16

I

n der Gaststätte hatte er schon mal gesessen und das Haus beobachtet, in dem Sonjas Wohnung lag. Er wusste nicht so recht, ob es ihn weiterbringen würde, aber wo sollte er ansetzen? Er hatte zwei Wochen, dann würden sie die Jagd auf ihn eröffnen. Da war es besser, er vertauschte die Rollen. Auch wenn sich das leichter dachte, als es war. Er hatte es mit einer Übermacht zu tun. Wenn ich es genau betrachte, lege ich mich gerade mit dem mächtigsten Untergrundapparat der Welt an, mit der Internationale, der bolschewistischen Partei und der Tscheka. Immer vorausgesetzt, meine Schlüsse stimmen.

Er saß allein im Gastraum, der Wirt lehnte am Tresen und blätterte in einer Zeitung. Zacharias trank einen Schluck von seinem Tee, er schmeckte so grässlich wie beim letzten Mal. Dann ging er zum Telefon und rief im Präsidium an. Lohmeier hatte wieder Stallwache, Zacharias hasste die Stimme, er wurde die Erinnerung an sein erstes Zusammentreffen mit dem Polizisten nicht los. Lohmeier war aufgeregt, das hatte Zacharias noch nicht erlebt.

»Wir haben ihn! Wir haben ihn!«

So musste er früher gebrüllt haben, als sie Sozialdemokraten jagten oder Spartakisten nach dem Januaraufstand. »Wir haben ihn!«

»Wen?« fragte Zacharias, obwohl er wusste, wen sie gefangen hatten. Aber er wollte nicht einstimmen in den Jubel eines Mannes, den der Jagdtrieb überwältigt hatte.

»Tibulski, Gustav Tibulski!« rief Lohmeier in einem Tonfall, der zeigte, dass er nicht verstand, warum Zacharias nicht von selbst darauf gekommen war, wen sie erwischt hatten. Zacharias wies Lohmeier an, Tibulski einzusperren, das Verhör behalte er sich vor. Lohmeier war die Enttäuschung anzumerken, und doch wunderte sich Zacharias, wie reibungslos der Polizist bereit war, den neuen Herren zu dienen, die er zuvor bekämpft hatte. Wie viele von uns mochte er auf der Flucht erschossen haben?

Zacharias nahm sich die Freiheit vom Tresen, legte sie aber gleich wieder zurück, als er las, dass es die Ausgabe vom 31. März war, von gestern. Er saß gerade wieder an seinem Tisch vor dem Tee, als drüben die Haustür sich öffnete. Sonja trat heraus. Die harte Wintersonne ließ ihr Haar unterhalb des Hutrands glänzen.

Zacharias hatte bereits gezahlt und verließ die Gaststätte, der Wirt beachtete ihn nicht. Er folgte Sonja, die mit Straßenbahn und U-Bahn eine Strecke zurücklegte, die Zacharias kannte: Sie fuhr zu Friesland in die Metzer Straße. Als sie im Haus verschwunden war, überfiel Zacharias die Niedergeschlagenheit. Was hatte er nun herausbekommen? Nichts, jedenfalls nichts, das er nicht schon wusste. Was bewies Sonjas Besuch bei Friesland? Nichts. Warum hatte er Sonja verfolgt? Er wusste es schon nicht mehr. Darin zeigte sich der Beginn von Panik: Du tust Dinge, die nutzlos sind, obwohl du keine Zeit hast. Du tust das, weil du nicht weißt, wie du es anstellen sollst. Wo ist der Zipfel, an dem du ziehen kannst, um das Komplott ans Tageslicht zu befördern? Er schüttelte den Kopf, stampfte wütend mit dem Fuß auf und eilte zum Polizeipräsidium.

Dort ließ er gleich Tibulski vorführen und schickte alle Mitarbeiter aus dem Raum.

»Kennen Sie mich, Genosse?«

Tibulski nickte. Er sah erschöpft aus, die Haare waren schmierig, unter geröteten Augen trug er Ringe. »Lichtenberg«, sagte er mit leiser Stimme.

