Einundzwanzigstes Kapitel
Papiere
Grausige Schreie hallten durch die Gewölbe tief unter dem Palast des göttlichen Kaisers aller Rhomäer. Schlimmer als in diesen Folterkellern ging es wohl auch in der Hölle nicht zu. Fünf Männer begleiteten Petros Makarios in diese Unterwelt. Zwei von ihnen hielten Fackeln, zwei weitere ruderten das Boot durch das dunkle Wasser, das die Gewölbe erfüllte. Ein großer Teil Konstantinopels war von solch gewaltigen Wasserspeichern unterhöhlt, die unterirdischen Seen glichen. Es war eine zweite Stadt in der Tiefe, getrennt von jener, die man an der Oberfläche sehen konnte, wie das Himmelreich von der Hölle und gestützt von einem ganzen Wald aus massiven Säulen. Neben den Mauern, der Eisenkette und dem griechischen Feuer war diese feuchte Unterwelt ein entscheidender Grund für die Uneinnehmbarkeit der Stadt. Die Regenmengen ganzer Jahre wurden hier gesammelt. Mittlere Flüsse hätte man über Monate mit diesem Wasser speisen können.
Es hatte von jeher eine große Furcht unter den Herren der Stadt gegeben. Ihr Alptraum war, dass ein Belagerer sie vom Wasser der großen Aquädukte abschneiden könnte, die Konstantinopel normalerweise versorgten. Und es wäre sicher auch nicht unmöglich gewesen, den schmalen Lykos ins Goldene Horn abzuleiten oder zu stauen, wenn man die Stadt vollkommen auf dem Trockenen sitzen lassen wollte. Gegen diese Gefahr schützten keine Söldner und keine Mauern – wohl aber ein ausreichender Vorrat an Wasser in den Speichern unter der Stadt.
Doch hier unten geschahen auch andere Dinge. Unaussprechliche Dinge, von denen kaum jemand Näheres zu wissen wünschte. Es gab Verliese, Gänge und Gewölbe – darin ruhten die Skelette jener, die man hier herabgeführt hatte, um sie für immer verschwinden zu lassen.
So mancher Kaiser mochte unter ihnen sein.
Wieder gellte ein unmenschlicher Schrei durch die schaurigen Hallen.
Das Boot legte an einer Kanzel aus massivem Stein an. Der fünfte Wächter sprang an Land und befestigte das Tau. Dann verließ auch Petros Makarios das Boot. Am Ende der Steinkanzel öffnete sich ein Korridor. Das unruhige Licht der Fackeln erhellte ihn spärlich.
Die Schreie wurden lauter. Schließlich erreichte der erste Logothet des Kaisers einen notdürftig beleuchteten Raum. Der Geruch von Lampenöl mischte sich mit dem von Schweiß und Blut. In mehrere Richtungen zweigten Gänge von diesem Raum ab, aus denen Schreie drangen. Aus einem dieser Gänge löste sich ein großer Schatten und trat hervor.
Es war Godmund, ein Hauptmann der Warägergarde. Sein Rock war blutbesudelt – und in den Händen hielt er eine Reihe von Papieren.
»Diese Papiere haben wir bei den bulgarischen Spionen gefunden, die wir gefangen genommen haben. Ich dachte, dass Ihr sie persönlich in Augenschein nehmen wollt …«
»Es ist gut, dass Ihr damit zuerst zu mir kommt, Godmund.«
Petros Makarios nahm eines der Blätter entgegen, faltete es auseinander und zog daraufhin die Stirn in Falten. Er hielt es gegen das Licht einer der Fackeln.
»Das dachte ich mir«, murmelte er, als er das Wasserzeichen sah.
»Und da ist noch etwas. Dieser Sachse und sein mönchischer Begleiter …«
»Sie müssen verschwinden, ich weiß«, murmelte Petros Makarios.
Li schreckte hoch. Mitten in der Nacht hämmerte es an der Tür. »Arnulf!«, flüsterte sie, aber dann stellte sie fest, dass das Lager neben ihr leer war.
Sie hörte, wie er die Treppe hinunterging, stand auf und warf sich schnell etwas über, bevor sie ihm folgte. Als sie die Tür des Vorraums erreichte, sah sie im Halbdunkel, wie Arnulf die Tür öffnete.
Eine Gestalt in einer Kutte drängte herein. In der Dunkelheit war wenig mehr als ein Schatten zu sehen. Aber die Stimme erkannte Li sofort. Es war die von Fra Branaguorno. Allerdings redete er in der Sprache der Sachsen, und so konnte Li kein Wort verstehen. Nur dass er entgegen seiner sonstigen Art ziemlich aufgebracht war, wurde überdeutlich.
