Dreizehntes Kapitel
Die Heilige Stadt
Die Kuppel des Felsendoms von Jerusalem war schon aus großer Entfernung zu sehen. Wie ein Trugbild wirkte sie auf Li. Ein stundenlanger Kamelritt lag hinter ihr, und beim schaukelnden Gang ihres Reittiers hatte sie sich ganz in ihren Gedanken verloren. Vor allem beschäftigte sie die Frage, wie ihr Lebensweg noch eine andere Richtung nehmen könnte – eine Richtung, die sie selbst bestimmte und deren Ziel zumindest vage erkennbar und einigermaßen verheißungsvoll war.
Arnulf, der fremde Ritter aus Saxland, tauchte ebenfalls immer wieder in ihren Gedanken auf, und wenn man es genau nahm, hatte er diese nie verlassen.
Wenn so viele Christen nach Jerusalem pilgerten, warum sollte dann nicht auch Arnulf von Ellingen irgendwann diesen Weg beschreiten?, so bildete sie sich ein, wobei sie mehr einer tagtraumähnlichen Fantasie nachhing, als darin eine echte Verheißung ihres Schicksals zu sehen.
Sie nahm sich vor, den Gedanken an Arnulf auf ähnliche Weise in ihrem Herzen zu bewahren wie ihr Vater die Erinnerung an ihre Mutter. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie immer gespürt, dass diese Frau ihren Vater begleitete, und vermutlich war sie selbst jetzt noch bei ihm. Um sich ihr nah zu fühlen, brauchte er nicht einmal einen Ahnenschrein. Es reichte die starke Verbundenheit, die sie einmal miteinander geteilt hatten.
»Jerusalem!«, rief der zwölfjährige Ahmad erfreut. »Wir haben es endlich geschafft!« Dabei versuchte er, den Esel, auf dem er seit dem Aufbruch aus Bagdad vor ein paar Wochen ritt, zu mehr Schnelligkeit anzutreiben. Doch das eigenwillige Tier ließ sich das nicht gefallen. Es reagierte mit einem gleichermaßen störrisch wie durchdringend klingenden Laut, den es so vehement ausstieß, als wollte es gegen diese Zumutung lautstark protestieren.
Die Karawane näherte sich einem der Stadttore, das ein steter Strom von Besuchern passierte.
Händler wie Firuz waren darunter, die ihre Waren auf Kamelen und Eseln tragen ließen, aber auch hin und wieder christliche Mönche oder Bauern der Umgebung, die ihre Erzeugnisse zu den Märkten bringen wollten. Die Stadt kam Li klein vor – verglichen mit Bagdad oder Samarkand. Doch die Bedeutung dieses Ortes lag zweifellos nicht in der Anzahl von Menschen, die hier lebten, oder im Umfang der Stadtmauern.
Die Menschen in den engen Straßen sprachen überwiegend Arabisch. Hier und da fielen Li auch andere Zungen auf. Neben den an ihrer Kleidung deutlich als Fremde erkennbaren Besuchern, die wohl von weither gekommen waren, um die heiligen Stätten zu besuchen, gab es Männer und Frauen, die ganz nach Art des Landes angezogen waren und sich in nichts von den anderen Bewohnern unterschieden, außer dass sie einen gelb oder blau gefärbten Gürtel trugen.
Sehr vereinzelt hatte Li dies schon in Bagdad gesehen, aber kein besonderes Augenmerk darauf gelegt. Unter den vielen anderen Eindrücken waren die Gürtel in den Hintergrund gerückt.
Li hatte sich zwar bemüht, möglichst viele Worte aus der Sprache des Propheten zu lernen, aber sie war noch weit davon entfernt, etwa die Menschen auf der Straße zu verstehen. Viele Wörter hatten die Perser offenbar aus dem Arabischen übernommen, was ihr das Lernen einerseits erleichterte. Andererseits hatte sie die meiste Zeit bei Firuz und seinen Leuten zugebracht, die untereinander Persisch sprachen und die Sprache des Propheten nur benutzten, wenn sie beteten oder etwas verbergen wollten.
Jedenfalls konnte Li nicht einfach durch Lauschen in Erfahrung bringen, was ihr an Wissen fehlte.
Bei den Fremden in der Stadt hörte sie wiederum teilweise sehr vertraute Worte in Latein, Griechisch und in Dialekten, die dem Lateinischen irgendwie verwandt sein mussten.
