Sechzehntes Kapitel


Li

 

 

 

»Evangelia!«

Sie hörte den Ruf aus dem Nachbarraum kaum, während sie dem Fremden aus Saxland nachsah, diesem Ritter ihrer einsamen Träume, ehe er sich zwischen den Passanten verlor, die diese Gasse als Abkürzung zwischen dem Hippodrom und dem Konstantin-Forum benutzten. Auch viele Fuhrleute lenkten ihre von Hand, Esel oder Pferd gezogenen Karren und Wagen diesen engen Weg entlang und sorgten damit stets für übermäßiges Gedränge. Ein Gedränge, das jedoch immer wieder vermögende Rhomäer, die bei einem der Pferderennen im Hippodrom zuschauen und sich vielleicht an den eigentlich verbotenen Wetten beteiligen wollten, an Lis Papiermacherwerkstatt vorbeiführte und sogar zu ihren Kunden machte. Papiere für unterschiedlichste Zwecke wurden dann bei ihr gekauft. Manch einer wählte einen Bogen für einen gefühlvollen Brief mit schönem Wasserzeichen, der sich gut falten und versiegeln ließ, andere betrieben eine Buchbinderwerkstatt und wollten es einmal mit ihrem Material versuchen oder brauchten als Kaufleute besonders lange Bogen zum Erstellen verschiedener Warenlisten.

Da Li ihre Arbeit ohnehin kaum schaffte, vermied sie es, auf ihr Gewerbe übermäßig aufmerksam zu machen, denn das hätte nur dazu geführt, noch mehr Aufträge ablehnen und Kunden verärgern zu müssen. Die einflussreiche Gilde der Gerber, die das Papier als Konkurrenz zum Pergament ansah und für ein baldiges Verbot der Papiereinfuhr auf arabischen Schiffen eintrat, hatte es durchgesetzt, dass Li keine Lehrlinge und Gesellen ausbilden durfte. Allerlei fadenscheinige Argumente mussten dafür herhalten, ihr dies zu untersagen. Zuerst hatte man behauptet, sie sei keine Christin, bis der Priester vor dem Gildengericht in aller Form bestätigte, dass sie unter der großen Kuppel der Hagia Sophia getauft wurde, in der sich Sonntag für Sonntag die Rhomäer zum Gottesdienst versammelten. Zeugen aufzubieten, die bei dieser Taufe anwesend waren und sich daran erinnerten, hatte keine große Schwierigkeit bedeutet. Ein weiteres Argument war gewesen, dass sie eine Frau war. Ragnar der Weitgereiste, ihr einflussreicher Förderer, gab ihr daraufhin den Hinweis, dass sich schließlich auch die Huren von Konstantinopel in Gilden organisierten und in aller Selbstverständlichkeit den Nachwuchs ihrer Profession ausbildeten, obwohl es sich unzweifelhaft um Frauen handelte, wie er aus eigener Anschauung bezeugen könne.

Doch dieses Argument ließ das Gildengericht ebenfalls nicht gelten. Welche Kräfte genau bestrebt waren, sie klein zu halten, war wohl nicht bis ins Letzte zu ermitteln. Ragnar riet ihr, die Sache nicht bis vor ein höheres Gericht zu verfolgen und durchzufechten. »Eines Tages werden die Logotheten und Schreiber des Kaisers so sehr auf dein Papier angewiesen sein, dass sie selbst für dich die Trommel rühren, um Lehrlinge anzuwerben!«, war er überzeugt. »Du brauchst nur etwas Geduld. Ich glaube daran, denn andernfalls hätte ich dir nicht für eine relativ geringe Beteiligung an deinem Gewinn mein altes Lagerhaus als Werkstatt überlassen!«

»Wofür ich Euch ewig dankbar sein werde, Ragnar.«

»Ich brauche deine Dankbarkeit nicht, sondern bevorzuge dein Silber. Und solange das fließt, werden wir voneinander profitieren, Evangelia.«

Evangelia – so nannte sie sich nun. Ragnar hatte ihr geraten, sich einen einheimischen, gut aussprechbaren Namen zu wählen. »Es reicht schon, dass deine Augen fremdartig erscheinen«, wusste er, »da braucht es nicht noch einen Namen, der so kurz und flüchtig ist, dass selbst ein Hund nicht darauf hören könnte, weil er schon verklungen ist, bevor er ins Ohr gelangt!«

