Elftes Kapitel
Ein weiter Weg nach Westen
Li dachte noch oft an Arnulf von Ellingen, und sie hörte aufmerksam zu, wenn fremde Händler auf den Basaren ihre Waren anboten und von den Ereignissen in Tukharistan sprachen. Immer wieder war auch von Fremden die Rede, aber nichts davon ließ sich mit Sicherheit auf das weitere Schicksal des fremden Ritters beziehen. Zudem gab es andere Dinge, die den Menschen Sorgen machten. Offenbar waren Reiter des Kara Khan bis in die Eisenberge vorgedrungen, und manche Schmiede beklagten schon, dass ihnen das gute Erz knapp wurde. Aber das waren nur Gerüchte. Für ein paar Wochen kampierte ein Heer des Emirs vor den Toren der Stadt. Es gab in den Bergen aufständische Stämme, die niedergeworfen werden mussten. Ob der Kara Khan sie zum Aufstand angestachelt hatte oder ob die Ursache in einer kürzlich erfolgten drastischen Erhöhung der Tributzahlungen lag – das vermochte Li nicht einzuschätzen.
Jedenfalls wünschte sich Li, dass der Christengott, an den Arnulf von Ellingen zweifellos glaubte, ihn beschützte. Der Gedanke an diesen Mann machte ihr gleichzeitig schmerzlich bewusst, dass es für sie wohl nie eine innige Verbindung zu einem Mann geben würde. Liebe, Ehe, Kinder und die Gewissheit, dass man nicht nur für sich selbst lebte, sondern einmal die Verehrung seiner Nachfahren erfuhr – das alles würde ihr versagt bleiben. Der Überfall einer Nomadenhorde in Xi Xia hatte diesen schicksalhaft festgelegten Plan für ihre Zukunft fortgefegt und bedeutungslos werden lassen. In der Tochter eines Papiermachers hätten in Xi Xia sicherlich genug Männer eine mögliche Ehefrau gesehen. Aber hier in Samarkand war ihr ein solcher Weg verbaut. Man mochte einigen der Papiermacher noch ansehen, dass ihre Vorfahren einst aus dem Reich der Mitte kamen, aber das hieß keineswegs, dass sie sich mit Li besonders verbunden fühlten. Sie war eine Fremde und außerdem eine rechtlose Schuldknechtin, die sich allenfalls mit ihresgleichen verbinden konnte. Aber kein Mann in Samarkand würde ihr zutrauen, dass sie Kinder zu gläubigen Muslimen erzog. Daran würde für sie auch nichts ändern, diesem Glauben beizutreten. Sie hatte es mehr als einmal erwogen, den Gedanken aber immer wieder verworfen. Vielleicht weil sie spürte, dass es ihren Vater tief verletzt hätte. Meister Wang schien es als Ausdruck seiner innersten Würde zu betrachten, sich in diesem Punkt nicht seiner Umgebung anzupassen.
Gao hingegen war inzwischen Muslim geworden und hielt die Gebetszeiten genau ein.
»Wir werden hier den Rest unserer Tage verbringen«, meinte er einmal, als er zusammen mit Li auf dem Basar unterwegs war, um Lumpen einzukaufen.
»Ich bin mir da keineswegs so sicher«, entgegnete Li.
»Du glaubst wirklich, dass wir irgendwann zurück nach Xi Xia gelangen?« Er schüttelte den Kopf. »Unser altes Leben, das wir dort hatten, ist vorbei, Li. Und je eher wir es endgültig verabschiedet haben, desto weniger schmerzt es uns.«
»Bist du deswegen der Gemeinschaft der Gläubigen beigetreten?«
»Es ist immer das Beste, man unterscheidet sich nicht zu sehr von allen anderen.«
»Das ist sicher wahr … Dass wir irgendwann zurück nach Xi Xia gelangen, halte ich auch für ziemlich ausgeschlossen, obwohl …« Ein Lächeln huschte über ihr ebenmäßiges Gesicht. »Eigentlich solltest gerade du als frommer Muslim auf Allahs Gerechtigkeit und Barmherzigkeit vertrauen!«
»Darüber darfst du dich nicht lustig machen, Li. Ich finde mich einfach nur mit den Dingen ab, wie sie sind. Etwas, von dem dein Vater zwar immer sagt, dass man es tun soll – was er aber selber wohl nicht so recht fertigbringt.«
»Muss ein Wegweiser falsch sein, nur weil er nicht selbst in die Richtung geht, in die er weist?«, gab Li zurück.