Firuz’ Großonkel hatte ein großes Haus, das auch als Herberge für durchziehende Karawanen diente. Was er daraus einnahm, sicherte ihm einen Teil seiner Einkünfte. Der andere kam wohl aus dem Handel mit verschiedenen Waren.
Da das Haus im Moment gut belegt war, mussten Li, Meister Wang und Gao im Stall schlafen.
Der Großonkel war ein Mann, dessen Alter sich schwer schätzen ließ. Der Bart war grau, die Augen lagen sehr tief, und er wirkte dünn und knochig, worüber seine weiten Gewänder etwas hinwegtäuschten. Beim Gehen stützte sich Abu Khalil auf einen Stock, dessen Knauf goldene Verzierungen schmückten.
Als Firuz ihm die drei Papiermacher vorstellte, musterte er sie von oben bis unten und sagte einige Worte auf Arabisch, die keiner von ihnen verstehen konnte.
»Mein Großonkel heißt euch willkommen in seinem Haus. Ihr genießt seinen Schutz, aber schuldet ihm dafür euren Gehorsam.«
Li senkte nur das Haupt.
Abu Khalil sagte erneut etwas, dann entspann sich ein längerer Wortwechsel zwischen ihm und seinem Großneffen. Sie sprachen Arabisch, während Firuz immer wieder mit großen Gesten seinen Worten Nachdruck verlieh. Man hätte denken können, dass er gerade irgendeine Ware im Basar anpries, so kam es Li vor. Und die Tatsache, dass sie nur einzelne Worte von dem verstand, was gesagt wurde, ließ die Eigenarten von Firuz’ Redeweise für sie noch mehr hervortreten. Immer wieder hörte sie die Wörter »schreiben« und »Buch« heraus. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass Firuz versuchte, Abu Khalil von seiner Idee einer Papierfertigung zu überzeugen.
Der alte Mann nahm dies mit einem zunächst regungslosen, dann immer skeptischer werdenden Gesicht hin. Die Falten auf seiner Stirn furchten sich tiefer ein, und es war überdeutlich, dass er nicht denselben Enthusiasmus für den Plan seines Großneffen hegte, wie dieser ihn zum Ausdruck brachte.
Li nahm eines der Blätter mit dem Wasserzeichen der Rose hervor, die sie zusammengefaltet bei sich trug.
»Seht dieses!«, sagte sie. Dafür reichte ihr Arabisch.
Abu Khalil war überrascht. Zögernd nahm er das Blatt und entfaltete es.
»Ins Licht!«, sagte sie. »Fi nur!«
Der alte Mann machte ein paar Schritte in Richtung des Fensters, das auf den Innenhof hinausging, und als Firuz sah, dass Abu Khalil offenbar Mühe hatte, seinen Arm hoch genug zu heben, nahm er seinem Großonkel wortreich das Blatt aus der Hand und hielt es so ins Licht, dass das Wasserzeichen deutlich zu sehen war. Ein Schwall von Worten drang daraufhin aus Firuz’ Mund. Li fühlte sich an die Aufdringlichkeit mancher Basaris erinnert, die jeden, der vorbeikam, mit Angeboten überschütteten.
Abu Khalil brachte ihn jedoch mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er starrte einige Augenblicke auf das Bild, und seinem Gesicht war anzusehen, wie ihn dieser Anblick faszinierte. »Allah!«, flüsterte er tief bewegt.
Der alte Mann wandte sich an Li, und Firuz übersetzte.
»Kannst du so etwas mit anderen Formen erschaffen?«
»Ja, Herr.«
»Auch mit Sprüchen aus dem Koran?«
»Ja, auch das ist möglich.«
»Und in großer Anzahl?«
»Das hängt davon ab, wie viele Hände mir helfen und ob genug Lumpen da sind.«
»Lumpen?«
»Man zerschlägt sie und schöpft daraus das Papier.«
Abu Khalil nickte. Dann klopfte er Firuz anerkennend auf die Schulter. Er schien rundum zufrieden mit seinem Großneffen zu sein. Und da Li das Wort für Diamant hörte, das auf Persisch und Arabisch gleich war, nahm sie an, dass sich diese Zufriedenheit auch darauf bezog, dass Firuz es geschafft hatte, einige der wertvollen Steine aus Indien nach Jerusalem zu bringen.
