Dreiundzwanzigstes Kapitel


Ein neuer Anfang

 

 

 

In den nächsten Wochen und Monaten trug Li die Silberdose stets bei sich, und manchmal, wenn ihr Gemüt schwer wurde und auch die viele Arbeit sie nicht abzulenken vermochte, nahm sie ein wenig von dem Zucker. Als die Dose leer war, suchte sie die Apotheke des Angelsachsen auf, um sie wieder auffüllen zu lassen.

Seinem Blick konnte Li ansehen, dass er die Silberdose wiedererkannte. Vielleicht war es Einbildung, aber sie hatte das Gefühl, dass der Wunsch, den er ihr mit auf den Weg gab, mit besonderer Herzlichkeit ausgesprochen wurde. »Der Herr sei mit Euch und behüte Euch!«

»Inzwischen bin ich mir nicht mehr ganz sicher, ob auf den Herrn wirklich Verlass ist«, erwiderte Li. »Aber das soll Euch nicht bekümmern.«

»So wie den Herrn Jesus das Leben aller Menschen bekümmert hat, so sollte es auch bei allen sein, die ihm nachzufolgen versuchen«, sagte der Mönch. »Das Mittel, das Ihr nehmt, scheint Eure Seele nicht so aufzuhellen, wie es nötig wäre, um die Herrlichkeit Gottes wieder erfassen zu können.«

»Das mag wohl sein«, gestand Li zu. Dann fiel ihr etwas ein. »Wie ist Euer Name?«

»Ich bin Bruder Æthenius.«

»Ihr sprecht doch die Sprache der Sachsen, nicht wahr?«

»Ich spreche die Sprache so, wie man sie in Britannien spricht, und kann einen Mann aus Alt-Sachsen verstehen. Ganz dasselbe ist es nicht.«

»Ich würde gerne von Euch in regelmäßigen Abständen in dieser Sprache unterrichtet werden. Immer ein paar Wörter und deren Gebrauch und stets nur dann, wenn es meine Zeit zulässt.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich ein guter Lehrer wäre!«

»Darauf kommt es nicht an«, sagte Li. »Aber Ihr würdet damit vielleicht helfen, meine Seele so aufzuhellen, dass sie wieder in der Lage ist, die Herrlichkeit des Herrn zu erfassen. Und Ihr sollt es nicht umsonst tun!«

»Ihr könnt etwas für den Unterhalt unseres Hospitals spenden. Ich selbst will kein Geld, denn ich habe mich schließlich zur Armut verpflichtet.«

»Einverstanden«, sagte Li, und ein versonnenes Lächeln ging ihr über das Gesicht. Ob sie sich wirklich einen Gefallen damit tat, die Sprache Arnulfs zu erlernen? Vielleicht vergrößerte es auch nur den Schmerz – wie es ganz sicher bei der Silberdose und ihrem Inhalt der Fall war. Aber anscheinend suchte sie diesen Schmerz, und es fiel ihr leichter, mit ihm zu leben als ohne ihn.

»Wartet noch«, rief Bruder Æthenius hinter ihr her, als sie die Apotheke schon fast verlassen hatte.

Sie blieb stehen und drehte sich um.

»Ihr wünscht?«

»Wie ist Euer Name?«

Um ein Haar hätte Li »Evangelia« gesagt, doch sie brachte diesen Namen aus irgendeinem Grund jetzt nicht über die Lippen. Die gute Nachricht – das erschien ihr im Moment wie blanker Hohn.

»Kennt Ihr einen Frauennamen, wie er bei den Sachsen üblich ist?«

»Ich kenne viele.«

»Einen, der die Silbe Li enthält – am Anfang, am Ende oder in der Mitte, das soll mir gleichgültig sein.«

»Wie wäre es mit Liutgert?«, fragte Bruder Æthenius.

Li begann zu lächeln. »Dann nennt mich Liutgert, Bruder Æthenius.«

Die Arbeiten an ihrer Werkstatt machten gute Fortschritte, sah man davon ab, dass entgegen Lorenzo D’Antonios Zusagen niemand kam, um die Wandmalereien zu übertünchen oder mit Teppichen zu verhängen, und es sich bei dem zur Verfügung gestellten Mobiliar zum Teil um Stücke handelte, die wurmstichig oder morsch und damit unbrauchbar waren.