»Nein, gewiss nicht.«
»Weißt du, ich kann es nicht erklären, und es ist auch mehr ein Gefühl als ein vernünftig zu begründender Gedanke – aber ich glaube tatsächlich, dass sich alles sehr schnell für uns ändern könnte. Dies scheint mir nicht der Ort zu sein, an dem wir für immer bleiben werden.«
»Denkst du daran, dass die Türken des Kara Khan der Macht unseres Herrschergeschlechts ein Ende bereiten könnten?«
»Zum Beispiel. Die Abgaben steigen, überall redet man vom Krieg und davon, dass die Schmiede fast nur noch Schwerter herstellen. Gestern hörte ich, dass Pferde nicht mehr zu bezahlen sind, weil sie für die berittenen Truppen des Emirs gebraucht werden.«
»Was bedeutet das schon für einfache Leute wie uns?«, gab Gao zurück. »Wir sind Papiermacher. Und solange ein Muslim und kein analphabetischer Christ oder Manichäer der Herr dieses Landes ist, wird Samarkand voller Bücher und gelehrter Schriften sein, die sich auf wundersame Weise vermehren und für die man Papier braucht!« Er zuckte die Schultern. »Man wird immer unsere Dienste benötigen und uns auf die eine oder andere Art ein Auskommen geben …«
Wenige Tage später wurde Li erneut in den Palast gerufen. Sie sollte sich nach der Zeit des Nachmittagsgebets dort einfinden.
Unvorsichtigerweise hatte sie Gao auf dessen Drängen hin erzählt, dass es sich bei ihrer Arbeit für Prinz Ismail um ein geheimes Wasserzeichen für sein Briefpapier handelte. Schließlich konnte sie sich darüber mit ihm recht gefahrlos in der Sprache des Han-Volks unterhalten, ohne zu befürchten, dass irgendwer etwas vom Inhalt ihrer Worte mitbekam. Über die Form des Wasserzeichens verriet sie natürlich nichts, obwohl Gao sehr neugierig war.
»Ich nehme an, der Prinz verlangt nach Abwechslung, was das Wasserzeichen für seine Briefe angeht«, glaubte Gao.
»Das nehme ich nicht an«, meinte Li. Sie lächelte. »Ich denke, dass die Empfänger seiner Briefe weiblich sind, und ich glaube, ich habe für ihn genau das richtige Zeichen gefunden, um das Herz der Adressatinnen zu erreichen.«
Als Li zur befohlenen Zeit im Palast eintraf, wurde sie in einen Saal geführt, in den das Licht durch hohe, mit Alabaster verblendete Fenster fiel – es pfiffen schon kalte Winde durch die Straßen der Stadt.
Auf einem großen Marmortisch lagen unzählige Papierstücke mit Zeichen.
Vor allem Zahlen waren darauf zu sehen.
Neben Prinz Ismail befanden sich noch zwei Männer im Raum. Der eine war Abu Nasr Mansur, ebenfalls ein Prinz des Herrscherhauses, der mit seinem Gefolge vor ein paar Tagen in die Stadt gekommen war. Li hatte den Zug gesehen, als sie gerade bei Kebir dem Schmied Draht für weitere Wasserzeichen kaufen wollte. Dem Gefolge gehörte auch der andere, sehr knabenhaft wirkende Mann an, dessen Bart so dünn war wie sonst nur bei den Männern des Han-Volks. Er war ihr vor allem deswegen aufgefallen, weil er auf einem Trampeltier saß und dabei versuchte, mit einem Silberstift auf ein Stück Papier zu schreiben, das sich über ein dünnes Brett spannte.
Nie zuvor hatte Li etwas ähnlich Seltsames gesehen. Ein schönes Schriftbild konnte man auf diese Weise nicht hervorbringen. Selbst der geschickteste Kalligraf hätte das nicht vermocht, aber darauf war es dem Reiter wohl nicht angekommen.