Die nächsten Tage vergingen in Untätigkeit. Die drei Papiermacher bekamen genug zu essen, auch wenn sich Li wohl nie daran gewöhnen konnte, dass sie mit den anderen Frauen im Kreis saß und sich alle mit den Händen von den hauptsächlich aus Couscous bestehenden Mahlzeiten nahmen. Die Kunst, mit Stäbchen zu essen, war westlich von Xi Xia nicht bekannt, und Li versuchte stets, den Rat ihres Vaters zu befolgen, dass sie sich den Grad der Unreinheit besser nicht vorstellen sollte. »Sei gewiss, dass du deinem Körper mehr schadest, wenn du gar nichts isst, als wenn du auf die Art der Barbaren die Mahlzeit nimmst«, hallten Meister Wangs Worte in ihrem Inneren wider.
Das hatte für das ungeheuer fette Essen der Uiguren ebenso gegolten wie für die Gerichte, die man unter Persern oder Arabern bevorzugte.
Da auch die Frauen aus dem Haushalt von Abu Khalil mit ihnen aßen, wurde viel Arabisch gesprochen. Jarmila und Fadia beherrschten die Sprache des Propheten, wenngleich Li das Gefühl hatte, dass sich einige der anderen Frauen manchmal etwas über die Aussprache der beiden lustig machten. Alya hingegen redete, als hätte sie nie irgendwo anders gelebt. Sie brachte auch die tief im Hals gefühlten Reibelaute, die dieser Sprache ihren besonderen Charakter gaben, auf völlig natürliche Weise über die Lippen, und Li fragte sich, ob es nicht für ihr Kind sehr verwirrend sein musste, die Mutter mal in der einen, mal in der anderen Zunge reden zu hören.
Aber vielleicht lernte es ja von Anfang an beide Sprachen und nahm nicht einmal bewusst den Unterschied wahr, wenn es später anfing, selbst zu sprechen.
Li hielt sich zurück. Sie wusste noch nicht, welche der Frauen sich mit welcher anderen wie gut verstand oder womöglich eine geheime Feindschaft pflegte. Wie schnell es sonst zu einer äußerst prekären Situation kommen konnte, hatte ihr Fadias Angriff an jenem Morgen in Bagdad in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Ihr Körper war über und über mit blauen Flecken übersät gewesen, die bei jedem Kamelschritt schmerzten. Und erst als sie fast die Hälfte der Strecke von Bagdad nach Jerusalem hinter sich gebracht hatten, waren das Schwindelgefühl und das Dröhnen im Kopf schwächer geworden.
Was den Geruch von Kameldung anging, hatte Fadia Recht behalten. Er war wirklich kaum abzuwaschen – weder vom Körper noch aus den Kleidern. Manchmal glaubte sie jetzt noch, danach zu riechen, aber ihr Vater hatte ihr versichert, dies sei Einbildung und allein dem tiefen Schrecken geschuldet, den der Angriff ihr verursacht hatte. Manchmal erwachte sie auch mitten in der Nacht und glaubte, keine Luft zu bekommen, dann dauerte es ein paar Augenblicke, ehe sie begriff, dass alles in Ordnung und sie nur dem Entsetzen eines Alptraums erlegen war.
Immerhin hatte Firuz sie seit Bagdad in Ruhe gelassen und nicht noch einmal versucht, sich ihr zu nähern. Ob wirklich der Gestank von Kameldung dafür ausschlaggebend war, bezweifelte Li jedoch. Eher glaubte sie, dass es mit einer lautstarken Unterhaltung zusammenhing, die Fadia und Firuz wohlweislich auf Arabisch geführt hatten, sodass Li nur Bruchstücke davon mitbekam.
Fadia hatte Li daraufhin keines Blickes mehr gewürdigt und auch kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Wenn es etwas mitzuteilen gab, sagte Fadia es Jarmila und die wiederum Li.
»Warum bist du so schweigsam?«, wandte sich während der Mahlzeit eine Frau an Li, von der sie inzwischen mitbekommen hatte, dass sie Aischa hieß und die Frau von Abu Khalis ältestem Sohn war. Vor ihr schien sogar Fadia Respekt zu haben. Aischa sprach überwiegend Arabisch, war aber auch des Persischen mächtig. »Verachtest du uns? Oder weshalb sprichst du nicht?«, fügte Aischa hinzu. Es war Li aufgefallen, wie intensiv Aischa sie beobachtete – selbst dann, wenn sie vorgeblich dem Gerede der anderen lauschte.