»Was ist los?«, fragte Li und trat näher. »Warum dieser nächtliche Besuch?«
»Er sagt, dass wir fortmüssen«, erklärte Arnulf. »Und zwar jetzt, noch in dieser Stunde …«
»Aber … warum? Was ist geschehen?«
»Man hat bulgarische Spione festgenommen und bei ihnen verräterische Dokumente gefunden. Die Papiere trugen ein Wasserzeichen, das Ihr für den Hof erschaffen habt!«, sagte nun Fra Branaguorno an Li gewandt. »Diese Dokumente waren wohl dafür gedacht, kaiserliche Anordnungen zu fälschen und damit Unheil anzurichten – etwa die Tore zu öffnen.«
»Aber das kann doch nicht sein!«, stieß Li hervor. »Die Wasserzeichen befinden sich im Palast …«
»… wenn nicht gerade Ihr damit arbeitet«, schnitt Fra Branaguorno ihr das Wort ab. »Also zwei Personen, die normalerweise einen ungehinderten Zugang zu diesen Wasserzeichen und den Papieren haben, die damit gemacht wurden! Petros Makarios selbst und Ihr, Evangelia! Davon abgesehen hat man Botschaften sichergestellt, die nahelegen, dass Kaiser Otto sich insgeheim mit den Bulgaren verbündet hat und Arnulf ebenfalls ein Spion ist!«
»Aber das ist doch alles nicht wahr!«, stieß Li hervor.
»Es ist ein Komplott«, sagte Fra Branaguorno. »Und dahinter steckt vermutlich Thorkild Eisenbringer, der um jeden Preis verhindern will, dass wir nach Magdeburg zurückkehren. Seine Verbindungen scheinen weiter zu reichen, als ich es für möglich hielt …«
»Und jetzt sollen wir einfach davonlaufen?«, fragte Arnulf.
»Wir haben keine andere Wahl und können froh sein, wenn wir es noch schaffen.«
»Woher wisst Ihr das alles?«, wollte Li erfahren.
»Ein Bote hat mich aufgesucht. Petros Makarios hat ihn geschickt, und ich zweifle nicht im Geringsten an seinen Worten.«
»Aber warum sollte Petros Makarios uns warnen?«
»Weil er – falls es uns gelingt zu fliehen – möglicherweise nicht mehr selbst in die Sache hineingezogen wird, denn dann wird man den Verdacht vollends auf uns richten und unsere Flucht als Eingeständnis der Schuld werten. Wie gesagt, Petros Makarios hätte ebenfalls Zugang zum Wasserzeichen und zu den damit hergestellten Papieren gehabt …«
Arnulf drehte sich zu Li um. »Pack das Nötigste zusammen. Wir werden nicht viel mitnehmen können.«
»Und wo soll es hingehen?«, fragte Li.
»Zuerst ins Händlerquartier der Venezianer – und anschließend auf Lorenzo D’Antonios Schiff, die San Marco. Ob er allerdings bereit sein wird, auch Evangelia mitzunehmen, wird sich zeigen«, erwiderte der Mönch.
»Ich muss Euch etwas beichten, Fra Branaguorno«, erklärte Arnulf.
»Beichten?«, echote Fra Branaguorno leicht irritiert. Aber dann verstand er. »Ihr habt ihn bereits mit der Dame Eures Herzens bekannt gemacht? Nein, Ihr braucht mir nichts zu beichten, Arnulf … Ich kann mir denken, was geschehen ist.«
Arnulf und Li zogen sich vollständig an, dann überlegte Li fieberhaft, was sie mitnehmen sollte. Ein paar Kostproben ihrer Handwerkskunst durften auf keinen Fall fehlen. Sie nahm einige Blätter an sich. Es konnte nicht schaden, so etwas bei passender Gelegenheit parat zu haben. Das hatte Li mehr als einmal erfahren. Und natürlich das Schöpfsieb aus Rosshaar, das von ihrem Vater stammte.
Eigentlich hatte Li dieses Sieb kaum noch in Gebrauch, da es in ihrer Werkstatt weitaus bessere gab. Aber es war das Einzige, was ihr als Erinnerung an ihren Vater geblieben war.
Li schnürte rasch ein kleines Bündel zusammen. Sie hatte Lorenzo um Bedenkzeit gebeten, um sich zu entscheiden – und nun war ihr die Entscheidung abgenommen worden.
Fra Branaguorno bestand darauf, dass sie kein Licht machten. Wenig später traten sie ins Freie.