Prinz Abu Nasr blickte auf und schien überrascht, Li zu sehen. Der junge Mann hingegen ließ sich überhaupt nicht in seinem Redefluss stören. »Dass die Erde die Gestalt einer Kugel hat, ist uns seit Langem bekannt, nur wo genau wir gerade auf dieser Kugel stehen, das lässt sich nicht so einfach sagen! Aber mit der Methode, die ich mir jetzt überlegt habe, müsste es eigentlich zu berechnen sein: Man bestimmt bei einer Mondfinsternis an zwei verschiedenen Orten, deren Entfernung man sehr gut vermessen hat, den Zeitpunkt, zu dem der Erdschatten eintritt. Und aus dem Unterschied kann man den Meridian genau ermitteln, auf dem …« Er stockte, als er Li bemerkte. »Wer ist das?«, fragte er leicht irritiert.
»Das ist Li, die talentierteste unter den Papiermachern von Samarkand«, erklärte Prinz Ismail. »Sie vermag wie niemand sonst die Kunst des Wasserzeichens anzuwenden. Ein Händler verkaufte sie mir, und ich bin froh, sie in meiner Stadt zu wissen.« Prinz Ismail wandte sich an Li. »Tritt näher, Papiermacherin. Mein Bruder Prinz Abu Nasr Mansur ist ein Förderer der Zahlenkunst und der Wissenschaft, und der Mann, der gerade ein Zeugnis seiner Beredsamkeit gegeben hat, ist trotz seiner Jugend bereits unter dem Namen Al-Biruni als gelehrter Sternendeuter über die Grenzen von Mawarannahr und Chorasan hinaus bekannt.«
»Kein Wunder!«, meinte Prinz Abu Nasr. »Er schreibt täglich mehrere Briefe an Gelehrte in Bagdad, Isfahan und anderswo, sodass er wahrscheinlich Bekannte in allen Ländern des Kalifen hat!« Mit sanftem Spott fügte er hinzu: »Eines Tages wird man ihn sogar in Indien und im Reich der Mitte kennen, wo es ja auch viele Gelehrte geben soll!«
Der junge Mann mit dem dünnen Bart wirkte ob des Spottes seines Förderers verunsichert. Und Li begann darüber zu rätseln, weshalb man sie in den Palast gerufen hatte. Ihre Befürchtung, es könnte etwas damit zu tun haben, dass sie Gao von dem geheimen Wasserzeichen des Prinzen erzählt hatte, schien sich nicht zu bewahrheiten. Doch warum war sie dann hier? Brauchte vielleicht auch Al-Biruni ein Wasserzeichen für seine Briefe?
Aber das, was man ihr nun eröffnete, ging weit darüber hinaus.
»Ich will mit Hilfe dieses jungen Sternendeuters eine Sternenkarte erstellen«, erklärte Prinz Ismail. »Sie soll groß sein wie ein Wandteppich – aber aus Papier. Die Positionen der Sterne sollen darauf in ihren exakten Abständen zueinander markiert sein, und ich möchte, dass das Papier Wasserzeichen enthält, die sie mit den bekannten Sternbildern verbinden, sobald von hinten Licht hindurchfällt. Hältst du so etwas für möglich?«
»Es ist sicher möglich, aber es bedarf einer sehr guten Planung«, erklärte Li.
»Dass wir uns nicht missverstehen: Ich will einen einzigen Bogen Papier haben, nicht mit Harz aneinandergeklebte Stücke, bei denen die Übergänge immer zu sehen sind.«
»Eine schwierige Aufgabe«, sagte Li ausweichend. »Wenn Ihr gestattet, werde ich mich mit meinem Vater darüber beraten, denn er versteht viel davon, wie ein geeignetes Sieb und ein Schöpfbecken herzustellen sind, während ich mehr Geschick bei den Wasserzeichen habe …«
»Du und dein Vater, ihr sollt alles bekommen, was nötig ist«, versprach Prinz Ismail. »In meiner Bibliothek gibt es ein Werk mit exakten Zeichnungen sämtlicher Sternbilder. Es sollen dir alle Drahtzieher zur Verfügung stehen und Maurerleute, die ein großes Schöpfbecken errichten können. Ich nehme an, dass sich ein Sieb, wie es dafür nötig ist, nur durch Winden und Flaschenzüge betätigen lässt.«
Li hörte den Worten des Statthalters zu und bemerkte den Ausdruck von Begeisterung in seinem Gesicht, der schon an Entrücktheit grenzte. All das, was die Menschen auf den Basaren redeten, was über knappes Metall, gestiegene Preise und einen drohenden Krieg erzählt wurde, schien den Statthalter von Samarkand in diesem Moment nicht weiter zu bekümmern.
