Fünfzehntes Kapitel
Konstantinopel
Arnulf von Ellingen stand an der Kaimauer im Hafen von Chrysopolis und blickte über die Meerenge nach Konstantinopel. Die Kuppel der Hagia Sophia war der unumstößliche Beweis dafür, dass er es wirklich geschafft hatte! Er atmete tief durch. Fast ein ganzes Jahr hatte er gebraucht, um sich aus den Bergen von Tukharistan bis hierher durchzuschlagen. Ein Krieg zwischen muslimischen Fürstenfamilien, die an und für sich alle dem Kalifen in Bagdad unterstellt waren, aber in Wahrheit längst ihre eigenen Reiche regierten und gegeneinander um die Vorherrschaft kämpften, war mit dafür verantwortlich, dass die Reise so lange gedauert hatte.
Abgerissen wie ein Bettler stand er da. Seine Kleidung starrte vor Dreck, der Umhang hatte Löcher, und der einzige wirklich wertvolle Besitz, über den er im Moment verfügte, war das Schwert aus unzerbrechlichem Stahl, das er bei seiner Flucht aus Thorkilds Lager erbeutet hatte. Auf dem langen Irrweg durch die Kysylkum und die Länder am Kaspischen Meer bis zum Norden des Zweistromlandes und zu den kleinasiatischen Bergen hatte diese Klinge ihm mehr als einmal gute Dienste erwiesen und ihm Freiheit und Leben erhalten.
Wie oft hatte er sich vorgestellt, endlich die bekannten Gebäude dieser größten Stadt der Christenheit vor sich zu sehen. Das Hippodrom erhob sich ebenso über das Häusermeer wie der kaiserliche Palast und die alte Akropolis mit dem innersten Kern der Stadt, an dem einst die Griechen den Keim dieses Imperiums gelegt hatten.
»Wie willst du die Überfahrt bezahlen, Fremder?«, fragte der Kapitän des kleinen Fährschiffs, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Reisende über die Meerengen von Bosporus, Marmarameer und Goldenem Horn zu bringen. Der Kapitän sprach Arnulf auf Latein an, nachdem er gemerkt hatte, dass sein Gegenüber kein Griechisch verstand. Auch wenn das Griechische in den Straßen zweifellos vorherrschte, konnten sehr viele Bewohner Latein, das immer noch eine offizielle Amtssprache im Reich war. Die Bewohner des Imperiums nannten sich schließlich selbst Rhomäer – Römer. Das erste Rom, die Stadt des Papstes, hatte allerdings kaum ein Rhomäer je gesehen.
Wie aus weiter Ferne hörte er die Worte des Kapitäns, der Gorgios hieß und von dem man Arnulf gesagt hatte, er sei der preiswerteste unter den Schiffern von Chrysopolis.
Gut achthundert Schritte trennten ihn noch von dem Boden der Stadt, die man nicht umsonst die Große nannte. Aber wenn er hier in Chrysopolis kein Schiff fand, das ihn übersetzte, musste er eben die drei oder vier Meilen südwärts nach Chalcedon wandern, von wo ebenfalls tagtäglich Dutzende mehr oder minder große Barkassen das Marmarameer befuhren.
»Na, was ist?«, fragte Gorgios.
»Ich kann dir meine Sporen geben«, sagte Arnulf. Ein Pferd besaß er im Moment ohnehin nicht. Also war das kein besonderer Verlust. Seinen sächsischen Ritterhelm hatte er bereits bei anderer Gelegenheit gegen ein paar Münzen eingetauscht.
»Ich würde lieber dein Schwert nehmen!«, meinte er.
»Die Sporen sind viel mehr wert, als du normalerweise für eine Überfahrt verlangen könntest!«, erwiderte Arnulf. »Alles andere wäre unchristlicher Wucher!«
Gorgios lachte. »Einen Versuch war es jedenfalls wert. Lass mal deine Sporen sehen!«
Arnulf schnallte den rechten Sporn ab und gab ihn Gorgios. Der Grieche sah ihn sich von allen Seiten an und kratzte sich dann an seinem leicht gelockten Haupthaar. »Die haben auch schon bessere Zeiten gesehen. Aber ich will mal nicht so sein!«
»Du weißt genau, dass es nicht dein Schaden ist!«
Wenig später stand Arnulf an der Reling des schwankenden Fährschiffs. Der Wind blähte die Segel. Vor Chrysopolis ragte der Leanderturm aus dem Wasser, auf dem nachts ein Leuchtfeuer brannte, um den Schiffen bei Dunkelheit Orientierung zu geben. Hier ragte auch das eine Ende jener gigantischen Eisenkette ans Ufer, die hochgezogen wurde, wenn es galt, angreifenden Flotten die Durchfahrt zu verwehren. Dann spannte sich diese Kette siebenhundertfünfzig Schritt weit über das Meer.
Keine Winden wären stark genug gewesen, diese manngroßen Eisenglieder zu spannen. Dazu dienten bootsförmige Schwimmer, die am Ufer für den Ernstfall bereitstanden. Nur mit ihrer Hilfe war es möglich, die Kettenglieder nahe der Oberfläche zu halten, sodass sie für Schiffe ein unüberwindliches Hindernis darstellten.
Gorgios’ Fährschiff überquerte die Meerenge und fuhr dann am thracischen Ufer des Marmarameeres die Küste entlang. Sein Ziel war der Eutherios-Hafen. Außer Arnulf waren ein paar Tuchhändler an Bord. Außerdem eine Gruppe von Pilgern, die sich auf dem Rückweg aus dem Heiligen Land befanden.
Sobald sie Konstantinopel erreicht hatten, lag allerdings noch eine weite Reise vor ihnen. Sie stammten ihrer Sprache nach aus Italien. Arnulf hörte mehrfach das Wort Amalfi. Offenbar kamen sie aus der italienischen Handelsstadt.
Als das Schiff im Eutherios-Hafen einfuhr, musste gerudert werden, da der Wind aus der ungünstigsten Richtung wehte.
»Ich wünsche dir viel Freude mit meinen Sporen«, sagte Arnulf an Gorgios gewandt.