Und so war ihre Wahl auf Evangelia gefallen, was Gute Nachricht bedeutete und damit in gewisser Weise eine Auflehnung gegen ihr bisheriges, von schlechten Nachrichten allzu sehr geprägtes Schicksal darstellte. Evangelia – das enthielt nicht nur die einzige Silbe ihres Han-Namens, den sie sich im Herzen immer bewahren würde, schon im Andenken an ihren Vater, sondern erinnerte auch an die vier Evangelien der Heiligen Schrift, die vom Leben und Wirken Jesu Christi berichteten und aus denen der Priester in der Kirche vorzulesen pflegte. In den christlichen Ländern galt diese Schrift als das Buch schlechthin und stand schon deshalb in enger Beziehung zu ihrer Handwerkskunst.

Unzählige Szenen aus diesen Evangelien konnte man in den Kirchen der Stadt oder in privaten Schreinen ihrer Einwohner auf Bildern sehen. Ikonen, wie die Christen von Konstantinopel dazu sagten. Während der Islam in der bildlichen Darstellung des Menschen sehr zurückhaltend war und sie weitestgehend mied, schien man im größten Reich der Christenheit genau den gegenteiligen Maximen zu folgen. Manche Bilder erfuhren selbst bereits eine Verehrung, die einem Muslim wohl als Götzendienerei erscheinen musste und Li manchmal an die Ahnenschreine in ihrer Heimat erinnerte.

Aber obwohl Li fand, dass die Möglichkeit, Geschichten in Bildern darzustellen, mehr Menschen dazu verleitete, das Lesen oder gar das Schreiben nicht zu erlernen, da man alles Wesentliche der Heiligen Schrift ja aus Ikonen erfahren konnte, profitierte ihr eigenes Gewerbe doch genauso von dem ausgeprägten Hang zur Malerei. Papier taugte natürlich nur in den seltensten Fällen als Grundlage solcher Bildwerke. Dazu war es nicht haltbar genug, und außerdem hafteten die Farben ihm nicht in gleicher Weise an, wie es bei Leinwänden, Holz oder Stein der Fall war.

Bevor die Ikonenmaler jedoch zu Werke gingen, fertigten sie oft unzählige Skizzen an. Und für diese Skizzen brauchten sie ein Material, auf das sich mit Kohle gut zeichnen ließ und das darüber hinaus verhältnismäßig preiswert herzustellen war. So gehörten inzwischen auch Malerwerkstätten zu ihren Kunden.

»Evangelia!«, riss sie ein weiterer, durchdringender Ruf aus ihren Gedanken. Jetzt endlich gab sie sich einen Ruck. Sie ging nach nebenan. Der Mann, der gerufen hatte, hieß Christos und gehörte zu den Tagelöhnern, die sich bei ihr verdingten. Er war von Geburt an blind. Der Blick seiner Augen war leer. Aufgrund seiner Blindheit hatte er sich immer schwergetan, irgendwo Arbeit zu finden. Meist schlug er sich als Bettler vor dem Portal der Hagia Sophia durch, und für eine gewisse Zeit war er sogar am Eingang des Hippodroms damit beschäftigt gewesen, gegen Gebühr Sitzkissen auszuleihen. Mit seinen feinen, empfindsamen Fingerspitzen konnte er jede Münze sicher erkennen, und es war in dieser Hinsicht gewiss leichter, so manchen unkundigen Sehenden zu betrügen als ihn. Aber die Verwaltung des Hippodroms war anderer Ansicht. Man schickte ihn schließlich fort, weil der zuständige Hofbeamte, dem die Pferderennbahn samt Bewirtschaftung übertragen worden war, einem Mann wie Christos diese Arbeit auf Dauer nicht zutraute. Christos allerdings äußerte Li gegenüber immer den Verdacht, dass der betreffende Beamte solche Posten einfach bevorzugt mit Verwandten besetzte.

Li hielt große Stücke auf ihn. Und obwohl sie ihn nicht offiziell als Lehrling annehmen und ausbilden durfte, hatte sie ihm das eine oder andere von ihrer Kunst gezeigt, wobei er sich stets als sehr geschickt erwies.