Als Li zur Werkstatt zurückkehrte und ihrem Vater von dem Gespräch am Hof berichtete, schüttelte Meister Wang nur den Kopf. »Was der Prinz möchte, ist gewiss mit viel Aufwand machbar. Aber es wundert mich sehr, dass er die Zeit und offenbar auch das nötige Silber für solche Dinge hat!«
»Nun, sein Bruder scheint ein ebenso gelehrsamer Mann zu sein wie er selbst«, gab Li zu bedenken. »Das ist in dieser Familie womöglich tief verwurzelt.«
»Umso schlimmer!«, meinte Meister Wang. »Wenn ihm seine Pflichten als Statthalter lästig sind, sollte er sie jemand anderem überlassen und sich ganz der Gelehrsamkeit widmen. Oder er dient mit aller Kraft seinem Emir!«
»Aber für uns kann es doch nur gut sein, unter einer Herrschaft zu leben, für die Bücher und Papier in jeder Form einen so hohen Rang haben.«
»Jeder Vorteil mag sich jederzeit in sein Gegenteil verkehren, Li«, murmelte Meister Wang besorgt.
Tage vergingen, ohne dass Prinz Ismail von sich hören ließ. Allerdings wurde merklich weniger Papier hergestellt – und zwar nicht nur in der Werkstatt von Meister Mohammed. Li bemerkte auch, dass die Papiermacher der anderen Werkstätten jetzt häufig in Gruppen auf der Straße standen und sich unterhielten. Die Stimmung war gereizt. Sich zu diesen Männern zu gesellen wäre für Li unschicklich gewesen, aber einiges konnte sie aus den Gesprächen doch aufschnappen. Jemand erzählte, der Hof des Statthalters habe im Augenblick nicht einmal Geld, um die Lieferanten für Gewürze und Brot zu bezahlen. Ein anderer hatte gehört, es gebe bereits Unruhen unter der Stadtwache, weil deren Verpflegung schlechter geworden sei.
Prinz Abu Nasr Mansur und sein Gefolge zogen schließlich nach mehreren Wochen aus der Stadt. Es gingen Gerüchte um, dass am Abend zuvor ein Bote des Emirs eine Nachricht überbracht hatte. Sie war auf jeden Fall dringend genug, um den Bruder des Statthalters zum sofortigen Aufbruch zu veranlassen.
Der Winter kam in diesem Jahr sehr früh. Die Nächte wurden eisig, und Li fror selbst dann, wenn sie all ihre Kleidung übereinander anzog, dazu noch ein paar der Lumpen, die eigentlich hätten zerstampft werden müssen, und sich in ihre Decke einrollte.
Selbst auf dem Weg aus Xi Xia war ihr nie so kalt gewesen. Gao bekam einen Husten, der sich stetig verschlimmerte und ihm die Kraft raubte. Das Brennholz für den Ofen wurde knapp, deshalb brannte das Feuer nicht die ganze Nacht hindurch. Und in der kalten, zugigen Werkstatt konnte man kaum auf Besserung für Gaos Zustand hoffen.
Den Plan einer großen Sternkarte schien Prinz Ismail nicht mehr zu verfolgen. Stattdessen plagten ihn wohl ganz andere Sorgen. In einer dieser eiskalten Nächte wachte Li auf, weil von draußen Lärm zu hören war. Schreie gellten durch die Gassen. Pferde preschten daher und Waffen klirrten.
Meister Wang war ebenfalls erwacht, während Gao aufgrund seines Hustens noch gar nicht richtig geschlafen hatte.
Am nächsten Morgen lagen entsetzlich zugerichtete Leichen in den Straßen. Es waren allesamt Angehörige der Stadtwache, und Meister Mohammed glaubte zu wissen, dass sie und ihr Kommandant einen Aufstand gegen den Statthalter angezettelt hatten.