Dieser grinste. »Ich werde sicherlich einen guten Preis dafür erzielen.«
»Davon bin ich überzeugt.«
Arnulf drängte sich durch das bunte Treiben am Hafen. In seinem Aufzug war er kaum in Gefahr, von einem der Händler angesprochen zu werden. Niemand erwartete, dass er auch nur eine einzige Kupfermünze übrig hatte – so abgerissen, wie er aussah.
Nicht einmal die Bettler und Kriegsveteranen in den Gassen glaubten offenbar, dass er ihnen etwas geben könnte. Nicht ein einziger streckte die Hand nach einem Almosen aus.
Es war nicht einfach für ihn, sich in den labyrinthischen Gassen der Stadt zurechtzufinden. Dazu war sein erster Aufenthalt in Konstantinopel zu kurz gewesen. Hier und da fragte er jemanden nach dem Weg und musste feststellen, dass nicht jeder überhaupt genug Latein verstand, um seine Frage zu begreifen.
Aber schließlich stand er vor jenem Gebäude zwischen den Lagerhäusern, südlich des Hippodroms, in dem er schon einmal herzliche Gastfreundschaft erfahren hatte.
Er klopfte gegen die schwere Holztür und wartete, ohne dass sich drinnen etwas regte. Noch zweimal musste er klopfen, ehe sich jemand bequemte, zu öffnen.
Ein junger Novize musterte ihn. Was er auf Griechisch sagte, verstand Arnulf nicht. Er brachte sein Anliegen in lateinischer Sprache vor. »Bitte sagt Bruder Markus Bescheid, dass Arnulf von Ellingen zurückgekehrt ist.«
Der Novize runzelte die Stirn. »Gewiss«, versprach er. Er rief mit einer überraschend durchdringenden, sicher durch den kirchlichen Gesang geübten Stimme nach Bruder Markus, und wenig später eilte der kleine, etwas dickliche Mönch herbei.
»Arnulf! Seid gegrüßt und willkommen in Konstantinopel!«
Arnulf blickte an sich hinab. »Es beruhigt mich, dass Ihr mich wiedererkennt, Bruder Markus! Wenn man bedenkt, wie ich aussehe, ist das nicht selbstverständlich!«
»Kommt herein und berichtet, was Ihr erlebt habt – und wie Eure Reise in den Osten verlaufen ist! Aber zunächst müsst Ihr etwas essen und trinken!«
»Mir knurrt tatsächlich der Magen. Ich habe von allem Möglichen gelebt und bin mit Nomadenstämmen durch die Gebirge ferner Länder gezogen, die ein einfaches Leben gewöhnt sind …«
Bruder Markus wandte sich an den Novizen. »Worauf wartest du, Andreas? Ist dir jegliche Barmherzigkeit abhandengekommen, nur weil jemand in schmutziger Kleidung und mit verfilztem Haar vor dir steht? Unser Herr hat sich um Aussätzige gesorgt, bedenke das!«
»Was soll ich tun?«, fragte der Novize.
»Sag unserem Küchenmeister Bescheid. Gutes Brot und frisches Wasser ist ja wohl das Mindeste, was wir unserem Gast auf den Tisch stellen können! Und vielleicht lassen sich auch ein paar saubere Kleider auftreiben!«
Bruder Markus führte Arnulf von Ellingen in den Speiseraum. Da im Moment keine Mahlzeit gehalten wurde, waren sie allein. Arnulf setzte sich und berichtete Bruder Markus davon, wie er zusammen mit Fra Branaguorno nach Samarkand vorgedrungen und in Gefangenschaft geraten war. »Mit etwas Glück gelang es mir, meinen Peinigern zu entkommen. Ich kehrte an jene Stelle zurück, an der ich Fra Branaguorno zurücklassen musste …«
»Ich nehme nicht an, dass Ihr ihn gefunden habt«, sagte eine Stimme, die Arnulf herumfahren ließ. In Begleitung des Novizen Andreas, der eine schnell und notdürftig zusammengestellte Mahlzeit herbeibrachte, betrat eine Gestalt in dunkler Kutte den Raum. Die Kapuze war über den Kopf gezogen und ragte tief ins Gesicht. Nicht die kleinste Einzelheit war aus Arnulfs Blickrichtung zu sehen.
Aber die Stimme allein reichte für ihn aus, um den Mönch sofort zu erkennen.
»Fra Branaguorno«, entfuhr es Arnulf gleichermaßen verwundert und erfreut. »Wie ist das möglich?«
Fra Branaguorno trat hinzu und setzte sich. Er behielt seine Kapuze auf dem Kopf und ergriff Arnulfs Hand. »Ich freue mich aufrichtig, Euch wiederzusehen, Arnulf von Ellingen. Angesichts der Umstände, unter denen wir uns aus den Augen verloren haben, war das keineswegs zu erwarten!«
»Da sagt Ihr ein wahres Wort, Fra Branaguorno!«, gestand Arnulf.
»Er ist schon vor Monaten hier angekommen«, erläuterte Bruder Markus. »Dabei war er kaum mehr als ein Gespenst, ein Schatten seiner selbst. Aber der Herr tut immer wieder Wunder – die Heilung seiner Wunde am Kopf ist zweifellos eines. Wir haben lange gebraucht, um ihn einigermaßen hochzupäppeln!«
»Ich bin immer noch schwach«, gab Fra Branaguorno zu. »Und die Folgen des Hiebes, den ich abbekommen habe, werden mich wohl länger begleiten. Aber ich will nicht klagen. Ich kann froh sein, dass ich noch lebe.«
»Aber Ihr müsst zugeben, dass Ihr hier bei uns bisher eine gute Pflege genossen habt!«, warf Bruder Markus ein.
»Für die ich Euch und Euren Helfern ewig danken werde«, sagte Fra Branaguorno.