Li fertigte Listen an, auf denen sie alles aufschrieb, was sie benötigte. Allerdings war manches davon nicht leicht zu beschaffen. Auch dauerte es Wochen, ehe sie einen Schmied fand, der über genügend Geschick in der Drahtzieherei verfügte. Eine Presse war vorerst nicht aufzutreiben. So etwas schien in Venedig wie im Umland vollkommen unbekannt zu sein. Dafür gab es in der Umgebung der Stadt ein Handwerk, von dem Li noch nie zuvor gehört hatte: die Glasbrennerei.

Li wurde zum ersten Mal auf das durchsichtige und gleichzeitig wasserdichte Material im Haupthaus der D’Antonios aufmerksam. Dort stand eine gläserne Vase mit frischen Blumen auf einer Fensterbank, und Li beobachtete, wie am Vormittag die Sonnenstrahlen hindurchfielen und das Gefäß zum Funkeln brachten. Außerdem gab es im Obergeschoss einen Raum, dessen Fenster mit Glas verschlossen war, sodass das Tageslicht ihn durchfluten konnte. Einer der D’Antonio-Söhne war anscheinend ein begabter Baumeister und nutzte diesen Raum, um seine Zeichnungen anzufertigen. Er hieß Michele und nahm selten an den gemeinsamen Mahlzeiten und Festessen teil. Li lernte ihn erst kennen, als sie bereits Wochen im Palazzo der D’Antonios lebte.

Es hätte wahrscheinlich noch weitere Wochen gedauert, ihn kennenzulernen, wenn Li nicht die Tür zu dem Gemach, das sie im Haupthaus bewohnte, mit der Tür zu Micheles Raum verwechselt hätte, was bei der großen Anzahl von Zimmern kaum verwunderte, die an den einander sehr ähnlichen Korridoren lagen.

Ihr Gespräch war eigenartig gewesen.

»Ihr seid die Papiermacherin, nicht wahr?«

»So ist es.«

»Wann fangt Ihr mit der Herstellung an?«

»Sobald alles fertig ist.«

»Ich brauche Euer Papier dringender als sonst jemand. Vor allem benötige ich Bogen in erheblicher Größe! Könnt Ihr so etwas?«

»Darin habe ich Erfahrung. Aber vielleicht könntet Ihr mir helfen.«

Die meiste Zeit über hatte Lis Blick dem Fenster gegolten. Aus diesem Material mussten sich vortreffliche Gefäße für all die Stoffe formen lassen, mit denen sie fertige Papiere bestreichen konnte, um ihre Oberfläche zu verbessern oder einfach nur zu verschönern. Sie sprach Michele darauf an und fragte ihn, wo es Handwerker gebe, die Gefäße aus Glas anfertigten.

Michele sah nun erstmalig von seiner Arbeit auf, einem Plan, den er mit Silberstift auf ein großes Pergament gezeichnet hatte und von dem Li sich nicht im Entferntesten vorzustellen vermochte, zu was für einem Bauwerk er gehören könnte.

»Das macht jeder Glasbrenner in der Gegend. Nehmt den preiswertesten«, sagte er. Er musterte sie einen Moment lang. »Ist noch irgendetwas?«

»Ich frage mich, an welchem Bauwerk Ihr arbeitet!«

»Es ist ein Teil des Doms von San Marco.« Er seufzte. »Daran wird allerdings schon so lange gearbeitet, dass es nicht der erste Plan wäre, der unverwirklicht bleibt, weil sich die Vorstellungen über die Erhabenheit und Schönheit eines Doms schneller zu ändern scheinen, als man diese Bauwerke errichten kann!« Er machte eine Pause, und Li spürte, dass er etwas hinzufügen wollte, aber noch zögerte, es wirklich auszusprechen. »Ihr solltet Euch vor meinem Bruder in Acht nehmen«, sagte er.

»Was meint Ihr damit?«

»Ich will es so ausdrücken: Er kann ziemlich unangenehm werden, wenn er nicht bekommt, was er haben will.«

Mit der Zeit gewöhnte sich Li an die Mundart der Venezianer und begann, sich die Besonderheiten ihrer Aussprache selbst zu eigen zu machen. Christos fiel es schwerer, auf Venezianisch zu sprechen. Wenn er zusammen mit Li in der inzwischen funktionsfähigen Werkstatt arbeitete, bevorzugte er nach wie vor das Griechische, obwohl Li ihn immer wieder dazu zu bewegen versuchte, die Sprache der Stadt zu benutzen, in der sie lebten und arbeiteten. Doch dazu ließ er sich meist nur für kurze Zeit drängen, dann verfiel er erneut in die Sprache seiner Heimat.