Die Leichen wurden mehrere Tage liegen gelassen und nicht einmal die zahlreichen Diebe der Stadt wagten es, ihnen die Waffen oder Kleidungsstücke wegzunehmen. Immer wieder ritten Krieger des Statthalters durch die Straßen, um zu zeigen, dass jeder Widerstand sinnlos war. Hungrige Ratten hatten die Toten bereits angefressen, als man sie schließlich doch davonschleifte.
Kaum jemand traute sich überhaupt auf die Straßen. Und in den Häusern und Werkstätten der Papiermacher herrschte zum ersten Mal, seit Li in Samarkand lebte, tagsüber Stille, ohne dass ein Feiertag gewesen wäre.
»Man scheint unsere Dienste im Moment nicht zu benötigen«, meinte Meister Wang dazu.
An einem besonders kalten Morgen klopfte es in aller Frühe an der Tür. Bewaffnete Männer standen davor, als Meister Mohammed öffnete.
Ihr Anführer war ein korpulenter, gut genährter Mann mit einem mondrunden Gesicht. An seinem Gürtel trug er einen Lederbeutel, wie man es häufig bei den Händlern auf den Basaren sah. Er selbst war nur mit einem etwas längeren Dolch bewaffnet, wie Li bemerkte, als er sich den Umhang enger um die Schultern zog. Die Männer in seinem Gefolge aber trugen Schwerter.
»Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?«, fragte Meister Mohammed blinzelnd und verschlafen.
»Man nennt mich Firuz, und ich bin hier, um drei Papiermacher aus dem Reich der Mitte abzuholen«, erklärte er in einem geschliffenen Persisch, dessen Betonung und Aussprache sich jedoch in mancher Hinsicht von der in Samarkand gesprochenen Sprache stark unterschied. Er kam von weither, so war zu vermuten. »Es handelt sich um einen älteren Meister, seinen Gesellen und eine junge Frau, die das Geheimnis des Wasserzeichens kennt. Sie sollen ihre Sachen packen und mit uns kommen.«
»Was hat das zu bedeuten?«, stieß Li hervor, die sich von ihrem Lager erhoben hatte.
Firuz sah zu ihr hinüber und musterte sie von oben bis unten. Auch wenn sie jetzt wegen der Kälte mehrere Schichten Lumpen übereinander trug und darauf geachtet hatte, ihr Haar schicklich zu verbergen, war sie nicht allein wegen ihrer hellen, klaren Stimme sofort als Frau zu erkennen.
In den Augen des Händlers stand ein Ausdruck, der ihr nicht behagte. Es geziemte sich nicht, wie er sie ansah, und dabei machte es keinen Unterschied, ob er Muslim, Christ oder Manichäer war.
Firuz nahm ein Dokument hervor, das hinter seinem Gürtel steckte, und entrollte es. »Ich habe euren Schuldbetrag ausgelöst! Man könnte auch sagen, der Statthalter hat euch an mich verkauft!« Firuz lächelte breit und auf eine Art und Weise, die Li gleich eine tiefe Abneigung empfinden ließ. Er ging durch den Raum und sah sich um. Gao hustete.
»Wohin werdet Ihr uns bringen?«, fragte Meister Wang an Firuz gerichtet.
Dieser machte eine wegwerfende Geste und befühlte das aufgeschichtete Papier. »Seid nur froh, dass ihr von hier fortkommt! Es scheint nicht zum Besten um Samarkand und die anderen Städte von Mawarannahr zu stehen … Der Statthalter braucht dringend Einnahmen, und der Emir versucht, eine große Armee auszurüsten, bevor es wieder wärmer wird! Denn wenn der Frühling kommt, wird es Krieg geben, dessen kann man gewiss sein!« Er betastete eines der unteren Blätter, zog es aus dem Stapel und rieb seinen Daumen darüber. »Gute Qualität …«, lobte er. »So etwas findet man in Bagdad selten …« Er drehte sich um und sah noch einmal Li an. »Man hat mir gesagt, du seist am geschicktesten, was die Wasserzeichen betrifft.«
»Die Bescheidenheit verbietet es mir, darauf zu antworten«, sagte Li.