Bruder Markus wandte sich an Arnulf. »Fra Branaguorno hat mir von dem schrecklichen Schicksal erzählt, das Euer Knappe Gero erlitten hat …«
Arnulfs Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Als ich aus dem Lager von Thorkild Eisenbringer floh, um dorthin zurückzukehren, wo wir überfallen worden waren, brauchte ich nur den kreisenden Berggeiern zu folgen. Sie hatten die Toten völlig zerrissen und nur Knochen übrig gelassen …«
»Sie hatten selbst vor einem noch Lebenden keinen Respekt«, erwiderte Fra Branaguorno. »Ich konnte mich in meinem geschwächten und elenden Zustand ihrer Gier kaum erwehren. Und so versäumte ich leider, dafür zu sorgen, dass Gero wie ein Christ beerdigt wurde …«
»Das solltet Ihr Euch nicht vorwerfen, Fra Branaguorno«, meinte Arnulf. »Auch mir blieb dazu keine Gelegenheit, denn Thorkilds Männer waren mir zu dicht auf den Fersen.«
»Er starb, noch ehe die Blüte seines Lebens richtig begonnen hatte«, sagte Fra Branaguorno daraufhin. »Aber sosehr wir es bedauern, das scheint der Lauf der Welt zu sein. Das Leben wird sinnlos genommen und verschwindet – und nur der Herr weiß, warum er den einen früh zu sich ruft und den anderen leben lässt, bis sich alle wünschen, er wäre bereits gegangen.«
Die Mahlzeit, die der Novize Andreas auf den Tisch gestellt hatte, war einfach, aber schmackhaft. Sie bestand aus Brot, Schmalz und frischem Wasser. Arnulf nahm einen kräftigen Schluck und biss in das Brot, das sogar noch warm war.
»Ihr solltet ein Badehaus aufsuchen, Arnulf«, fand Fra Branaguorno. »Und ich bin überzeugt, dass sich für Euch ein Paar neue Beinkleider und ein standesgemäßer Umhang besorgen lassen …«
Dieses Haus unterstand der Gesandtschaft des Kaisers in Magdeburg, sodass es eigentlich nicht schwierig sein durfte, genügend Geld aufzubringen, um sich für die Heimreise neu auszurüsten.
Fra Branaguornos neugieriger Blick galt immer wieder dem Schwert des Ritters, was Arnulf durchaus auffiel. Zweifellos war es dem Mönch nicht entgangen, dass es sich um eine andere Waffe als die handelte, die Arnulf sonst an der Seite getragen hatte. Schon an der Form des Handschutzes und am Griff war das deutlich erkennbar. Dazu brauchte Arnulf die Waffe nicht erst hervorzuziehen. Zudem passte die Klinge ganz offensichtlich nicht exakt in die Lederscheide an seinem Gürtel.
Arnulf legte die Hand an den Griff des Schwerts und sagte: »Es ist ein Beutestück, für das mir heute ein Kapitän aus Chrysopolis einen guten Preis machen wollte. Ich habe natürlich abgelehnt, weil es für mich unbezahlbar ist!«
Die beiden Männer wechselten einen kurzen Blick. Ein Lächeln erschien um Fra Branaguornos dünnlippigen Mund.
»Ich verstehe«, sagte er.
»Ich gab ihm stattdessen meine Sporen, um das thracische Ufer zu erreichen!«
»Ihr seid also nicht mit leeren Händen aus den Bergen jenseits von Samarkand zurückgekehrt!«
»So ist es.«
Näheres wollte Fra Branaguorno dazu im Augenblick offenbar nicht erfahren. Es würde sich eine Gelegenheit ergeben, bei der sie allein miteinander sprechen konnten. Fürs Erste reichte dem Mönch diese Information. Er wirkte jetzt etwas entspannter und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Vielleicht war unsere lange und beschwerliche Reise doch nicht umsonst«, sinnierte Arnulf, lenkte dann aber das Gespräch auf ein anderes Gebiet, obwohl Bruder Markus gerne ein paar zusätzliche Einzelheiten erfahren hätte, wie seinem enttäuschten Gesichtsausdruck anzusehen war. »Wie steht es denn um die Hochzeitsmission unseres verehrten Gesandten Johannes Philagathos?«, fragte Arnulf. »Werden wir bald wieder eine Kaiserin aus Byzanz an der Seite unseres obersten Lehnsherrn haben?«
»Im Moment stehen die Aussichten auf eine schnelle Einigung schlechter als noch vor einem Jahr, als ich Euch zum ersten Mal die Straßen dieser Stadt entlanggeführt habe, Arnulf!«, sagte Fra Branaguorno.
»So? Berichtet mir! Ich möchte genau im Bilde sein über die Beziehungen zwischen den beiden Kaisern und ihren Reichen!«
»Lasst es mich so zusammenfassen, werter Arnulf: Diese Beziehungen sind zurzeit nicht von vordringlicher Wichtigkeit. Ihr erinnert Euch, dass wir eine ziemlich formlose Audienz bei Basileios bekamen, der ja ohnehin dafür bekannt ist, das Protokoll gerne mal zu umgehen. Aber zurzeit wäre so etwas undenkbar. Die Verhandlungen von Johannes Philagathos stecken anscheinend im Morast der oströmischen Hofdiplomatie fest. Es ist Monate her, dass er mit dem Kaiser sprechen konnte, wie er mir selbst erst vor Kurzem sagte. Stattdessen musste er mit wechselnden Logotheten als Gesprächspartner vorliebnehmen.«
»Das ist bedauerlich«, meinte Arnulf. »Ich hatte gehofft, eine frohe Botschaft mit nach Magdeburg nehmen zu können, wenn es denn an die Heimreise geht …«
»Die Bulgaren sind auf dem Kriegszug. Sie sind nach Thracien eingefallen, und es ist nur eine Frage der Zeit, dass sie vor den Mauern der Stadt stehen«, berichtete Fra Branaguorno.