»Ich verachte niemanden«, sagte Li. »Aber ich spreche nur wenige Worte in der Sprache des Propheten und verstehe vieles nicht, über das geredet wird. Deswegen wage ich es nicht, etwas zu sagen.«
»Wie heißt das Land, aus dem du kommst?«
»Es nennt sich Xi Xia und gehörte früher zum Reich der Mitte.«
»Ich glaube nicht, dass hier je ein Mensch von diesem Land gehört hat.«
»Das glaube ich auch nicht.«
»Glaubst du an Allah?«
»Ich glaube, dass der Koran viel Weisheit enthält.«
»Ich möchte wissen, ob du eine gläubige Muslimin geworden bist und die Wahrheit von Mohammeds Wort erkannt hast!« Ihr Tonfall war streng, und Li sah ein, dass es keinen Sinn hatte, ihr eine ausweichende Antwort zu geben.
»Ich bin noch keine Anhängerin der Lehre des Propheten geworden«, sagte Li.
»Müsste sie dann nicht einen blauen Gürtel tragen?«, fragte eine der anderen Frauen.
»Nur wenn sie Christin ist«, gab Aischa zurück. »So sind die Vorschriften: gelbe Gürtel für Juden und blaue Gürtel für Christen – damit man sie erkennt und sich von ihnen fernhalten kann, damit sie die Gläubigen nicht von ihrem Weg abbringen!«
»Ich habe gehört, dass sie in Zukunft auch Glöckchen tragen sollen, damit man hört, wenn sie sich nähern«, meinte die andere Frau. Sie war noch jünger, sprach Persisch, und Li fragte sich, welchem der Männer im Haus sie gehörte. Das hellblaue Kopftuch war auffällig an ihr, weil eine Stickerei aus golden schimmernden Fäden seine Ränder zierte.
»Ich glaube, das trifft auf sie wohl kaum zu«, sagte jetzt Fadia mit einem eisigen Unterton. »Sie ist sicher eine Götzendienerin, wie es in ihrer Heimat üblich ist – und wir sollten uns alle nicht wundern, wenn der Fluch, der auf ihr liegt, einen bösen Dschinn geweckt hat …«
Li blickte verwirrt drein, denn sie wusste nicht, wie sie auf Fadias Worte reagieren sollte. Dass der Glaube an Dschinne weit verbreitet war, war ihr geläufig. Diese Dämonenwesen konnten jedwede Gestalt annehmen und mieden normalerweise die Menschen. Es gab ungläubige und gläubige Dschinne, und sie konnten sehr böse werden, wenn sie von Menschen gestört wurden.
Manchmal nahmen sie die Gestalt eines Menschen an, um Übles zu bewirken.
»Dann sollte sich die Dschinn-Frau gut überlegen, ob sie nicht den Schutz des Glaubens benötigt«, meldete sich nun Alya zu Wort und wiegte dabei ihr Kind. »Ist doch wohl nicht so schwer, die Wahrheit zu erkennen!«
Gaos Zustand hatte sich gebessert, seit sie aus Bagdad aufgebrochen waren. Der Extrakt aus der Mohnpflanze war sehr hilfreich gewesen, und Gao hatte ihn während der Reise noch des Öfteren zu sich genommen.
Ganz verschwunden war der Husten aber nicht, und manchmal schnappte Gao verzweifelt nach Luft und spuckte Blut. »Die Krankheit, die mich befallen hat, ist nicht zu heilen«, sagte er. »Da sei ein Geschwür tief in meiner Brust, das immer wieder blutet und nicht heilen wird … Zumindest hat das der Arzt in Bagdad gesagt. Aber man kann die Schmerzen und den Husten lindern.«
»Vielleicht haben andere Ärzte dazu eine andere Meinung«, sagte Li.
»Und du glaubst, dass Firuz für den Rat dieser Ärzte bezahlen würde, deren Können vielleicht zweifelhaft ist?«, gab Gao zurück. »Der Arzt in Bagdad hat es deutlich erklärt: Man müsste große Stücke aus meinem Hals und aus meiner Brust herausschneiden – doch so eine Operation sei nicht möglich ohne den Tod des Patienten. Also bleibt mir nichts anderes, als zu hoffen, dass ein Wunder geschieht oder mir die Gnade Allahs einen leichten Tod schenkt!«
»Es hat dir kein Glück gebracht, dass du diesen Glauben angenommen hast«, sagte Li.