Zwei Pferde standen dort. Fra Branaguorno hatte sie besorgt, vielleicht mit Hilfe von Bruder Markus. Der Mönch stieg in den Sattel eines der Tiere, Arnulf nahm das andere und half Li dabei, sich hinter ihn in den Sattel zu setzen. Sie hielt sich an ihm fest. Ihr Bündel hatte sie mit einem Riemen auf dem Rücken befestigt und den Umhang eng um die Schultern gezogen.
»Wir müssen noch Christos mitnehmen!«, beharrte sie.
»Wer ist dieser Christos?«, fragte Fra Branaguorno.
»Ein blinder Tagelöhner, auf dessen Dienste ich nicht verzichten kann!«, sagte Li.
»Und wo finden wir ihn?«
»Er wohnt in einem der herrenlosen Häuser, wo so viele Arme unterkommen …«
»Du weißt nicht zufällig, um welches dieser Häuser es sich handelt?«, fragte Arnulf.
»Er wollte nie, dass ich es erfahre.«
»Ihr werdet diesen Christos hier zurücklassen müssen«, stellte Fra Branaguorno fest. Dann ließ er sein Pferd voranpreschen, und Arnulf folgte ihm. Fra Branaguorno sorgte dafür, dass sie sich überwiegend auf den Nebenstraßen bewegten. Einmal wichen sie einer Gruppe von Warägergardisten aus, die ihre nächtliche Patrouille durchführten.
Schließlich erreichten sie das venezianische Händlerquartier, das aus mehreren Gebäuden um einen Innenhof samt Kapelle bestand. Es lag direkt am Goldenen Horn und hatte einen eigenen kleinen Hafen, in dem mehrere Schiffe ankerten.
Das gusseiserne Tor, das zu diesem befestigten Quartier gehörte, war geschlossen. Die Venezianer ließen das Gelände auch bei Nacht bewachen.
»Öffnet!«, rief Fra Branaguorno. »Öffnet und lasst uns hinein! Und weckt Lorenzo D’Antonio aus seinem Schlaf! Es ist dringend!«, wandte sich Fra Branaguorno an einen der Wächter.
Der Bewaffnete erkannte Fra Branaguorno. »Ihr wart schon einmal hier, nicht wahr?«
»Wen sollen wir melden?«, fragte der andere Wächter.
»Ich weiß nur, dass ihr euch den größten Ärger mit Lorenzo D’Antonio und seiner Familie einhandelt, wenn ich jetzt und hier noch lange warten muss!«, schimpfte Fra Branaguorno.
Das Tor wurde geöffnet. Sie preschten voran, wobei Fra Branaguorno so ungestüm ritt, dass einer der Wächter zur Seite springen musste.
»He, was fällt Euch ein!«, rief er, während sich das Tor bereits hinter den Ankömmlingen schloss.
Sie kamen im scharfen Galopp bis vor das Haupthaus. Dort stieg Fra Branaguorno aus dem Sattel, ging schnellen Schrittes zur Tür und begann zu klopfen. »Öffnet, Lorenzo!«
Ein ziemlich verschlafener Diener öffnete ihm.
»Was wollt Ihr um diese Zeit?«
»Holt Lorenzo D’Antonio aus dem Bett! Sofort! Er wird es Euch danken!«
»Seid Ihr da auch sicher?«
»Nun zögert nicht! Es geht um Leben und Tod.«
Li und Arnulf waren inzwischen vom Pferd gestiegen. »Christos wird morgen Früh bei der Werkstatt auftauchen – und spätestens dann werden sie ihn ergreifen«, sagte Li. »Wir können ihn nicht zurücklassen! Auf keinen Fall!«
»Aber wir können uns nirgends in der Stadt mehr blicken lassen. Das wäre viel zu gefährlich!«, beharrte Fra Branaguorno.
»Dann schickt einen der Bediensteten hier zu Bruder Markus«, schlug Arnulf vor. Er sah Li an. »Es mag sein, dass du nicht weißt, wo Christos die Nächte verbringt – aber die Mönche kennen diese Häuser, denn sie tun barmherzige Werke in den Quartieren der Armen. Und ein blinder Mann, der sich durch die Stadt bewegt, als könnte er sehen, ist ihnen sicher aufgefallen …«
»Auch das brächte Gefahren mit sich«, knurrte Fra Branaguorno, »denn unsere Verfolger werden die Mönche im Auge behalten und vermuten, dass sie uns vielleicht auf irgendeine Weise helfen.«
Inzwischen tauchte Lorenzo D’Antonio auf. Er wirkte noch sehr verschlafen. »Warum hat man Euch nicht hereingebeten?«, fragte er. »Worauf wartet Ihr, tretet näher! Hoffentlich habt Ihr einen guten Grund dafür, mich aus den Armen einer heißblütigen Griechin geholt zu haben – die mir leider nur im Traum erschien!«
»Uns ist nicht zum Scherzen«, stellte Fra Branaguorno klar.