»Was ist los, Christos? Warum rufst du mich, als wäre unsere Wasserzuleitung versiegt?«

Er stand zusammen mit mehreren Tagelöhnern an einem großen Bottich. Alle Anwesenden hielten hölzerne Stampfer in den Händen. Christos griff jetzt in den Lumpenbrei hinein. Er suchte offenbar nach etwas. Wenig später holte er ein langes, faseriges Stück heraus, bei dem nicht gleich zu erkennen war, worum es sich handelte. Aber der Blinde hatte bereits ein paar weitere solcher Faserstücke aus dem Brei gefischt und nebeneinander auf dem Steinboden ausgelegt. »Evangelia, seht Euch nur an, was hier drin zu finden ist!«, rief er auf seine etwas zur Theatralik neigende Art. Dass ausgerechnet ein Blinder jemanden zum Sehen aufforderte, gab der ganzen Angelegenheit eine unfreiwillig komische Note.

»Das sieht aus wie die Reste eines Seils!«, meinte Li.

»Und genau das ist es wahrscheinlich gewesen! Ein Hanfseil, das eine Hose an ihrem Ort gehalten hat und noch in ihren Schlaufen steckte oder in den Kragen eines Umhangs eingenäht war! So etwas muss man doch entfernen! Man kann doch nicht einfach einen Haufen Lumpen blind zerstampfen, ohne sich vorher zu vergewissern, dass an ihnen nichts mehr ist, was da nicht hingehört …« Er deutete auf die anderen Tagelöhner, von denen sich keiner einer Schuld bewusst zu sein schien. »Evangelia, lasst doch mich in Zukunft alle Lumpen kontrollieren, bevor sie in den Stampfbottich kommen, damit so etwas nicht wieder vorkommt!«

»Gut«, gab Li nach, die schon des Öfteren in ähnlicher Weise vom blinden Christos bedrängt worden war, ihm die Endkontrolle der Lumpen zu überlassen.

»Herrin, das ist nicht Euer Ernst!«, entfuhr es nun einem der anderen Tagelöhner. »Wollt Ihr über uns spotten, dass Ihr einen Blinden die Lumpen überprüfen lasst?«

»Seine Augen sind nicht die besten, aber seine Sorgfalt ist am größten«, erklärte Li ruhig. Sie dachte an die Worte des Weisen Lao-she, die ihr Vater oft auf den Lippen geführt hatte, wonach man eine Schwäche, die nicht zu beseitigen war, nach Möglichkeit in eine Stärke umwandeln sollte. Christos erschien ihr manchmal wie ein praktisches Beispiel dieses Lehrsatzes uralter Weisheit.

Der blinde Tagelöhner wollte gerade die Fasern zu den anderen legen und versicherte wortreich, dass er diesen Abfall später noch beseitigen werde, da kam Li plötzlich ein Gedanke. »Gebt sie mir!«

Sie nahm ihm das feuchte Stück aus teilweise zerschlagenen, nur noch schwach zusammenhängenden Fasern aus der Hand und hob auch die Stücke vom Boden auf.

Während sie das Knäuel zwischen den Händen zusammenpresste, quoll Feuchtigkeit hervor und rann ihr die Arme entlang. Ein Seil … Hanf … Li erinnerte sich, wie die Händler in den Gassen von Bagdad daraus Haschisch gewonnen hatten. Aber sollte sich das nicht auch zu Papier verarbeiten lassen? Sicher nicht mit demselben guten Ergebnis wie bei Papier, das aus reinen Lumpen gemacht wurde, aber dafür vielleicht sehr viel preiswerter! Schließlich überstiegen die Preise für Lumpen bei Weitem jene für Hanfpflanzen – die im Übrigen von allein heranwuchsen, wenn man sie an einem geeigneten Ort anbaute und genügend wässerte, während Kleider erst mühsam gewoben werden mussten und oft lange genug getragen wurden, bis ihre Fasern an vielen Stellen auseinanderfielen, noch ehe sie überhaupt in einem Stampfbottich landeten.

Sie nahm die Reste des Gürtelseils in den Nachbarraum mit. Es käme auf einen Versuch an!, ging es ihr durch den Kopf.