»Wer weiß, wie viel Unglück mir sonst widerfahren wäre!«, erwiderte er. »Immerhin ist hier das Klima warm und trocken – und genau das ist gut für mich.«
Firuz und Abu Khalil sprachen offenbar mit vielen einflussreichen Persönlichkeiten in der Stadt. Vor allem mit solchen, die gewillt waren, sich an der Herstellung oder dem Verkauf des Papiers, wie Firuz es plante, zu beteiligen.
Inzwischen wurde damit begonnen, eines der Nebengebäude zu einer Werkstatt umzubauen. Meister Wang hatte genaue Vorstellungen davon, was dafür notwendig war, und Abu Khalil stellte mehrere seiner Sklaven dafür ab, ihm zu helfen. Gao und Li unterstützten ihn ebenfalls.
Oft gingen sie stundenlang durch die Gassen der Stadt, um alles Nötige einzukaufen. Meistens begleitete sie ein männlicher Verwandter von Firuz, etwa sein Bruder Jamal, der sich darüber allerdings wenig begeistert zeigte.
Wo immer es Lumpen zu kaufen gab, wurden diese bereits gehortet, denn Li und ihr Vater stimmten darin überein, dass dieser Punkt für das ganze Vorhaben entscheidend war. »Ohne genügend Lumpen können wir nicht so viel Papier herstellen, wie wir brauchen«, stellte Meister Wang fest. »Vor allem sollten wir auch nicht jeden Stofffetzen nehmen, denn das geht am Ende zu Lasten der Qualität.«
Schwierig war es auch, einen Schmied zu finden, der in ausreichendem Maß die Kunst des Drahtziehens beherrschte – ohne Draht gab es keine Wasserzeichen.
Sie fanden schließlich einen gesegneten Mann. Er wurde überall nur der Syrer genannt und trug einen blauen Christengürtel.
Jamal war zwar der Ansicht, dass man es zuerst mit einem gläubigen Muslim versuchen könnte, denn es gebe doch mehr als genug Schmiede in Jerusalem, aber dann brachte ihn Meister Wang durch seine ruhige und beharrliche Art sogar dazu, bei der Übersetzung zu helfen. Obwohl Li sich immer besser in der Sprache des Propheten ausdrücken konnte, war es in diesem Fall wichtig, dass der Schmied wirklich alles genau verstand.
Der Draht, den er einige Tage später lieferte, war jedenfalls von einer außergewöhnlich guten Qualität. Er ließ sich so leicht verbiegen, wie Li es nie zuvor erlebt hatte.
»Vielleicht liegt es an dem besonderen Mischungsverhältnis seiner Legierung«, meinte Li. »Wir sollten ihn danach fragen!«
»Er wird sicher nicht so ein Narr sein, uns solche Geheimnisse zu verraten«, meinte Meister Wang.
In Abu Khalils Haus hatte sich ein Mann mit seinem Gefolge einquartiert, der Li im ersten Moment an Thorkild Eisenbringer erinnerte, vor allem wegen der Form seines Helms. Als sie ihn das erste Mal im Innenhof der Herberge sah, zuckte sie regelrecht zusammen.
Der Fremde schien ebenso überrascht darüber zu sein, welche Wirkung seine Erscheinung hatte, und stieß Worte in der Sprache der Nordmänner hervor, vermischt mit ein paar Wörtern, die unzweifelhaft Griechisch waren.
»Entschuldige, aber du kannst nichts für mein Erschrecken«, sagte sie auf Griechisch.
»Oh, eine bekannte Zunge in diesem Haus!«, sagte der Nordmann. »Das freut mich, denn außer dir versteht hier niemand eine menschliche Sprache, während ich nicht in der Zunge dieser Leute zu reden vermag!« Der Nordmann zuckte mit den Schultern. »Aber über den Preis, den meine Männer und ich hier zu entrichten haben, konnten wir uns trotzdem einigen!«, fügte er hinzu.