»Aber das wird seit Langem erwartet, und es sollte uns nicht allzu viel Sorgen machen«, mischte sich nun Bruder Markus ein. »Die Mauern der Stadt sind unüberwindlich! Es mag den Bulgaren gelingen, Thracien zu erobern, aber sie werden sich an den Schutzmauern genauso die Zähne ausbeißen wie die Goten. Und dann wird Basileios zurückschlagen und sich rächen!«
»Der Strom der Flüchtlinge, die in die Stadt kommen, hält jedenfalls unvermindert an«, stellte Fra Branaguorno fest. »Es werden jeden Tag mehr, und sie verbreiten nicht unbedingt die beste Stimmung gegenüber dem Kaiser. Schließlich scheint es ihm nahezu gleichgültig zu sein, dass die Bulgaren Thracien verwüsten. Er verlässt sich auf den Schutz seiner dicken Stadtmauern!«
»Und auf die Rückkehr eines großen Teils seiner Truppen, die derzeit an der Ostgrenze kämpfen, wo sich die Muslime gegenseitig töten!«, stellte Arnulf fest. »Ich hatte alle Mühe, nicht in diese Auseinandersetzungen hineinzugeraten, und war gezwungen, weite Umwege zu gehen.«
Nachdem sich Arnulf satt gegessen hatte, ließ Bruder Markus den Novizen Andreas Wein einschenken. Fra Branaguorno lehnte dankend ab, während Arnulf das Angebot nicht verschmähte. »Ein guter Tropfen«, stellte er fest, nachdem er bereits einen halben Becher davon geleert hatte.
»Wir werden dem Kaiserhof eine Botschaft zukommen lassen, dass Ihr eingetroffen seid«, sagte Bruder Markus. »Schließlich solltet Ihr ein persönliches Schreiben von Kaiser Basileios an Kaiser Otto nach Magdeburg bringen. Diese Angelegenheit muss ich noch mit Johannes Philagathos besprechen, aber ich denke …«
»Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr das nicht tun würdet«, unterbrach ihn Fra Branaguorno.
Bruder Markus, der nicht in alle Geheimnisse jener Mission, die Arnulf von Ellingen und den gelehrten Mönch betraf, eingeweiht war, runzelte die Stirn. »Aber weshalb nicht? Das wäre eine Gelegenheit, wieder zum Kaiser vorzudringen, denn er lässt unseren Gesandten seit Monaten am Hof weilen, ohne mit ihm zu sprechen oder sich in irgendeiner Weise zu äußern, ob er überhaupt noch daran denkt, die beiden christlichen Kaiserreiche durch eine Heirat zu verbinden.«
»Ihr solltet auch Johannes Philagathos nichts davon sagen, dass Arnulf von Ellingen nach Konstantinopel zurückgekehrt ist«, erklärte Fra Branaguorno.
»Das müsst Ihr mir erklären!«
»Die Ankündigung, Arnulf ein Dokument von Kaiser Basileios überbringen zu lassen, diente nur dem einen Zweck: der Kontrolle. Schon die Tatsache, dass wir zu ihm gerufen wurden, war verdächtig. Der Herr allein mag wissen, woher er so gut informiert war, aber anscheinend gab es Zuträger, die ihn misstrauisch gemacht haben …« Der Mönch machte eine Kunstpause und fuhr dann fort: »Ihr könntet uns einige Unannehmlichkeiten ersparen, wenn Ihr darauf verzichtet, Kaiser Basileios um die angekündigte persönliche Botschaft zu bitten.«
Bruder Markus wandte sich dem Ritter zu. »Früher oder später wird er doch erfahren, dass Ihr in der Stadt seid, Arnulf! Es gibt überall Spitzel!«
»Aber von dem, was die sagen, wird das meiste bei irgendeinem untergeordneten Logotheten hängenbleiben, so wie ich den oströmischen Hof kenne. Und bis diese Nachricht tatsächlich durchdringt, sind wir längst nicht mehr in der Stadt.«
Am nächsten Tag ging Arnulf von Ellingen zum Bader, und anschließend erwarb er einen neuen Umhang. Außerdem wurde ihm eine Hose angepasst. Das Lederwams war noch tragbar, das wollene Unterziehwams nach einer gründlichen Wäsche ebenfalls. Allerdings brauchten die Stiefel neue Sohlen, doch dafür gab es in den Handwerkergassen der Stadt genügend kundige Hände.
Es war Fra Branaguorno, der Arnulf von Ellingen mit den nötigen Münzen ausstattete. Woher dieses Geld stammte, ob aus den Mitteln seiner Ordensbrüder oder denen der kaiserlichen Gesandtschaft, oder ob er noch aus irgendwelchen anderen Quellen zu schöpfen vermochte, darüber gab Fra Branaguorno nur ausweichende Auskünfte.
Er selbst begleitete Arnulf nicht bei dessen Ausflügen in die labyrinthischen Gassen Konstantinopels. Die Verwundung, die er beim Angriff der Normannen davongetragen hatte, schien ihn weit mehr zu beeinträchtigen, als er zuzugeben bereit war.
»Ich will keine Kinder erschrecken, wenn ich durch die Straßen gehe«, sagte er Arnulf nur. »Als ich mich in Richtung Westen schleppte, ist das so manches Mal geschehen, wenn ich unbedacht die Kapuze meiner Kutte zurückschlug, um meine Wunde zu behandeln oder mich zu waschen.«
»Ich habe Euch daliegen sehen, als Thorkilds Männer mich fortführten, ohne Euch helfen zu können«, sagte Arnulf daraufhin. »Von den Normannen hätte keiner auch nur ein Kupferstück darauf gesetzt, dass Ihr zwei Stunden später noch am Leben sein würdet.«
»Um ehrlich zu sein – ich ebenfalls nicht«, gab Fra Branaguorno zurück. »Aber der Herr wollte mich offenbar noch nicht zu sich rufen.«
»Es ist wahrhaftig ein Wunder, dass Ihr überlebt habt.«
»Der Herr tut Wunder, damit wir an ihn glauben«, erklärte Fra Branaguorno. »So steht es in der Schrift.«
Nur ein einziges Mal in diesen ersten Tagen nach seiner Rückkehr sah der Ritter aus Sachsen, wie Fra Branaguorno sich die Kapuze zurückschlug. Es war am späten Abend im Schlafsaal ihrer Unterkunft. Das Licht einer einzelnen Kerze brannte flackernd in der Zugluft. Fra Branaguornos Haare waren länger, als dies bei Mönchen normalerweise der Fall war. Die Tonsur hielt er nicht mehr ein, und so verdeckte sein grauweißes Haupthaar weitgehend den Anblick des furchtbar gezeichneten Schädels.