Im Reich der Mitte verwendete man durchaus pflanzliche Zusätze bei der Papierherstellung. Bambus war dazu hervorragend geeignet. Aber Bambus gab es in den Ländern des Westens nicht. Über die Ursache konnte sie nur rätseln, denn das Klima im östlichen Reich der Mitte unterschied sich von dem seines westlichen Gegengewichts weit weniger, als dass Bambus hier nicht hätte gedeihen können. Aber er war in diesen Gegenden nun einmal vollkommen unbekannt. Li hatte bereits erste Versuche unternommen, landesübliche Holzarten in den Papierbrei einzubringen. Doch das gab sie schnell wieder auf, denn die Resultate waren mehr als unbefriedigend. Kleinere und größere Holzstücke verunreinigten die so entstandenen Blätter. Das war nicht nur ein Problem der Ästhetik, sondern es behinderte mitunter den Schreibfluss, wenn man mit Feder und Tinte über das Papier fuhr.

Die Frage, was sie bei ihren Versuchen falsch gemacht hatte, beschäftigte Li seitdem. Denn wenn sie beobachtete, wie Wespen ihre Papiernester aus dem Holz von Dachbalken und Fensterläden erschufen, war sie überzeugt, dass diese Geschöpfe ihre Kunst an irgendeinem entscheidenden Punkt besser beherrschten als sie selbst.

Vielleicht finde ich eines Tages den Fehler heraus!, ging es ihr durch den Kopf. Ihr Blick glitt noch einmal zum Fenster. Die Läden standen offen. Ein dünnmaschiges Eisengitter verhinderte, dass jemand etwas hereinwerfen oder gar durch das Fenster eindringen und etwas stehlen konnte. Nur der obere Teil war mit Alabaster verblendet, sodass man darunter hinausblicken konnte – oder herein. Es gab immer wieder Menschen, die stehen blieben und ihr dabei zusahen, wie sie Wasserzeichen formte.

Li trat näher ans Fenster und dachte daran, wie sie Arnulf von Ellingen nachgeblickt hatte.

Ihr wurde warm bei dem Gedanken, und die Frage, ob man aus den Fasern eines Hanfseils Papier machen konnte, das diese Bezeichnung verdiente, erschien ihr mit einem Mal als sehr nebensächlich. Sie dachte an den Blick seiner grünen Augen, den Klang seiner Stimme und die Art, wie er lächelte. Wenn es geschehen konnte, dass zwei Menschen sich wiedertrafen, die allen äußeren Umständen nach so wenig dafür bestimmt zu sein schienen wie sie und Arnulf – dann durfte es eigentlich nichts geben, was nicht möglich war. Li spürte ihr Herz schneller schlagen – aber nicht aus Furcht oder Erschöpfung wie bisher so oft in ihrem Leben, sondern vor freudiger Erregung.

Am Abend schritt Li vorbei an den hohen, einschüchternd wirkenden Säulen in einem der endlosen Gänge des Kaiserpalastes. Christos begleitete sie und trug in jeder Hand ein großes Bündel mit Papierbogen. Sie waren sorgfältig in Leinentücher eingeschnürt.

Li trug ebenfalls ein Bündel unter dem Arm. Während des kurzen Wegs bis zum Kaiserpalast hatte sie es stets so unter ihrem Umhang verborgen, dass es möglichst unauffällig wirkte.

Sein Inhalt war unbezahlbar.

Es handelte sich um die Form jenes Wasserzeichens, das für das Briefpapier des ersten Logotheten für Dokumente verwendet wurde, die dieser im Namen des Kaisers selbst unterzeichnete. Botschaften, die einen offiziellen Charakter hatten und bei denen dieses Wasserzeichen – neben dem Siegel und dem Federstrich – ein Merkmal ihrer Echtheit war.

Auch wenn solche Wasserzeichen erst seit Kurzem in Gebrauch waren, musste man davon ausgehen, dass früher oder später jemand versuchen würde, sie zu fälschen – und dem musste unter allen Umständen vorgebeugt werden.