»Wer bist du?«
»Man nennt mich Ragnar Rothaar Einarson oder auch einfach Ragnar den Weitgereisten.«
»Bist du ein Pilger?«
Der Nordmann lachte und setzte den Helm ab. Sein Haar war so grau wie seine Augen. Über die Stirn zog sich eine Narbe vom Haaransatz bis zur Nasenwurzel, die vermutlich von einem Schwertstreich stammte. »Ich bin ein Pilger des Mammon!«, meinte er. »Mögen andere die Grabeskirche besuchen, wo angeblich das Kreuz Jesu Christi stand – ich bin einiger Geschäfte wegen hier in Jerusalem.«
»Du kommst aus Konstantinopel?«
»Nein – nicht jetzt.«
»Aber du hast dort in der Warägergarde des Kaisers gedient.«
Die Augen von Ragnar dem Weitgereisten wurden schmal. Die Männer, die bei ihm waren, machten Bemerkungen in der Sprache der Nordmänner, die sicher alles andere als respektvoll waren. Ihrem Gelächter zufolge war es wohl besser, dass Li sie nicht verstand.
Ragnar antwortete ihnen, woraufhin sie ins Haus gingen.
Dann kam der Waräger näher.
Er trug ein gerades Schwert am Gürtel, um dessen Griff sich jetzt seine mächtige, prankenartige Hand legte. »Es gibt im Fernen Osten Menschen mit allerlei seltsamen Fähigkeiten, sagt man. Darunter viele Hellseher und Magier. Bist du auch eine Hellseherin, oder woher weißt du so viel über mich?«
»Ich weiß gar nichts über dich, sondern denke mir nur eines zum anderen. Du bist ein hellhäutiger Mann mit blauen Augen, der einen Helm trägt, wie ihn die Nordmänner bevorzugen – und sprichst Griechisch. Wo solltest du das wohl gelernt haben außer in Konstantinopel?«
»Für eine Frau hast du einen ziemlich scharfen Verstand«, gestand er zu. »Schade, dass du kein Mann bist, dann würde ich dich für meine Mannschaft anwerben!« Er maß sie auf eine so unverschämte Weise, wie das offenbar bei den Nordmännern gang und gäbe war, und fügte dann hinzu: »Für eine Frau hast du nur leider zu kleine Augen! Das mag ich nicht!«
Mit diesen Worten wandte er sich um und folgte den anderen Männern, mit denen er gekommen war.
Li bemerkte in diesem Augenblick, dass Jarmila ihr Zusammentreffen mit Ragnar dem Weitgereisten beobachtet hatte. Sie stand im zweiten Stock des Hauptgebäudes an einem der hohen Fenster, halb hinter einem Vorhang verborgen, der jetzt durch den aufkommenden Wind leicht bewegt wurde. Als Li hinaufschaute, verschwand sie.
An einem der nächsten Tage war Li zusammen mit Gao in den engen Gassen unterwegs, um etwas Haschisch zu kaufen. Die Münzen dafür hatte Li zusammengespart, indem sie mit einigen Lumpenhändlern gut verhandelte. Die Tatsache, dass sie kaum Arabisch sprach, war dabei vielleicht sogar hilfreich gewesen. Schließlich verstand sie das meiste gar nicht, was die Händler sagten, und so war sie auch vollkommen unempfindlich gegenüber ihrer beredten Verhandlungstaktik.
Jamal war das schnell aufgefallen. Er hatte Li anfangs bei solchen Anlässen begleitet, aber offenkundig nie besonders viel Lust dazu gehabt. »Du kannst das am besten. Wenn ich daneben stehe, glauben sie dir die stumme, sprachlose Frau nicht, also geh in Zukunft besser allein. Du musst nur mit Firuz genau abrechnen, wie viele Münzen du ausgegeben hast!« Und als er Lis überraschten Blick sah, fügte er hinzu: »Es gab schon Sklaven, die für Kalifen als Wesire dienten und ganze Länder in ihrem Auftrag regierten, da wirst du ja wohl ein paar Münzen für deinen Herrn ausgeben können. Es sei denn, du hast vor, mit diesen wertvollen Lumpen durchzubrennen!«
Und so ließ er sie von nun an allein in die Altstadt von Jerusalem gehen, wenn etwas zu besorgen war.
Haschisch boten zahlreiche Händler an. Bei manchen konnte man sogar zusehen, wie sie diese Arznei herstellten, wie sie den Harz der weiblichen Hanfpflanze herauspressten und ihn in eine Form brachten, die gut einzunehmen war. Man konnte das Haschisch mit Getreide verbacken oder es in Flüssigkeit auflösen und trinken. Oder man verbrannte es mit Weihrauch und atmete es ein, aber da Gao ohnehin Schwierigkeiten mit der Atmung hatte und Weihrauch zudem sehr viel teurer war, kam dies nicht in Frage. Es gab Geschichten über Karawanenführer, die das Haschisch in reiner Form den Kamelen in die Nasenlöcher steckten, um sie bei einem aufziehenden Sandsturm zu beruhigen.