Einige Tage später ließ Bruder Markus Arnulf zu sich rufen. Fra Branaguorno war nicht anwesend. Er hatte über Kopfschmerzen geklagt und hütete das Bett.
Arnulf machte sich deswegen Sorgen, aber Bruder Markus beruhigte ihn. »Seit Fra Branaguorno hier ist, hat er schon des Öfteren ganze Tage verschlafen, weil ihm die Folgen seiner schweren Verletzung zu schaffen machten.«
»In Konstantinopel gibt es doch angeblich die besten Ärzte der Christenheit!«, stieß Arnulf hervor. »Warum kann man ihm nicht in einem der Spitäler helfen, von denen er selbst mir auf unserem Ritt hierher vorgeschwärmt hat?«
»Er lässt niemanden an sich heran. Auch keinen Arzt. Und sein Wesen ist misstrauisch geworden. Er scheint keiner Seele mehr zu trauen. Selbst einen Extrakt der Mohnblume, den ich ihm von einem arabischen Händler am Eutherios-Hafen besorgt habe, rührt er nicht an, obwohl die entkrampfende Wirkung gut belegt ist!«
»Was würdet Ihr mir raten, um ihm zu helfen, Bruder Markus?«
»Ich fürchte, niemand wird ihm da helfen können. Niemand, außer dem Herrn selbst, den Ihr im Gebet anrufen solltet, Arnulf. Diese Anfälle haben nie länger als ein paar Tage gedauert, und sein Zustand hat sich meist von allein wieder gebessert.«
Der kleine, zur Korpulenz neigende Mönch holte tief Luft, als laste etwas auf ihm. Allerdings hatte die unsichtbare Last wohl nichts mit dem Zustand von Fra Branaguorno zu tun. »Ich muss etwas in aller Dringlichkeit mit Euch besprechen, was eigentlich auch Fra Branaguornos Anwesenheit erfordern würde. So bespreche ich die Angelegenheit nun mit Euch allein.« Der Mönch erhob sich von seinem Stuhl und ging zunächst zur Tür, um sich zu vergewissern, dass im angrenzenden Korridor niemand war, der lauschen konnte. Dann verriegelte Bruder Markus von innen die Tür des karg eingerichteten Raums, in dem er die Korrespondenz der kaiserlichen Gesandtschaft und andere Schreibarbeiten erledigte, die offenbar in einer Stadt wie Konstantinopel sehr viel reichlicher anfielen als beispielsweise in Magdeburg. In einfachen Holzregalen standen einige in Leder gebundene Folianten. Pergamente stapelten sich auf einem groben Holztisch. Teilweise waren sie in mühevoller Arbeit abgeschabt worden, damit man sie ein zweites Mal benutzen konnte – eine Arbeit, die vorzugsweise Ordensnovizen verrichteten, wie Arnulf wusste.
Bruder Markus holte nun ein Dokument zwischen zwei dicken Folianten hervor, das er dort aufbewahrt hatte. Er faltete es auseinander. »Diese Nachricht habe ich heute Morgen durch einen Boten bekommen. Darin wird ausdrücklich gefragt, ob Ihr, Arnulf von Ellingen, bereits zurückgekehrt seid oder ob mit Eurer baldigen Rückkehr zu rechnen ist, da der Kaiser ein persönliches Schreiben an seinen kaiserlichen Bruder aufgesetzt habe, das nur durch eine Person absoluten Vertrauens befördert werden dürfe …«
Arnulf wirkte einen Augenblick wie erstarrt.
»Wer hat das geschrieben?«, fragte er.
»Ein gewisser Petros Makarios«, gab Bruder Markus Auskunft. »Er ist der erste Logothet des Kaisers, Ihr könnt also davon ausgehen, dass dies nicht ohne das Wissen allerhöchster Kreise und wahrscheinlich des Kaisers selbst geschehen ist.«
»Ich verstehe …«, murmelte Arnulf.
»Begreift Ihr auch, was dies bedeutet? Man weiß bei Hof, dass Ihr zurückgekehrt seid. Ich weiß nicht, durch wen die Kunde dorthin gelangte, aber diese Stadt hat tausend Augen und noch mehr Ohren. Ich habe Euch von Anfang an gewarnt. Es war kein guter Vorschlag, Eure Anwesenheit verheimlichen zu wollen …« Er warf das Dokument auf den Tisch. »Dies ist nichts anderes als eine zwar diplomatisch verklausulierte, aber nichtsdestoweniger sehr unmissverständliche Aufforderung, Euch zu melden!«
»Ihr hattet Recht mit Eurer Bemerkung, dass eigentlich Fra Branaguorno anwesend sein müsste, und ich möchte die Angelegenheit auch zunächst mit ihm besprechen.«
»In dem Dokument ist eindeutig nur von Euch die Rede – wie bei dem Auftrag, ein persönliches Schreiben zu überbringen. Im Übrigen war dieser nie an Fra Branaguorno gerichtet, sondern an Euch und an niemanden sonst.«
»Könnt Ihr Euch darauf einen Reim machen?«
»Tut mir leid. Es gibt Rätsel des kaiserlichen Hoflebens, die man gar nicht erst versuchen sollte zu lösen, weil es sinnlos ist.«
»Darf ich die Nachricht einmal sehen, Bruder Markus?«
»Natürlich. Sie ist allerdings in griechischer Sprache verfasst, und ich glaube, Eure Kenntnisse darin sind sehr begrenzt, wenn ich das richtig in Erinnerung habe …«
Arnulf nahm das auseinandergefaltete Blatt. Es handelte sich zweifellos um Papier und nicht um Pergament. Das hatte er sofort erkannt. Als er es zwischen seinen Fingern hielt, kam ihm die Art und Weise, wie es sich anfühlte, vertraut vor. Was die griechischen Buchstaben anging, mit denen es beschrieben war, so erkannte er tatsächlich kaum seinen eigenen Namen, der im Text Erwähnung finden sollte. Aber das war für ihn einen Moment lang nebensächlich.