Vier Wächter – riesenhafte, bärtige Männer aus der Warägergarde des Kaisers – hatten Li und Christos in ihre Mitte genommen und begleiteten sie auf ihrem Weg durch den labyrinthischen Palast, der immer wieder erweitert worden war. Nie hatte Li ein ähnlich großes Gebäude betreten. Es gab einen eigenen Hafen, von dem aus der Kaiser für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Mauern der Stadt einem Angriff einmal doch nicht standhielten, sofort auf ein Schiff fliehen konnte. Ragnar der Weitgereiste hatte ihr außerdem erzählt, dass eine direkte Verbindung zur Hagia Sophia bestand – und eine zum Hippodrom. Denn sowohl zum Gottesdienst als auch bei den Pferderennen zeigte sich der sonst entrückte Kaiser dem Volk in einer Nähe, die auch ihre Gefahren mit sich brachte. Wenn etwa ein Tumult unter den schätzungsweise hunderttausend Zuschauern im Hippodrom ausbrach, vermochte keine noch so tapfere Leibwache der Welt ihren Herrscher zu schützen.

Die Wachen führten Li und Christos in einen hohen Raum, dessen Wände mit kunstvollen Mosaiken verziert waren, die allesamt Motive aus der Bibel und aus dem Leben Jesu zeigten. Li war nicht zum ersten Mal in diesem Raum, in dem Petros Makarios, seines Zeichens erster Logothet des Kaisers, Schreibarbeiten zu erledigen pflegte und minderwichtige Gäste empfing, denen kein diplomatischer Rang zukam. Manchmal traf er hier in aller Abgeschiedenheit und ohne lästige Blicke Unbefugter auch Gäste, mit denen sich weder er noch der Kaiser je öffentlich gezeigt hätten.

Petros Makarios saß hinter einem reich verzierten Tisch und unterzeichnete gerade ein Dokument. Dann steckte er den Federkiel in den goldenen Halter und ließ Li zunächst warten, bis er sich die Dokumente, die er soeben signiert hatte, noch einmal durchgelesen hatte.

Li wartete geduldig. Ihr war klar, dass sie hier, in diesen Mauern, eine unbedeutende Rolle spielte. Sie war eine Handwerkerin mit einem Talent, das in diesem Teil der Welt selten bis unbekannt war – und sie besaß in Ragnar dem Weitgereisten einen Förderer, der ihr die schweren Türen des Palastes zu öffnen gewusst hatte.Achte den Diener, der sich unentbehrlich zu machen vermag – denn man wird ihn bald den Herrn nennen, so hatte Li eine der Weisheiten in Erinnerung, die ihr Vater bei verschiedenen Gelegenheiten zitierte, wobei ihr entfallen war, von welchem der ehrenwerten Weisheitslehrer sie nun stammte. Aber ihr Vergessen erklärte sich wohl dadurch, dass ihr der Satz damals, als sie noch in Xi Xia gelebt hatten, über die Maßen absurd vorgekommen war.

Inzwischen hatte sie die tiefe Wahrheit darin längst erfasst. Ragnar der Weitgereiste war ein Beispiel für seine Richtigkeit. Als ehemals einfacher Wächter und Gardekrieger hatte er durch seinen Dienst bis heute einen vergleichsweise leichten Zugang zu höchsten Stellen des Palastes erhalten, wie ihn sich viele von Geburt an Höhergestellte sicherlich wünschten. Li war gewillt, zumindest in dieser Hinsicht nicht nur von der Klugheit des Normannen zu profitieren, sondern auch von ihm zu lernen.

Endlich blickte Petros Makarios auf.

»Seid gegrüßt, erhabener Herr«, sagte Li und hielt den Kopf gesenkt. Petros Makarios blickte kurz zu Christos hinüber. Dass Li bei solchen Gelegenheiten von einem Blinden begleitet wurde, daran hatte er sich gewöhnt.

Er machte ein Zeichen, mit dem er ihr bedeutete, näher zu treten. Christos folgte ihr. Es war erstaunlich, wie gut der Blinde die Orientierung behielt. Niemand, der in seine Augen sah, konnte bezweifeln, wirklich einen Blinden vor sich zu haben. Aber wenn man beobachtete, wie er neben Li herlief und sich anscheinend nur nach dem Klang ihrer Schritte richtete, konnte man durchaus auf andere Gedanken kommen.

