen standen. Sie raffte so viele dieser Lumpen zusammen, wie sie tragen konnte, hastete damit zurück in den Vorraum und warf die nassen Knäuel auf die emporzüngelnden, sich rasend schnell ausbreitenden Flammen.

Arnulf kam angerannt. Li holte bereits den zweiten Armvoll triefender Lumpen, die zischend auf die Flammen fielen. »Hilf mir!«, rief sie.

Arnulf legte das Schwert zu Boden. In fliegender Eile begann er ebenfalls mit feuchten Stoffknäueln die Flammen zu ersticken. Immer wieder zischte es, und es dauerte nicht lange, bis sie das Feuer gelöscht hatten. Mit einem Mal war es so dunkel, dass sie kaum die Hand vor Augen sehen konnten, und der beißende Qualm um sie herum wurde unerträglich. Arnulf öffnete rasch alle noch geschlossenen Fensterläden, und Li schloss die Hintertür des Gebäudes auf, die zum Innenhof hinausführte.

Sie rang hustend nach Luft, wenig später stand Arnulf neben ihr und keuchte. Der Innenhof lag im Finstern. Das Licht der Öllaternen, die aus Konstantinopel einen Ort machten, an dem es auch in tiefster Nacht nie vollkommen dunkel war, reichte nicht bis hierher. Dafür wölbte sich über ihnen der Sternenhimmel, und der Mond stand als großes, fahles Oval dort oben und schien auf sie herab.

»Das war knapp«, sagte Arnulf. »Es hätte nicht viel gefehlt und alles wäre in Flammen aufgegangen.« Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Wer tut so etwas? Ein ganzes Viertel könnte durch einen solchen Frevel abbrennen!«

»Das ist diesen Menschen gleichgültig«, erwiderte Li.

»Weißt du, wer dahintersteckt?«

»Der blinde Christos sagt, es sind Ikonoklasten!« Dann erzählte sie ihm in knappen Worten von der Kirche, die wohl ebenfalls diese Eiferer angezündet hatten.

»Ich habe davon gehört«, meinte Arnulf. Er fasste Li bei den Schultern, und sie sah, wie sich das Mondlicht in seinen Augen spiegelte. »Bist du dir immer noch sicher, dass dies der Ort ist, an dem du dein Glück machen willst?«

Am nächsten Morgen offenbarte sich das ganze Ausmaß der Zerstörungen in der Werkstatt. Alles Papier, das in dem zur Straße hin ausgerichteten Vorraum lagerte, war völlig unbrauchbar – es sei denn, man zerstampfte die kläglichen Reste erneut in den Bottichen, um daraus ein zweites Mal Papier zu schöpfen. Ein Teil der Lumpen, die Li nass auf die Flammen verteilt hatte, war noch verwendbar. Man musste sie nur sorgfältig zerkleinern. Der Fensterladen war zerbrochen, ebenso das Türschloss. Im Nachbarraum lag ein umgestürzter Wasserbottich. Mit der Presse hatten die Eiferer anscheinend dasselbe versucht, aber ohne Erfolg. Sie war nur ein Stück verrutscht. Überall lagen Papiere herum, dazwischen die durchgeschnittenen Leinen, an denen sie zum Trocknen gehangen hatten.

»Es tut mir leid, dass deine Werkstatt zum Ziel dieser Barbaren geworden ist. Ich glaube, ich kann inzwischen ermessen, was sie dir bedeutet.«

»Sie bedeutet mir nichts«, erwiderte Li. »Ich habe längst aufgehört, mein Herz an Dinge zu hängen, die man so leicht wegnehmen oder zerstören kann wie eine Werkstatt. Mein Vater hat immer gesagt, dass einem nur das, was man in sich trägt, niemand nehmen kann. Und ich habe mehr als einmal erfahren müssen, wie Recht er damit hatte.« Sie sah ihn an. »Es ist nichts kaputt, was sich nicht wiederherstellen ließe. Wenn man fällt, muss man wieder aufstehen. Zurückzuschauen und den Verlust zu bedauern hat keinen Sinn. Das ist nur eine Verschwendung von Kraft.«

»Du sagst manchmal seltsame Dinge«, meinte Arnulf. »Aber ich höre dir gerne zu, wenn du das tust.«