»Ihr habt gesagt, dass Eure Geschäfte hier in Konstantinopel beendet sind und Ihr nur noch bleibt, um mir Bedenkzeit zu geben«, mischte sich Li ein.
»Und? Darf ich also annehmen, dass die Entscheidung gefallen ist?«, gab Lorenzo zurück.
Lorenzo war erst dagegen, bei Nacht auszulaufen. Doch dann erklärte ihm Fra Branaguorno in aller Offenheit die Lage.
»Eigentlich hatte ich nicht vor, meine Beziehungen zu Konstantinopel zu verderben«, meinte der Venezianer. »Aber falls man mich mit dieser Sache in Verbindung bringen sollte, werden die alten Säcke der D’Antonios das sicher wieder geradebiegen!«
So wurden seine Leute geweckt, und als Li ihn bat, jemanden zu den Mönchen zu schicken, wurde auch diese Bitte erfüllt.
»Es ist eine mondhelle Nacht, und der Wind steht günstig«, meinte Lorenzo, als er zusammen mit Li, Arnulf und Fra Branaguorno zur Anlegestelle seines Schiffs ging. Es war an der Kaimauer fest vertäut, und einige Seeleute begannen bereits, alles zum Ablegen bereit zu machen.
Das Segel wurde hochgezogen, und die Ruderer gingen an ihre Plätze, denn auch bei idealen Windverhältnissen musste ein Schiff, das am Goldenen Horn entlang in Richtung Marmarameer segelte, voll manövrierfähig sein. Sicherheitshalber gab es überall Leuchttürme, die den Kapitänen die Orientierung erleichterten. Li stand an der Reling und sah eines der Leuchtfeuer am anderen Ufer des Goldenen Horns flackern.
Arnulf legte den Arm um ihre Schulter. »Lange werden wir nicht warten können.«
Bald war alles fertig zum Ablegen. Ein paar Männer standen bereit, um die Taue zu lösen, und Lorenzo D’Antonio ging nervös auf und ab. Da erreichte ein Reiter das Tor des venezianischen Handelshofs. Der Hufschlag des Pferdes war deutlich zu hören, der Reiter selbst nur ein Schatten. Am Tor ließen ihn die Wächter sofort passieren. Dann preschte er bis zur Kaimauer, und erst jetzt erkannte Li, dass zwei Männer auf diesem Pferd saßen. Der eine war ein Mönch in dunkler Kutte, der andere ein Mann mit einem langen, dünnen Stock. Als er vom Pferd stieg, fiel das Mondlicht auf sein Gesicht mit den blicklosen Augen.
Wenig später segelte Lorenzos Schiff das Goldene Horn entlang. »San Marco heißt dieses Schiff«, erklärte Lorenzo D’Antonio an Fra Branaguorno gerichtet. »Wie der Heilige, dessen Gebeine durch die List venezianischer Kaufleute aus Alexandria geraubt wurden und nach dem eine Kirche, ein Platz und ein Viertel von Venedig benannt sind.«
»Ich nehme an, dass auch Männer aus Eurer Familie daran beteiligt waren«, gab Fra Branaguorno zurück.
»Aber sicher! Man kann sagen, ohne meine Vorväter gäbe es keinen Markusdom in Venedig!«
Der Drang, etwas Großes zu leisten, musste angesichts solcher Vorfahren immens sein!, ging es Li durch den Kopf, die von dem Gespräch zwischen dem Mönch und dem Patrizierspross aus Venedig das meiste verstand und es als willkommene Gelegenheit wahrnahm, sich in die Mundart der Venezianer einzuhören. Es wird ihm nicht gelingen, die Vorväter zu überstrahlen!, erkannte sie. Gleichgültig, was Lorenzo in Zukunft noch erreichen mochte – sein Licht würde niemals heller strahlen als das jener ruhmreichen Seefahrer, die man durch den Bau einer Kirche geehrt hatte. Nicht die besten Geschäfte, die prunkvollsten Palazzi oder eine bis zur Decke gefüllte Schatzkammer könnten solchen Nachruhm aufwiegen. Selbst die Errichtung einer Papierwerkstatt in Venedig würde das nicht vermögen. In diesem Moment bedauerte Li den stolzen Venezianer.
Unbehelligt fuhr das Schiff schließlich ins Marmarameer, während über Chalcedon blutrot die Sonne aufging und ihre ersten Strahlen über den Horizont sandte.