Schon eine ganze Weile hatten Li und Christos, die Herstellung von Papier aufgenommen, aber bisher war es eine überschaubare Anzahl von Blättern geblieben, die sie an den Leinen zum Trocknen aufhängen konnten.

»Der Engpass liegt bei den Lumpen!«, meinte Christos, und er hatte damit durchaus Recht. »Wir haben einfach zu wenig Lumpen!«

»Es ist nicht so leicht, hier in Venedig abgetragene Kleider zu bekommen«, stellte Li fest. »Und wenn man welche findet, sind sie auch noch viel teurer als in Konstantinopel.«

»Vielleicht sind die Menschen hier weniger eitel und behalten ihre Kleidung so lange, bis sie ihnen vom Leibe fällt«, vermutete Christos. Li schüttelte den Kopf, und als ihr klar wurde, dass Christos ihre Geste ja nicht hatte sehen können, sagte sie: »Nein, das glaube ich nicht.«

»Und was ist Eurer Meinung nach der Grund?«

»Die Stadt ist viel kleiner als Konstantinopel. Hier gibt es weniger Menschen, die es sich leisten können, ihre Kleidung öfter mal neu zu kaufen.«

Die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten auf dem Festland schien in dieser Frage ohnehin etwas anders eingestellt zu sein als die Menschen in der Stadt. Das war ihr schon aufgefallen, als sie sich zusammen mit einem Wächter der D’Antonios in einer Gondel ans Festland hatte bringen lassen, wo zwei Pferde für einen Erkundigungsritt für sie bereitstanden.

Viele Bauern sahen aus, als hätten sie ihre Kleider bereits von der vorangegangenen Generation geerbt.

»Lorenzo sagt, dass man Lumpen auch von anderswo her über den Hafen beziehen kann!«, sagte sie. »Er würde da jemanden kennen …«

»Was ist eigentlich mit dem Kontrakt, den er Euch versprochen hat und in dem alles, was es zwischen Euch zu regeln gibt, genau aufgeschrieben ist?«, erkundigte sich Christos.

Li seufzte schwer. »Diesen Kontrakt gibt es noch nicht«, stellte sie fest, und dabei fiel ein Schatten auf ihr Gesicht. Das war einer von mehreren Punkten, die ihr nicht gefielen, was ihre Arbeit hier in Venedig betraf – und insbesondere das Verhältnis zu ihrem Geschäftspartner Lorenzo D’Antonio. Immer wieder hatte sie ihn darauf angesprochen. Mal war er angeblich verhindert, obwohl er dann später beim Festmahl der D’Antonio-Familie auftauchte, um sich den Bauch vollzuschlagen, mal war der Text des Kontrakts angeblich fertig, und Lorenzo ließ ihn von einem Bekannten daraufhin prüfen, ob irgendein Passus gegen die in der Republik Venedig geltenden Bestimmungen verstieß.

»Er hält Euch hin«, lautete Christos Ansicht dazu. »Ich glaube nicht, dass es je einen Kontrakt geben wird.«

Mehrfach stellte Li Proben ihres Könnens her, die Lorenzo Kaufleuten aus der Stadt zeigte, damit sie sich an den Kosten des Geschäfts beteiligen sollten. Darunter war ein gelbliches Papier mit einem besonders kunstvollen Wasserzeichen, das sie außerdem noch lackiert hatte.

Als Lorenzo dieses Blatt sah, runzelte er die Stirn. »Das sieht aus wie …«

»Safran«, sagte Li. »Ich bin überzeugt, dass Ihr damit auf Eure Handelspartner Eindruck machen werdet!«

Am Abend klopfte es an der Tür ihres Gemachs, das Li immer noch im Haupthaus des Palazzo D’Antonio bewohnte. Es ging schon auf Mitternacht zu. Eine Kerze in einem Glasgefäß erhellte den Raum, denn das Glas vervielfältigte nicht nur Sonnenstrahlen, sondern auch Kerzenschein. Das Licht flackerte, als die Tür sich öffnete, ohne dass Li jemanden hereingebeten hätte. Oft arbeitete sie bis zu dieser späten Stunde. Nun hatte sie gerade den Knoten gelöst, zu dem sie ihre Haare meist zusammenfasste. Sie fielen ihr lang über die Schultern und schimmerten leicht.