»Eigentlich dachte ich immer, Frauen sind für andere Dinge geschaffen, als Lumpen zu zerstampfen und daraus Blätter zum Schreiben zu machen!« Er lachte auf abstoßende Weise. »Aber es soll mir gleichgültig sein. Deine Arbeit ist gut, und es wird dabei viel Silber herausspringen. Und nun beeilt euch! Ich will das Tageslicht für die Reise nutzen!«
Die wenigen Habseligkeiten waren schnell zusammengepackt. Sie verabschiedeten sich kurz von Meister Mohammed. Gao ging es nicht gut. Der Husten hörte sich immer noch schlimm an, allerdings waren seine Augen nicht mehr so glasig wie an den Tagen zuvor.
»Es soll euer Schaden nicht sein, mit mir zu kommen!«, meinte Firuz etwas später, als sie die Straße entlanggingen, an der die Werkstatt lag.
Eine Karawane von siebzig Kamelen gehörte Firuz, dazu ein Dutzend Pferde und ein paar Esel. Der ganze Zug wartete im Innenhof einer Herberge, die sich nur ein paar Straßen weiter befand. Bewaffnete Männer gehörten ebenso dazu wie Frauen und Kinder. Offenbar reiste er mit seiner gesamten Sippe durch die Lande. Die Kamele waren voll beladen mit begehrten Handelswaren, wie sie auf den Basaren von Samarkand den Besitzer wechselten. Ballen aus Seide waren darunter, aber Li bemerkte auch den Geruch von Seife.
Anders als es bei den Nomaden üblich war, wurden die Kamele nicht nur als Lasttiere benutzt, sondern auch zum Reiten. Es gab in dieser Karawane niemanden, der zu Fuß gehen musste. Offenbar wollte Firuz schneller vorankommen. Auch Li wurde auf eines der ihrem Empfinden nach riesigen Tiere gesetzt, das sich vor ihr niederbeugte. Ein einziger Befehl reichte dazu aus, aber die Zügel überließ man ihr ohnehin nicht. Die wurden am voranlaufenden Tier festgemacht. Bei dem schaukelnden Gang fürchtete Li im ersten Moment, dass ihr übel werden müsste. Aber sie konnte sich beherrschen.
Dann ging es mitten durch die Stadt zum Haupttor. Die Wächter ließen sie passieren, und es dauerte nicht lange, da waren die Türme und Kuppeln von Samarkand bereits sehr fern. Der Wind wehte den Ruf des Muezzins zu ihnen herüber. Firuz war allerdings offenbar kein so frommer Muslim, dass er die Karawane angehalten und den Weg unterbrochen hätte, um zu beten.
Er ritt auf einem gescheckten Pferd an der Spitze der Karawane. Manchmal ließ er sich zurückfallen, um bei den Kamelen nach dem Rechten zu sehen, die in einer langen Reihe geführt wurden. Hin und wieder gab es auch Schwierigkeiten mit einem der törichten Esel.
Am Abend wurden mit wenigen Handgriffen Zelte aufgestellt und Feuer entzündet. Es gab warme Decken aus Kamelhaar, in die man sich einrollen konnte. Ein Zelt war für Frauen bestimmt, und Li wurde angewiesen, dort zu nächtigen, während Gao und Meister Wang in einem der Männerzelte schliefen.
»Wir sollten froh sein, dass man uns nicht einfach auf der Erde schlafen lässt, wie es bei den Uiguren der Fall war!«, raunte Meister Wang seiner Tochter zu. Er hielt sich den Rücken. Der lange Ritt auf dem Kamel hatte ihm ziemlich zugesetzt. »Wir wollen nicht klagen, sondern hoffen, dass uns auch dieser Weg an ein gutes Ende führt!«
Noch fiel es Li schwer, daran zu glauben. Aber sie nahm sich ihren Vater als Vorbild an Gelassenheit. Ihn schien wirklich nichts aus der Ruhe bringen zu können – was für ein wechselvolles Schicksal sie auch erwartete.
Gao hustete und rang nach Luft. Er lief dabei rot an.
»Gao!«, stieß Li hervor, aber er war außerstande zu antworten. Meister Wang kümmerte sich um seinen Gesellen, konnte jedoch wenig für ihn tun. Im Reich der Mitte – und selbst in Xi Xia – hätte es im Umkreis von ein oder zwei Tagesreisen einen Arzt gegeben, der in der Lage gewesen wäre, durch Betrachten von Hand und Augen eine sehr sichere Diagnose zu stellen und eine wirksame Medizin zu mischen. Die Ärzte der Muslime wandten andere Methoden an, bei denen Li nicht sicher war, ob sie auf dem Wissen um den menschlichen Körper oder mehr auf Aberglauben gründeten. Und so berühmt einzelne Ärzte wie Ibn Sina über die Grenzen ihrer Heimat hinaus sein mochten, war es wohl nur in höchster Not ratsam, sich in ihre Obhut zu begeben.