Mit erstaunlicher Sicherheit vermochte er auch, Entfernungen abzuschätzen. Li hatte nie erlebt, dass der Blinde einmal irgendwo ungeschickt angestoßen wäre.

Sie traten beide vor. Christos stellte seine Bündel auf den großen Tisch, an dem der Logothet saß, dessen Platz er offenbar genau abgeschätzt hatte.

»Ich hoffe, dass die Qualität der Bogen seine kaiserliche Majestät zufriedenstellt«, sagte Li.

»Davon gehe ich aus«, erwiderte Petros Makarios.

Li legte nun auch das Bündel mit der Wasserzeichenform auf den Tisch.

»Und dies zur sicheren Verwahrung …«

Petros Makarios nahm das Bündel und sah sich an, was es enthielt. Dann rief er zwei Diener herbei, die sowohl die Papierbogen als auch die Wasserzeichenform forttrugen. Sie verschwanden beide durch die Tür in einen Nebenraum.

Li hatte keine Ahnung, wo die Form aufbewahrt wurde. Auch wenn sie es war, die sie geschaffen hatte, bekam sie dieses kunstvoll verbogene Stück Metall immer nur dann ausgehändigt, wenn neue Blätter mit dem erhabenen Zeichen des göttlichen Kaisers gefertigt werden sollten.

Aber die Abstände, in denen das geschah, verkürzten sich in letzter Zeit immer mehr. Offenbar hatte man sich bei Hof an die Qualität von Lis Papierbogen gewöhnt.

Der Logothet holte aus einem Fach, das in den Tisch eingelassen war, einen Leinenbeutel voller Münzen hervor und schob ihn zu Li. »Deine Arbeit ist gut, und es gibt bereits Stimmen, die sich wünschen, dass du noch mehr liefern könntest.«

»Herr, ich arbeite bis zum Rand der Erschöpfung. Um mehr liefern zu können, müsste ich Lehrlinge ausbilden und sie zu ebensolchen Meistern meines Handwerks machen, wie ich es selber bin.«

»Wer hindert dich?«

»Das Gildengericht.«

»Warum hast du keine höheren Instanzen angerufen? Unsere Stadt ist in der ganzen Welt berühmt für ihr ausgefeiltes Recht, das auf dem großartigen Kodex Justinians gründet und jedermann Gerechtigkeit widerfahren lassen soll, sodass es Gott ein Wohlgefallen ist.«

»Man sagte mir, dass ein solches Ansinnen keine großen Erfolgsaussichten habe.«

»Wer hat dir dies gesagt?«

»Ragnar der Weitgereiste, der am Hof für seine Verdienste wohlbekannt ist, seit er dem Kaiser persönlich das Leben rettete.«

Ein kaltes Lächeln spielte um den dünnlippigen Mund des Logotheten. »Ja, ja, davon spricht er viel. Und andere, die dabei waren und die Ereignisse in sehr verschiedener Weise schildern, ebenfalls … Wie auch immer, ich werde mich deiner Sache annehmen und sehen, ob und was ich für dich tun kann, Evangelia.«

»Ich danke Euch, Herr.«

Dass er sie mit ihrem Namen angesprochen hatte, konnte Li durchaus als Auszeichnung ansehen – das war ihr bewusst. Offenbar hatte sich Ragnars Überlegung als zutreffend erwiesen. Der Zeitpunkt war gekommen, dass zumindest einige am Hof die Herstellung von Papier als unverzichtbar ansahen. Gut so, dachte Li. Dann konnte der Tag nicht mehr weit sein, da ihr auch in dieser Sache endlich Gerechtigkeit widerfahren würde und sie über die engstirnigen Mitglieder des Gildengerichts triumphieren konnte.

»Du kannst jetzt gehen«, sagte Petros Makarios, ohne Li noch einmal anzusehen. »Ich werde dich durch einen Boten wissen lassen, wann wir deine Dienste wieder brauchen.«

»Sehr wohl, Herr.«

Die Wächter, die Li und Christos hergeführt hatten, begleiteten sie auch wieder hinaus. Wie bedauerlich, dass du all dies nicht mehr miterleben kannst, Vater!, dachte sie, während sie mit Christos an der Seite und flankiert von den Wächtern auf einem anderen Weg aus dem Palast hinausgeführt wurde, als sie ihn betreten hatte. Oder kannst du all das vielleicht doch aus dem Reich der Toten heraus sehen?, fragte sie sich. Dass ich Papier für das Wohl eines Kaisers schöpfe?