In der Tür stand niemand anderer als Lorenzo. Er trat näher.

»So spät noch wach?«

»Es ist viel zu tun.«

»Ich habe Euch vom ersten Moment an nicht nur als Handwerkerin, sondern auch als Frau bewundert«, gestand er. »Allerdings war unverkennbar, dass Euer Herz diesem Sachsen gehörte.«

»Und das tut es immer noch.«

»Er hat Euch sicher längst vergessen!«

»Ich werde ihn jedenfalls nicht vergessen, ganz gleich, was geschieht …«

»Das werden wir sehen!«, meinte er und kam noch einen Schritt näher. »Ihr solltet mir nicht länger aus dem Weg gehen.«

Er berührte ihren Arm, sie wollte ihn zurückziehen, aber Lorenzo fasste mit einem schnellen, festen Griff zu und zog sie zu sich heran.

»Ist Euch nicht bewusst, dass Eure ganze Existenz von meinem Wohlwollen abhängt? Wenn ich heute entscheide, dass ich mir nichts mehr aus Papier mache, dann würde mein Vater das hinnehmen, ohne mit der Wimper zu zucken, und sagen: Wieder mal etwas, was mein Sohn angefangen und nicht zu Ende gebracht hat! Aber Ihr würdet viel mehr verlieren …«

Li entwand sich seinem Griff und stieß ihn von sich. »Ich bin nicht eine von den Frauen, die Euer Vorfahr Ludovico D’Antonio einst in dem Haus einquartierte, in dem jetzt die Werkstatt ist, bis der Rat ihm einen Strich durch sein Geschäft machte, weil er verfügte, dass alle Huren Venedigs nur noch in bestimmten Straßen ihr Gewerbe betreiben dürfen!«

Lorenzo erstarrte.

»Woher kennt Ihr diese Geschichte?«

»Ich höre einfach nur gut zu, wenn bei den Festmahlen schon viel Wein getrunken worden ist. Ich lasse mich nicht mehr kaufen oder verkaufen. Und wenn Ihr glaubt, dass ich mehr verlieren kann als Ihr, dann täuscht Ihr Euch gewaltig! Und nun hinaus!«

Lorenzo war es offenbar nicht gewohnt, dass ihm jemand die Erfüllung seines Willens verweigerte. Sein Bruder hatte ihn anscheinend treffend charakterisiert. Eine tiefe Furche erschien auf der glatten Stirn, und sein Gesicht wurde dunkelrot.

»Lorenzo!«, rief jemand. Es war Micheles Stimme. »Lorenzo, wo bist du? Unser Vater sucht dich! Es gibt Schwierigkeiten!«

»Wir sprechen noch darüber!«, knurrte Lorenzo.

»So wie über den Kontrakt, den Ihr mir versprochen und nie gegeben habt?«

»Lorenzo!«, kam es noch ungeduldiger von draußen.

Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging hinaus auf den Flur.

Sie sprachen nie wieder darüber. Weder über den Kontrakt noch über die Zurückweisung. Aber Li wusste sehr wohl, dass das eine mit dem anderen zu tun hatte.

Es wurde ein heißer Sommer, und Li wohnte nun in einem Raum, der zum Werkstattgebäude gehörte. Inzwischen hatte ein Handwerker in einem Dorf an der Küste eine Presse konstruiert, die sich für die Herstellung von Papier eignete. Auch wurden jetzt genug Lumpen angeliefert. Lorenzo ließ ein Heer von Lumpensammlern durch die umliegenden Städte und Dörfer ziehen, denn was auf den venezianischen Märkten zu finden war, konnte ihren Bedarf bei Weitem nicht decken. Außerdem kaufte Lorenzo von befreundeten Händlern immer wieder Lumpen, die per Schiff kamen. Ein halbes Dutzend Tagelöhner verdingten sich damit, von morgens bis abends zerschlissene Gewebe zu zerstampfen, und Li erinnerte sich ihres alten Plans, auch aus Hanf Papier zu machen.