Schließlich fanden sie in einer Gasse nahe der Grabeskirche einen Händler, mit dem sie sich einig wurden.
In der Menge fiel Li eine Gruppe von christlichen Mönchen auf, die singend in Richtung der Grabeskirche gingen.
Für einen Moment glaubte Li unter den bärtigen Mönchsgesichtern jenes von Bruder Anastasius wiederzuerkennen. Sie wollte ihm folgen, um sich zu vergewissern, doch das Gedränge in der engen Gasse war zu groß. Eine Gruppe Männer und Frauen, die untereinander irgendeine Abart des Lateinischen sprachen, feilschten mit Hilfe von Händen und Füßen mit einem Händler, der allerlei angeblich heilige Fundstücke zum Verkauf anbot. Nägel, mit denen Jesus ans Kreuz geschlagen worden war, und Splitter aus den Kreuzesbalken, die man ganz in der Nähe gefunden hatte, auf dem Hügel Golgatha. »Also genau dort, wo jetzt die Kirche steht!«, sagte der Händler in einem Latein, bei dem sogar Li merkte, dass es falsch sein musste. Aber der Händler wurde von den Pilgern anscheinend gut verstanden, denn die griffen bereitwillig zu den Silbermünzen in ihren Börsen.
»Komm, Li, lass uns gehen!«, forderte Gao.
»Da war Bruder Anastasius!«
»Ach Li! Das war nur einer unter vielen Männern mit langen Bärten! Die sehen doch alle gleich aus. Du wirst dich vertan haben!«
»Das glaube ich nicht, Gao, sie sind sicher zur Grabeskirche gegangen. Vielleicht …« Noch einmal ließ sie suchend den Blick schweifen und stellte sich dabei auf die Zehenspitzen, aber von den singenden Mönchen war nichts mehr zu sehen. Ihre Gesänge vermischten sich mit dem Stimmengewirr und dem Lärm der Gasse und waren schließlich nicht mehr zu hören.
Li seufzte und sah Gao an. »Vielleicht nützt es etwas, wenn du dort betest, wo Jesus gekreuzigt wurde. Der Glaube an Mohammed hat dir nicht geholfen – genauso wenig wie die Medizin der Ärzte oder die Geister unserer Ahnen. Vielleicht ist dieser Glaube stärker!«
Aber Gao schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde auf keinen Fall mit dir gehen«, erklärte er.
»Wieso nicht?«
»Du weißt doch, dass ich inzwischen Muslim bin …«
»Na und?«
»Und du weißt auch, dass ein Muslim, der zum Christentum übertritt, damit ein todeswürdiges Verbrechen begeht!«
»Wer sagt denn, dass du gleich Christ wirst?«
»Ich will aber auch nicht, dass jemand denkt, dass ich das tun wollte.«
»Dann werde ich allein gehen!«, kündigte Li an.
Licht drang durch hohe Fenster und schimmerte aus den Nischen, in denen Kerzen brannten. Li hatte das Eingangsatrium der Grabeskirche durchschritten und erreichte nun die Basilika. Staunend ließ sie den Blick durch den großen, von Säulen erfüllten Raum schweifen. Im Seitenschiff waren einige Mönche ins Gebet vertieft. Aber keiner von ihnen ähnelte Bruder Anastasius. War sie am Ende doch ihrem Wunschdenken erlegen? Vielleicht hatte Gao in diesem Punkt Recht. Und wenn schon!, dachte sie trotzig. Wenn er glaubte, dass es ihm als Muslim nicht erlaubt war, hier zu beten, dann würde sie das eben für ihn tun. Es konnte nicht schaden, so viel übernatürlichen Beistand wie nur irgend möglich herbeizurufen – vor allem dann, wenn man sowieso in einer hoffnungslos erscheinenden Lage war. Genau das traf auf Gao zu. Er hatte nichts zu verlieren.