Er stand auf und ging zu einem der Fenster. Trotz der Alabasterblende fiel genug Licht ein, um das Wasserzeichen erkennen zu können. Es waren ineinander verschlungene griechische Buchstaben und die stilisierte Form der Kaiserkrone. »Ich habe solches Papier schon einmal gesehen«, stellte er fest. »In Samarkand in einer kleinen Werkstatt, in der Menschen aus dem fernen Reich der Mitte arbeiteten …«
»Ich weiß nicht, was das jetzt für eine Rolle spielt, werter Arnulf!«, gab Bruder Markus irritiert zurück. »Was soll ich tun? Man erwartet eine Antwort von mir!«
»Dann schreibt, dass ich zurückgekehrt bin und mich zunächst von den Strapazen der Reise erholen musste. Man möge mir den zu überbringenden Brief zukommen lassen, und ich werde ihn dem Kaiser des Westens übergeben.«
»Dann setze ich alsbald ein Schreiben mit diesem Inhalt auf.«
»Wisst Ihr, wo hier in Konstantinopel solches Papier hergestellt wird? Papier mit einem Zeichen aus Licht?«
»Ich habe davon gehört«, sagte Bruder Markus. »Es soll irgendwo zwischen Konstantin-Forum und Hippodrom eine Werkstatt geben, von einer Frau mit geschlitzten Augen geführt, in der so etwas gefertigt wird.«
»Li …«, murmelte Arnulf.
»Was habt Ihr gesagt?«
»Nichts …«
Für Bruder Markus war dieser Name vermutlich nichts weiter als eine sinnlose Silbe. Wie viele Frauen mit geschlitzten Augen, die sich auf die Kunst verstanden, Papier mit Wasserzeichen herzustellen, mochte es in der westlichen Hälfte der Welt schon geben? Nein, dachte Arnulf von Ellingen, das konnte kein Zufall sein. Ihm stand das Gesicht der jungen Han-Frau mit ihren feingeschnittenen Zügen, dem stillen, aber hintergründig wirkenden Lächeln und den langen, dichten blauschwarzen Haaren vor Augen. Aus irgendeinem Grund war ihm das Antlitz dieser Frau seit ihrer Begegnung in Samarkand nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Die Erinnerung an jenen Moment wurde wieder lebendig, da sie in der Nacht vor ihm stand und ihn vor Thorkild Eisenbringer zu warnen versuchte. Vielleicht hätte ich diese Warnung ernster nehmen sollen, ging es ihm durch den Kopf. Aber es war müßig, jetzt darüber nachzusinnen.
Die Worte des Mönchs hörte er wie aus weiter Ferne.
»Ich war nie ein Freund des Papiers«, sagte er. »Es ist im Allgemeinen wenig haltbar und sieht nicht edel genug aus, um heilige Worte zu tragen, und Bücher, die daraus gefertigt werden, gehen auseinander, weil die Fäden das Material durchschneiden …« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es wundert mich nicht, dass es sich bis jetzt als bevorzugtes Schreibmaterial nicht durchsetzen konnte – aber dieses Schriftstück, da habt Ihr Recht, ist von einer besonderen Qualität, wie ich zugeben muss!«
»Wisst Ihr irgendetwas Genaues über die Lage dieser Werkstatt, von der Ihr spracht?«, fragte Arnulf.
»Nein. Aber Bruder Darenius, der unsere Einkäufe auf den Märkten besorgt, weiß es bestimmt!«
Arnulf drängte sich durch die engen Straßen zwischen Hippodrom und Konstantin-Forum, dessen Säulen zu Ehren jenes römischen Kaisers, der der Stadt ihren Namen gab und als erster christlicher Kaiser angesehen wurde, zu den unübersehbaren Wahrzeichen des neuen Roms gehörten.
Den Weg zu der Papiermacherwerkstatt, aus der die Blätter mit den Wasserzeichen stammten, hatte sich Arnulf sehr genau beschreiben lassen. Er drängelte sich zwischen den fliegenden Händlern und Bettlern hindurch und erreichte schließlich ein zweistöckiges Haus.
Arnulf klopfte an die Tür.
Eine weibliche Stimme antwortete auf Griechisch.
Wenige Augenblicke später wurde geöffnet. Arnulf blickte in ein Paar mandelförmiger dunkler Augen. Das schwarze, glatte Haar war in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst. Sie trug ein Kleid aus einem samtenen, dunkelblauen Stoff, der am Kragen mit goldfarbenen Stickereien besetzt war. In ihrer Kleidung unterschied sie sich kein bisschen von den Frauen vieler Kaufleute und Handwerker, denen man einen gewissen Wohlstand durchaus ansehen konnte.
Um den Hals trug sie eine Silberkette mit einem Kreuz.
Arnulf schaute sie einen Augenblick lang nur an, und sie erwiderte diesen Blick mit der gleichen freudigen Verwunderung.
»Arnulf!«, stieß sie hervor – und der Ritter stellte dabei fest, dass sich an ihrer ganz eigentümlichen Art und Weise, seinen Namen auszusprechen, seit ihrer Begegnung in Samarkand nichts geändert hatte.
»Seid gegrüßt – Li!«, erwiderte Arnulf freundlich auf Latein.