Alles schien sich zurzeit in eine Richtung zu entwickeln, die ihr gefiel. Sie fand durch ihr Talent und ihre Arbeit ein Auskommen und war dabei freier als je zuvor in ihrem Leben. Allerdings blieb es ihr immer Anlass zu höchster Wachsamkeit, was ihrem Vater einst in Bian, der glorreichen Hauptstadt des Himmelssohnes, widerfahren war. Das Glück, das auf dem Wohlwollen mächtiger Männer ruhte, konnte sich im Handumdrehen in sein Gegenteil verkehren, wenn der Stern dieser Männer fiel. Doch daran mochte Li im Augenblick lieber nicht denken.

Eher dachte sie daran, dass trotz der überaus glücklichen Wendung ihres Schicksals, seit sie den Boden des Neuen Roms betreten hatte, ihr Glück noch einen entscheidenden Mangel hatte. Einen Mangel, dessen sie sich aufs Neue und stärker als je zuvor bewusst geworden war, als Arnulf von Ellingen plötzlich vor der Tür ihrer Werkstatt stand.

Als sie den Palast verlassen hatten, gingen sie durch die erleuchteten Hauptstraßen am Hippodrom vorbei. Der gewaltige, langgezogene Bau wirkte wie eine kleine Stadt für sich. In den Gängen unter den Rundbögen an seiner Peripherie fanden sich tagsüber fliegende Händler. Jetzt verkrochen sich dort die Bettler und bereiteten sich ein Nachtlager. Zwar war das verboten, aber selbst eine doppelt so starke Warägergarde hätte nicht sämtliche dunklen Ecken überwachen können.

»Ich würde auf die Versprechungen von diesem Logotheten nicht allzu viel geben«, sagte Christos, als sie sich von der Nordwestseite des Hippodroms bereits auf das Konstantin-Forum zubewegten.

»Wie kommst du darauf?«, fragte Li.

»Evangelia! Hört Ihr nicht hin, wenn jemand redet?«

»Natürlich höre ich hin, wenn Petros Makarios spricht. Und mein Griechisch ist inzwischen gut genug, dass ich nicht nur jedes Wort, sondern auch die feinen Unterschiede in der Betonung und im Tonfall zu erkennen vermag! Außerdem – wie sprichst du eigentlich mit mir?«

»Entschuldigt, Evangelia. Ich wollte Euch nicht zu nahe treten und schon gar nicht maßregeln.«

»Nein, was dann?«

»Ich wollte Euch warnen. Die Stimme dieses Petros Makarios war voller Falschheit. Er meint nicht, was er sagt, und ich würde mich auf seine Hilfe nicht verlassen.«

Li sah den blinden Tagelöhner erstaunt an und runzelte die Stirn. »Und so etwas hörst du an der Stimme?«

»Ich vertue mich selten.«

Der Blinde blieb abrupt stehen. »Es riecht eigenartig!«, stellte er fest.

»Der Gestank der Straße – aber ich sage dir, es gibt Orte, in denen er schlimmer ist als hier in Konstantinopel!«

Christos schüttelte den Kopf. »Nein, das meine ich nicht … Evangelia! Es brennt hier irgendwo!«

Wenig später erreichten sie eine Nebenstraße. Lautes Stimmengewirr schlug ihnen entgegen. Um ein kuppelförmiges Gebäude stand eine Traube von Menschen. Flammen schlugen aus einem Fenster, und Rauch stieg auf. »Wasser! Holt Wasser!«, rief jemand.

»Ist es eine Kirche, die da brennt?«, fragte Christos.

»Woher weißt du das?«, fragte Li.

Christos atmete tief durch. »Es betrifft meistens Kirchen, wenn Brände gelegt werden.«

»Aber … Konstantinopel ist das Neue Rom! Die Hauptstadt der Christenheit! Wieso werden hier Kirchen angezündet?«

»Das waren radikale Ikonoklasten«, antwortete Christos. »Bilderstürmer, die die Ikonen in den Kirchen für Götzenverehrung halten.«