Entsprechendes Saatgut zu besorgen war in Venedig nicht schwer. So baute Li neben dem Werkstattgebäude auf einer kleinen Fläche Hanf an und hoffte, doch einen Weg zu finden, wie sie die Pflanze für ihr Handwerk nutzen konnte.

»Habt Ihr bemerkt, dass die Wächter im Palazzo verdoppelt wurden?«, fragte Christos, als sie noch spätabends in der Werkstatt saßen und Li ein aufwändiges Wasserzeichen unbedingt fertigbekommen wollte.

Li blickte auf. »Nein«, gestand sie. »Darauf habe ich nicht geachtet. Aber mir ist etwas anderes aufgefallen. Nicola D’Antonio spricht in letzter Zeit oft und ernst mit seinem jüngeren Sohn – und zwar so, dass niemand sonst es hören kann. Allerdings fuchtelt er derart mit den Armen in der Luft herum, dass man auch aus hundert Schritt Entfernung erkennt, wie hitzig und unfreundlich es bei dem Gespräch zwischen Vater und Sohn zugeht. Und manchmal ist sogar dieser Guiseppe dabei, Nicolas älterer Bruder, der ebenfalls auf Lorenzo einredet.«

»Könnte es sein, dass die Geschäfte der D’Antonios nicht so gut gehen, wie es erst den Anschein hatte?«

»Nein, das glaube ich nicht.« Dann ging ein Ruck durch Li, und sie runzelte die Stirn. »Woher weißt du denn, dass die Wachen verdoppelt wurden? Gesehen hast du sie ja wohl nicht!«

»Ich bin blind – aber nicht taub. Ich hörte, wie einer der Wächter darüber sprach, dass sie in Zukunft doppelt so viele Männer brauchen und dass ein paar kräftige Kerle angeworben werden sollen, die Waffen tragen können! Mehr habe ich leider nicht verstanden!«

»Immerhin – und dabei hast du dich doch mit Händen und Füßen gewehrt, um ja kein Wort dieser hässlichen venezianischen Sprache lernen zu müssen!«

Christos zuckte die Schultern. »Man hört ja hier kaum etwas anderes, da lässt es sich nicht verhindern, dass mal ein Wort hängen bleibt …«

In der Nacht hörte Li einen Knall. Sie war auf ihrem Platz in der Werkstatt eingeschlafen, während sie die Vorzeichnung für ein Wasserzeichen angefertigt hatte. Da schlug etwas Leuchtendes durch das zur Lagune hin ausgerichtete Fenster und blieb in der gegenüberliegenden Wand stecken. Es war der Bolzen einer Armbrust. Draußen schallten Stimmen. Kampfeslärm und Schreie mischten sich.

Li war sofort hellwach. Sie schnellte hoch. Jemand trat die Tür auf. Eine Fackel wurde hereingeworfen. Die Papierstapel fingen augenblicklich Feuer, ebenso die verschiedenen Harzsorten und die trockenen Lumpen. Einen Lidschlag später loderte eine der Alabasterblenden auf.

Für Momente sah Li einen Mann, der ein Tuch um den Kopf geschlungen hatte, sodass nur die Augen frei blieben. Dann war er verschwunden.

Li erfasste mit Schrecken, dass es keinen Sinn hatte, noch löschen zu wollen. Sie hustete, konnte durch den Rauch kaum atmen. Taumelnd versuchte sie, zur Tür zu gelangen. Sie rang nach Luft. Alles drehte sich vor ihren Augen, als sie endlich das Freie erreichte. Es war immer noch so heiß, dass sie glaubte, gleich verglühen zu müssen. Sie sank zu Boden, während dicke Rauchschwaden eine dunkle Säule bildeten, die schräg zum Himmel emporstieg und das Licht des Mondes verfinsterte.

Der Kampfeslärm ebbte ab. Undeutlich sah Li mehrere Männer davonrennen. An Seilen kletterten sie über die Umgrenzungsmauer des Palazzo.

»Sie haben Boote!«, rief jemand. »Sie fliehen mit ihren Booten!«

»Hinterher!«

»Das geht nicht! Jemand hat die Taue gelöst! Alle Gondeln sind fortgetrieben!«

Li hörte die heiseren Schreie wie aus weiter Ferne. Sie kroch über den Boden, um aus dem infernalischen Bannkreis von Hitze und Qualm herauszukommen.