»Es freut mich, dass Euch offenbar nichts geschehen ist«, sagte sie. »Es muss Schicksal sein, dass unsere Wege sich wieder kreuzen, wo doch nichts dafür sprach, dass wir uns je wieder begegnen würden. Aber tretet ein und sagt mir, was Euch zu mir führt.«
»Die Kunst Eures Handwerks«, sagte Arnulf. »Was habt Ihr denn gedacht? Eine Nachricht des kaiserlichen Logotheten erreichte die Gesandtschaft meines eigenen Kaisers, der im Regnum Teutonicorum regiert …«
»Saxland«, sagte Li. »So nennen es die Nordmänner. Ihr redet mit mir wie mit einer Dame. Daran muss ich mich erst gewöhnen …«
»Und Ihr scheint Euer Latein so perfektioniert zu haben, dass ich mir beinahe wie ein Barbar vorkomme.«
Ein verhaltenes Lächeln erschien in Lis Zügen. »Tretet ein«, sagte sie. »Und schließt die Tür hinter Euch, damit die Zugluft mir nicht die fertigen Blätter durcheinanderwirbelt! Ich muss fast alle Arbeiten allein machen, weil die örtlichen Gilden es mir nicht erlauben, Lehrlinge und Gesellen zu beschäftigen. So bin ich darauf angewiesen, mir hin und wieder von ein paar Tagelöhnern helfen zu lassen, was aber möglichst niemand merken sollte …«
Arnulf sah sich um. Am Fenster stand ein Tisch. Darauf entdeckte er Drahtstücke, die auf eigenartige Weise gebogen waren. Außerdem lag da ein Stapel mit frischen Blättern. Die eigentliche Werkstatt bestand aus einem einzigen Raum mit einer Drehpresse darin. Arnulf hatte ähnliche Mechanismen gesehen, die dem Auspressen von Früchten dienten. Aber diese Presse war so umgebaut worden, dass mit ihrer Hilfe das Wasser aus dem gerade geschöpften Papier entfernt und in Lagen aus saugfähigem Filz gesogen wurde. Gerade fertig gewordene Blätter hingen wie Kleidungsstücke von einer Wäscheleine herab, und es gab einen Bottich, der offenbar als Schöpfbecken diente. Auf einer Ablage befanden sich mehrere Siebe von sehr unterschiedlicher Größe und Beschaffenheit. Aus einem Nachbarraum waren stampfende Geräusche zu hören und hin und wieder ein paar Worte auf Griechisch.
Arnulf warf einen Blick durch die Tür und sah ein paar Männer mit hölzernen Stampfern Lumpen zu Brei zerstampfen. Ein weiterer Mann schüttete Wasser aus einem Holzeimer hinzu. Einer der Männer rief etwas auf Griechisch, und Li antwortete ihm. Arnulf verstand nicht, was gesagt wurde. Er begriff nur, dass es sich um irgendeine Anweisung handeln musste. Sie ging kurz in den zweiten Raum und sah, was die Tagelöhner bisher geschafft hatten.
Wie sehr hat sie sich verändert!, dachte Arnulf. Eine verschüchterte Gefangene, die gezwungen war, für ihre Herren zu arbeiten, hatte sich – offenbar dank ihres Talents – selbst in kleinem Rahmen zu einer Herrin gewandelt, die darauf achtete, dass Anweisungen akkurat so ausgeführt wurden, wie sie es für nötig hielt. Ihre Stimme klang dabei trotzdem stets freundlich und weich – aber gleichzeitig sprach sie mit großer Bestimmtheit und Klarheit. Da er ihre Worte nicht verstand, fiel ihm dies jetzt besonders auf.
»Habt Ihr das Land der Eisenberge gefunden?«, fragte Li an Arnulf gewandt.
»Ja, das habe ich – wir wurden von Thorkild Eisenbringer überfallen, und dabei starb mein Knappe.«
»Das tut mir leid.«
»Eure Warnung hätte ich mir mehr zu Herzen nehmen sollen. Aber erzählt mir von Euch. Wie kommt Ihr aus diesem elenden Verschlag in Samarkand hierher?«
»Das ist eine lange Geschichte – und auf der letzten Etappe dieses Wegs habe ich alle verloren, die mir lieb und teuer waren. Ich bin zusammen mit Ragnar dem Weitgereisten nach Konstantinopel gekommen, einem Händler, dem ich mich in Jerusalem anschloss. Ragnar ist ein Veteran der Warägergarde und unterhält Verbindungen bis in höchste Kreise des Palastes. Man sagt, dass ihm mehr als einer der obersten Logotheten finanziell verpflichtet ist und er dem Kaiser einst das Leben rettete. Diese Verbindungen waren es, die es mir ermöglichten, diese Werkstatt aufzubauen. Einige Proben meines Talents gelangten an höchste Stellen und fanden Gefallen. Jetzt kann ich mich vor lauter Arbeit kaum retten, denn diese Stadt hat einen großen Hof mit so vielen Schreibern, dass es kaum zu fassen ist, wie wenig hier bisher über die Herstellung von Papier bekannt war …« Sie schluckte, und ihr Gesicht veränderte sich. Ein Anflug von Traurigkeit überschattete ihre Züge, auch wenn sie sich Mühe gab, ihr verhaltenes Lächeln zu bewahren. »Nur schade, dass mein Vater dies nicht mehr erleben kann.«
»Was ist mit ihm geschehen?«, fragte Arnulf.
»Ein schlimmes Fieber suchte Jerusalem heim. Sowohl mein Vater als auch sein Geselle Gao sind ihm zum Opfer gefallen – und mit ihnen viele andere Menschen in der Stadt. Aber ich versuche, nicht in die Vergangenheit zu blicken, sondern in die Zukunft und das Gute zu sehen, das der Herr für uns bereithält.«
»Es ist eigenartig, Euch auf diese Weise reden zu hören«, fand Arnulf.
Sie berührte das silberne Amulett um ihren Hals. »Ich habe mich taufen lassen«, sagte sie. »Ich glaube inzwischen nicht mehr, dass irgendein Gott bereit ist, das Leiden des Menschen zu beseitigen. Aber der Gott der Christen hilft einem, es leichter zu ertragen, weil er Mensch wurde und selbst gelitten hat …«
»Da mögt Ihr Recht haben«, gab Arnulf zurück. »Obwohl ich gestehen muss, mir über diese Dinge nie so tiefgehende Gedanken gemacht zu haben.«
In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen, und zwei Männer kamen herein, die über und über mit Lumpen beladen waren, sodass sie darunter fast verschwanden.