Die Frauen im Zelt sahen Li misstrauisch an. Sie waren unterschiedlichen Alters, und Li rätselte noch, in welchem Verhältnis sie jeweils zu den Männern der Karawane standen. Zwei von ihnen hatten kleine Kinder auf dem Arm. Außerdem gab es ein Mädchen von ungefähr zehn Jahren. Ein Junge, der etwas älter war, schlief bei den Männern.
Den ganzen Weg über hatten sie laut untereinander geredet und sich von einem Kamel zum anderen etwas zugerufen, von dem Li vieles nicht verstand. Und bevor Li ins Zelt gekommen war, hatte sie ebenfalls lautes Stimmengewirr und schrilles Lachen gehört. Jetzt schwiegen sie, und es war klar, dass das nur an ihr lag.
»Mein Name ist Li«, begann sie.
»Ich hoffe, du schnarchst nicht«, sagte eine Frau. Sie hatte ihr Kopftuch zurückgeschlagen. Das Haar war kastanienfarben, die Augen sehr dunkel und ihr Blick drückte Stolz und Willensstärke aus. »Mein Name ist Fadia. Weißt du, was das bedeutet?«
»Ich nehme an, es ist ein Wort aus der Sprache des Propheten. Ich habe mich bemüht, einige Worte davon zu lernen, aber dieses kenne ich nicht.«
»Es bedeutet die Ritterin. Und das heißt, dass ich mir nichts gefallen lasse und um das kämpfe, was mir gehört.«
»Ich habe nicht vor, dir etwas wegzunehmen, Fadia!«
»Dann hör auf, die Sinne meines Mannes Firuz zu verwirren! Ich habe Augen im Kopf und sehe genau, was sich ankündigt! Ein falscher Blick, und ich werde dich so schlimm schlagen, dass du es nie vergessen wirst, gelbe Frau!«
»Fadia …«
»Es reicht völlig, wenn du mich Herrin nennst!«
Verwechselte Fadia da nicht etwas? Schließlich war es ihr Mann Firuz, der Li immer wieder auf eine Weise ansah, die der Papiermacherin die Schamesröte ins Gesicht trieb. Sie war sich keinerlei Schuld bewusst und wollte wirklich alles andere, als diesen Mann auf sich aufmerksam zu machen. Allein die Vorstellung, dass er in ihre Nähe trat, verursachte Li Übelkeit. Aber Fadia dies zu sagen erschien ihr wenig ratsam.
»Sei nicht zu streng zu ihr«, meinte eine Frau, die etwas jünger wirkte. Ihre Züge waren weicher, ihr Haar glänzte fast so schwarz wie das von Li. Und während Fadias Stimme an das Klirren von Schwertern erinnerte, durchdringend und scharf, klang jene der Jüngeren viel weicher und zurückhaltender. »Ich bin Jarmila«, sagte sie, »Firuz’ andere Frau.«
»Sie kann dir sagen, wie hart ich schlagen kann!«, setzte Fadia noch hinzu. »Also sei gewarnt, gelbe Frau!«
Fadia hatte so laut gesprochen, dass eines der Kleinkinder aus dem Schlaf geweckt wurde und zu schreien anfing.
»Fadia, musste das denn sein!«, murrte die Mutter und wiegte ihr Kind.
»Mein Mann gibt deinem das Brot, also beklag dich nicht, Alya«, gab Fadia unfreundlich zurück. Dann kroch sie mit ihrer Decke auf die andere Zeltseite und rollte sich dort ein.
Jedenfalls kenne ich nun den Verlauf der Schlachtlinien in diesem Zelt, dachte Li.
Sie rollte sich ebenfalls in ihre Decke und hörte eine Weile noch dem Gerede der Frauen zu. Alya versuchte, ihr Kind zu beruhigen, und wiegte es auf dem Arm.