Im sich mehr und mehr verfinsternden Mondlicht sah sie ein paar verrenkte Körper reglos am Boden liegen. Li richtete sich langsam auf. Das Haus, in dem die Werkstatt gewesen war, stand in hellen Flammen. Sie züngelten aus den Fenstern heraus und loderten bereits bis zum Dachstuhl empor.

Und dann sah Li im Schein der Flammen den unnatürlich verdreht daliegenden Körper eines Mannes, der einen Stock mit der Hand umklammert hielt, als müsste er ihm noch im Tode den Weg weisen.

»Christos!«, schrie Li. Sie rannte zu ihm. Er musste aus seiner Unterkunft bei den Dienstboten herausgelaufen sein, als der Überfall begann. Ein Armbrustbolzen in der Brust hatte ihn zu Boden gestreckt. »Nein!«, schrie Li. »Herr, warum lässt du das zu?«

Bis zum Morgengrauen saß Li neben dem Toten – starr und wie betäubt. Die Flammen tobten sich unterdessen an dem Haus mit der Werkstatt aus. Auf andere Gebäude konnte das Feuer nicht übergreifen, dazu standen sie zu weit entfernt. Nur die Schutzmauer des Palazzo war ein ganzes Stück weit rußgeschwärzt.

Lorenzo D’Antonio kam auf sie zu und blieb ein paar Schritte entfernt stehen. »Es ist vorbei«, sagte er. »Es wird keine Papierherstellung in Venedig geben – jedenfalls nicht durch die Familie D’Antonio.«

Li stand auf. Sie musste ein Zittern unterdrücken. »Was sagt Ihr da?«, flüsterte sie.

»Es gibt eine Familie, die Papier aus Alexandria einführt und ihren Handel ausweiten will. Sie hat vergeblich versucht, unsere Herstellung verbieten zu lassen, was misslang, weil mein Vater einige wichtige Männer bestochen hat. Wir dachten, dass damit alles ausgestanden wäre, aber wir haben uns geirrt.«

»Und niemand bringt diese Mörder vor Gericht!«, rief Li.

»Was für ein Gericht?«, fragte Lorenzo. »Wenn du vom Jüngsten Gericht sprichst, dann wird das sicher sein Urteil sprechen. Aber die Männer, die die Werkstatt angezündet und mehrere unserer Wächter getötet oder verletzt haben, sind auf und davon. Niemand wird ihrer habhaft werden, und niemand wird unseren Feinden beweisen können, dass sie die Frevler ausgesandt und bezahlt haben. Wir können im Moment nicht einmal von der Insel fort, weil die Boote irgendwo am anderen Ende der Lagune sind. Aber sicher wird bald jemand auf uns aufmerksam werden.«

»Unser Papier war begehrt!«, meinte Li. »Es verkaufte sich wie …«

»Mein Vater hat entschieden, dass wir nicht kämpfen. Unsere Feinde sind zu stark.«

»Und unser Kontrakt?«

»Welcher Kontrakt?«

»Ja, richtig …«, murmelte Li. Sie sank auf die Knie neben Christos’ Leiche. Jetzt war sie wieder dort, wo sie angefangen hatte. Ganz unten. Ihr blieb nur, was sie am Leib trug. Vielleicht konnte sie ihren Vorrat an Silbermünzen noch retten, sobald das Feuer vollständig erloschen war. Aber viel war das nicht – im Wesentlichen die Summe, die sie aus Konstantinopel mitgebracht hatte. Die Mittel aus Lorenzos Tasche waren in die Ausstattung der Werkstatt geflossen, und was die Beteiligung an den Gewinnen aus ihrer Arbeit anging, so hatte er sich stets um Zahlungen gedrückt.

Und es war letztlich, wie er gesagt hatte. Es gab keinen Kontrakt.

»Wenn wieder eine Gondel zur Verfügung steht, kannst du gehen«, sagte er. Er drehte sich um, entfernte sich einige Schritte und blieb dann noch einmal stehen. Halb wandte er sich zu ihr um und fügte hinzu: »Das Angebot, das ich dir vor einiger Zeit gemacht hatte, gilt übrigens nicht mehr!«