Li wies ihnen eine freie Ecke innerhalb der Werkstatt zu, in die sie die Lumpen ablegen sollten, und bezahlte sie anschließend mit ein paar Kupfermünzen, wobei sie einige Worte auf Griechisch mit ihnen wechselte.
Auch diese Männer waren offenbar Tagelöhner, wie sie von einer Stadt wie Konstantinopel zu Tausenden angezogen wurden und sonst zumeist im Hafen ihr Auskommen fanden.
»Ich sehe, Ihr habt viel Arbeit«, sagte Arnulf.
Sie sah ihn an, und ihre Blicke verschmolzen für einen kurzen Moment. »Wie lange beabsichtigt Ihr, in Konstantinopel zu bleiben?«, fragte Li dann. Ihr Latein wirkte plötzlich unsicher, und sie begann, sich zu verhaspeln.
»Das steht noch nicht genau fest«, antwortete Arnulf. »Zumindest eine Weile.«
»Dann muss ich Euch ein zweites Mal davor warnen, Thorkild Eisenbringer zu begegnen.«
»Wie kommt Ihr darauf?«
»Ich habe mich bei Ragnar dem Weitgereisten über ihn erkundigt. Die beiden kennen sich gut. Wenn Thorkild Eisenbringer selbst über die Flüsse, die durch das Land der Rus führen, in die Heimat der Nordmänner fährt, dann reist er auf dem Rückweg über Konstantinopel, bevor er sich wieder zu den Eisenbergen begibt. Er bringt dann eine ganz besondere Ware hierher.«
Arnulf hob die Augenbrauen. »Und die wäre?«
»Junge Männer aus seiner Heimat. Männer, die bereit sind, sich in der Warägergarde des Kaisers für gutes Silber anwerben zu lassen. Thorkild bekommt dafür einen Anteil am Geschäft, so sagt man. Und an Gardisten besteht hier ständig Bedarf«, gab Li ihrer Überzeugung Ausdruck. »Ihr seht, früher oder später wird er mit einem Schiff voller Söldner anlegen.«
»In diesem Fall sollte ich ihm besser nicht begegnen«, meinte Arnulf.
Ihr Blick wurde ernst. Sie trat auf ihn zu, und ihre Hand berührte ihn leicht am Oberarm. »Warum sollte dieser Mann sein Mordkomplott Euch gegenüber vergessen haben? Ihr könnt eines Tages wieder in die Eisenberge reiten, und vielleicht wird der Strom dieses Metalls dann an ihm vorbeiziehen, ohne dass er ihm noch irgendeinen Gewinn bringt! Davor hat er Angst!«
»Ja, das mag schon sein.«
»Und dafür würde er töten, gleichgültig unter welchen Umständen.«
Arnulf lächelte mild. »Ihr habt keine Vorstellung davon, wie weit die Reise ist, die er zurücklegen muss, und welche Hindernisse dabei zu überwinden sind. Er wird also eine Weile unterwegs sein, falls Eure Annahme den Tatsachen entspricht. Und ich glaube nicht, dass er es wagen würde, hier in Konstantinopel etwas gegen mich zu unternehmen – und wenn, würde es ihm schlecht bekommen, da ich ausersehen bin, eine persönliche Botschaft des östlichen an den westlichen Kaiser zu überbringen.«
»Mächtige Mauern wie die von Konstantinopel bedeuten keinen Schutz für Euch, Arnulf«, sagte sie.
Es rührte ihn, wie sie sich um ihn sorgte – und ihre Berührung hatte ein Gefühl in ihm ausgelöst, das ihn verwirrte und das er nicht hinreichend zu erklären wusste. Er deutete auf den Stapel von fertigen Blättern. »Mein Kaiser ist ein noch sehr junger Mann, der allem Neuen aufgeschlossen gegenübersteht und sehr belesen ist. Viel belesener als die meisten Gelehrten in den Abteien unseres Reichs. Er würde sich gewiss freuen, wenn ich ihm ein paar Proben Eures Talents zeigen könnte.«
»Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte Li.
Arnulf nahm eines der Blätter vom Stapel und hielt es gegen das Licht. Es war ohne ein Wasserzeichen.
»Es ist von exzellenter Qualität«, sagte Li. »Es fasert nicht an den Seiten, es ist gerade beschnitten und hat eine leichte, farblose Lackierung, die ihm eine glatte Oberfläche verleiht. Keine Unregelmäßigkeit kann den Strich der Feder ablenken, und die Saugfähigkeit ist durch die Lackierung so vermindert, dass die Tinte nicht seitwärts verläuft wie ein Fluss, der über das Ufer tritt und sich in die Auen ergießt.«
»Vielleicht könnt Ihr mir ein paar solche Bogen überlassen, damit ich sie Kaiser Otto zeige«, schlug Arnulf vor. »Denn ich würde ihm gerne die Vorzüge der Papierherstellung darlegen, wenn ich ihn in Magdeburg wiedersehe.«
»Sagt mir einfach Bescheid, bevor Ihr Euch auf die Reise macht, Arnulf. Ich werde Euch in der Zwischenzeit ein paar schöne Blätter vorbereiten – darunter auch solche, die ein Wasserzeichen tragen.«
»Dafür wäre ich Euch sehr dankbar. Und nun will ich Euch nicht länger von Eurer Arbeit abhalten.«
»Ihr habt mich von nichts abgehalten, was wichtig gewesen wäre«, erwiderte Li.
In der Tür drehte Arnulf sich noch einmal herum. »Vielleicht gestattet Ihr, dass ich Euch während der Zeit, die ich in Konstantinopel bin, noch einmal besuche, wenn Ihr weniger zu tun habt …«
»Gerne«, erwiderte Li.
»Bestimmt wisst Ihr einiges Interessantes über jenes Land bei Samarkand zu berichten, in dem uns der Herr zusammenführte.«
»Mawarannahr«, sagte sie. »So heißen seine Bewohner. Das bedeutet ›das Land hinter dem Fluss‹. Die Griechen nennen es Transoxanien.« Ihre Blicke begegneten sich noch einmal. Und als er gegangen war, schaute sie ihm durch das Fenster nach, bis er zwischen den vielen Menschen verschwand.