Sie durchschritt das Mittelschiff und beobachtete überall in den einzelnen Nischen Gruppen von Gläubigen oder Mönchen, die beteten. In den Nischen befanden sich tempelähnliche Aufbauten, die sie an steinerne Schreine erinnerten. Sie erreichte den Chor und gelangte in ein zweites, größeres Atrium, das von einem Säulengang umgeben war. Diesem folgte sie zu einem ebenfalls von Säulen gesäumten Rundgang, in dessen Mitte sich ein weiterer steinerner Aufbau fand. Sie sah einige Mönche davor beten und murmelte selbst ein paar Worte vor sich hin, wobei sie sich fragte, ob es nicht ziemlich vermessen war, von einem Gott Hilfe zu erwarten, zu dessen Glauben man sich gar nicht bekannte.
Möge unser Schicksal zum Guten gewendet werden!, dachte sie inbrünstig. Vor allem das von Gao, der nichts getan hat, um diese schreckliche Krankheit zu verdienen …
Li hörte Schritte, die sie aus ihrer kurzen Versenkung weckten. Sie wandte den Kopf und sah einen Mönch, der jetzt stehenblieb und ihren erstaunten Blick erwiderte.
Sie hatte sich nicht getäuscht, als sie glaubte, Bruder Anastasius im Gedränge der Straße zu erkennen.
Nun stand er da und starrte sie an, als wäre sie selbst eine überirdische Erscheinung. Er kam näher. Li bemerkte, dass er sich mit einer blau gefärbten Kordel umgürtet hatte, wie es offenbar in dieser Stadt für Christen üblich war.
»So führt uns der Herr wieder zusammen«, sagte Bruder Anastasius.
»Seid gegrüßt, Bruder Anastasius. Wart Ihr nicht eigentlich auf dem Weg nach Konstantinopel?«
»Gewiss – und das bin ich noch. Aber in Syrien herrscht Krieg. Nicht etwa zwischen Christen und Muslimen, sondern unter den Muslimen selbst. Außerdem wurde ich in Bagdad Opfer von Straßenräubern, die mich in einer engen Gasse überwältigt haben und ohne eine einzige Kupfermünze zurückließen.«
»Wie gedenkt Ihr, nach Konstantinopel zu gelangen?«, fragte Li.
»Mit einem Schiff. Ein normannischer Händler namens Ragnar der Weitgereiste weilt zurzeit hier in Jerusalem und folgt seinen verworrenen Geschäften. Er ist ein Veteran der Warägergarde und hat Verbindungen zu höchsten Würdenträgern. Man sagt, dass er dem Kaiser selbst bei irgendeiner Gelegenheit das Leben rettete.«
»Und er wird Euch mitnehmen, ohne etwas dafür zu verlangen?«
Bruder Anastasius schüttelte den Kopf. »Deine Frage klingt fast, als würdest du ihn kennen und um seinen ausgeprägten Geschäftssinn wissen. Er nimmt mich mit, weil er glaubt, dass es ihm Glück bringt, einen Mann Gottes an Bord zu haben. Inzwischen mache ich mich im Muristan nützlich und pflege Kranke …«
»Muristan – ein Irrenhaus?«, vergewisserte sich Li, die den persischen Ursprung dieses Wortes erkannte.
Bruder Anastasius lächelte nachsichtig. »Nein, es ist ein Spital für kranke Pilger und Fremde, die sich nicht mehr selbst helfen können.«
»Gibt es gute Ärzte dort?«
»Ja, die gibt es, ohne dass ich behaupten möchte, das letztlich beurteilen zu können. Warum willst du das wissen?«
Und so erzählte Li von Gao und ihrer Verzweiflung über seinen schlechten Gesundheitszustand. »Sollte es ihm eines Tages noch schlechter gehen – glaubt Ihr, dass man ihn dort aufnehmen und behandeln würde?«
»Gewiss.«
»Obwohl er Muslim ist?«
»Auch dann. Allerdings sollte er das Muristan im Moment meiden. Es grassiert gerade ein schlimmes Fieber in der Stadt, das besonders unter den Pilgern wütet. Das Muristan ist völlig überbelegt. Es gibt so viele Kranke und Siechende, dass man ihnen kaum allen helfen kann. Das ist im Übrigen auch der Grund dafür, dass ich dort eingesprungen bin und meine Zeit damit verbringe, Kranken beizustehen – abgesehen von meinen täglichen Gebeten, die ich nach Möglichkeit hier, am Grab Christi, verrichte.« Er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ich werde Gao in meine Gebete einschließen.«
»Habt Dank«, murmelte Li.
»Der Herr sei mit dir.«