»Ich kann es kaum erwarten, dass wir in Jerusalem sind«, sagte Jarmila an Alya gerichtet. »Dann haben wir endlich wieder mehr Platz und leben in einem großen Haus anstatt in einem Zelt …«
»Hast du eine Ahnung, wie weit es bis dahin noch ist? Wir waren mehr als ein Jahr unterwegs, und der Kleine hier war noch nicht geboren, als wir aufbrachen …«
»Ja, ich weiß«, lächelte Jarmila. »Aber du kennst Firuz … Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, verfolgt er es bis zum Schluss. Ich glaube, selbst er hat nicht für möglich gehalten, wie tief man nach Indien reisen muss, um die leuchtenden Steine zu bekommen.«
»Ich hoffe, die Steine waren all das wert, was wir durchgemacht haben!«
»Ganz bestimmt«, versprach Jarmila. Sie beugte sich etwas vor und sprach mit gedämpfter Stimme. »Die Steine, die Firuz bekommen hat, sind mehr wert als ein ganzer Palast! Sie sollen magische Kräfte haben, und Firuz’ Onkel kennt Männer, die jeden Preis dafür zahlen würden!«
»Sei still, Jarmila!«, fuhr Fadia dazwischen. »Du redest einfach zu viel!«
»Ach, lass mich doch in Ruhe!«
»Zu viel und zu unbedacht! Wir sind schließlich nicht … unter uns!«
Am Morgen standen sie in aller Frühe auf. Fadia war die Erste, die sich fertig gemacht hatte. Bevor sie das Zelt verließ, wandte sie sich an Jarmila. »Sieh zu, dass die Gelbe uns nicht aufhält und pünktlich fertig ist!«
»Das wird sie schon.«
»Ich will es hoffen!«
Jarmila seufzte hörbar und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als Fadia das Zelt verlassen hatte.
Li wickelte sich inzwischen aus ihrer Kamelhaardecke heraus. Ihre Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, den sie nun löste. Sie versuchte zu verhindern, dass sich verfilzte Stellen und Knötchen bildeten.
»Nimm das hier«, sagte Jarmila und reichte ihr einen Kamm. Li nahm ihn und konnte ihre Überraschung für einen Moment nicht verbergen. Schließlich hatte Jarmila eigentlich keinen Grund, freundlich zu ihr zu sein.
»Danke!«
»Beeil dich. Ich glaube nicht, dass du dir vorstellen kannst, wie weit der Weg ist, den wir noch vor uns haben.«
»Und du schon?«
»Ich bin den ganzen Weg bereits in umgekehrter Richtung gezogen.«
»So kommt ihr aus Jerusalem?«
Während Li ihr Haar kämmte, nickte Jarmila leicht. »Du hast uns also gestern Abend noch zugehört … Das habe ich mir wohl gedacht.«
»Es war nicht zu überhören, was gesprochen wurde.«
»Nein, wir kommen nicht aus Jerusalem, sondern aus Schiras im Lande Fars. Aber Firuz hatte dort gewisse Schwierigkeiten, weil man ihn beschuldigte, er hätte Seife verkauft, die die Haut rot werden und brennen lässt.«
»Und – hat er das getan?«
»Er hatte die Seife von einem Choresmier erworben, der aber verschwunden war. Jedenfalls mussten wir deshalb fort aus Schiras. Und in Jerusalem lebt ein Onkel von Firaz – eigentlich ein Großonkel. Sein Großvater mütterlicherseits war nämlich Araber …« Sie stockte. »Vielleicht hat Fadia Recht und ich sollte nicht so viel mit dir reden.«
»Ich will dir nichts Böses«, sagte Li. »Weder dir noch Fadia. Und ich denke schon gar nicht daran, irgendwem etwas wegzunehmen.«
»Dennoch, ich kann dich nur warnen. Allah mag so barmherzig sein, den Männern das Konkubinat zu gestatten – aber für Fadia gilt das nicht.«
»Das habe ich gemerkt«, gab Li zurück.
»Für mich gilt in dieser Hinsicht übrigens dasselbe, auch wenn meine Wahl der Waffen vielleicht etwas anders ausfallen mag, als es bei Fadia der Fall wäre.« Ihr Tonfall bekam jetzt einen durchaus drohenden Klang.
Li gab ihr den Kamm zurück. »An mir soll es nicht liegen«, sagte sie.