»Genau, Lichtenberg.«

Tibulski sank weiter in sich zusammen.

»Sie würden jetzt lieber schlafen, stimmt’s?«

Tibulski nickte.

»Aber Sie sehen ein, es geht nicht. Ich muss wissen, warum Sie in die Reichskanzlei eingedrungen sind.«

Tibulski verdrehte die Augen. »Es war so eine Art Wette.«

»Was?«

»Na ja, der Tetsche sagte, in den Regierungsgebäuden, da kann jeder ein und aus gehen, wie er will. Wir haben getrunken, nach der Schießerei in Lichtenberg haben wir uns besoffen, und nicht nur einmal.«

»Weil Sie überlebt haben.«

»Weil es dieses Wunder gab. Und wenn ein Wunder passiert, na, dann muss man sich einen hinter die Binde kippen. Ist doch klar, oder?«

»Natürlich.« Der Mann sagte die Wahrheit, und diese Wahrheit war absurd. Es war ein Streich von Betrunkenen, der zum Mordanschlag aufgeblasen worden war. »Deswegen haben Sie nicht auf die Genossin Luxemburg geschossen?«

Tibulski schaute Zacharias an, als wäre der verrückt.

»Wir riskieren doch nicht unser Leben für Rosa, um sie dann zu ermorden.«

»Aber zwei Genossen wurden erschossen und etliche verletzt.«

Tibulski rutschte hin und her auf dem Stuhl, als suchte er eine bequemere Sitzposition.

»Wer von Ihrer Truppe war das?«

»Ich weiß nicht.«

»Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Das waren zwei, die völlig betrunken waren. Die wollten das nicht, haben mit den Gewehren herumgefuchtelt, na ja, und dann ist es passiert.«

»Namen, Adressen?«

»Keine Ahnung.«

Zacharias sagte nichts. Er glaubte dem Mann nicht, aber es würde ihn im Augenblick nicht weiterbringen, zwei Randalierer zu jagen, die im Suff herumgeballert hatten. Es widersprach seinem Gerechtigkeitsempfinden, diese Leute nicht zu verfolgen. Aber er hatte keine Zeit. In zwei Wochen lief seine Uhr ab, bis dahin musste er alles geregelt haben. Vor allem, dass er überlebte. Margarete war einigermaßen sicher in Königs Wusterhausen. Aber was war mit Rosa? Wenn er richtig kalkulierte, hatte sie noch zwei Wochen plus eine unbekannte Zeitspanne, die ein neuer Auftragsmörder brauchte.

Er ließ Tibulski in die Zelle zurückbringen, befahl einen Wagen vor den Haupteingang und wies den Fahrer an, im Höchsttempo zur Reichskanzlei zu fahren. Dort angekommen, erfuhr er, dass Rosa im Reichstag sei. Warum hatte er nicht vorher angerufen? Seit er keine Zeit mehr hatte, verschwendete er sie.

Er trieb den Fahrer an. Der hielt mit quietschenden Bremsen vor dem Haupteingang des Reichstags. Überall Bewaffnete, sie saßen und standen herum. Einer packte Zacharias am Arm, als der die Treppe hochstürmte. »Ich muss zur Genossin Luxemburg«, drängte Zacharias. »Ich habe es eilig.«

»Natürlich«, lachte der Soldat. »Wir leben nicht ewig.« Er winkte einen anderen heran. Auch der trug keine Rangabzeichen. »Der will zur Genossin Volkskommissar«, sagte der erste Soldat lachend. Er kratzte sich im Schritt.

»Das wollen viele«, sagte der andere. »Und wer ist der Bürger?«

»Ich bin der Genosse Sebastian Zacharias, Leiter der Untersuchungskommission zur Aufklärung des Mordanschlags auf die Genossin Luxemburg.«

»Dann haben Sie bestimmt einen Dienstausweis«, sagte der zweite Soldat. Er hatte Pickel im Gesicht.

Zacharias suchte in den Taschen. Seit er diesen Ausweis besaß, war er nicht ein einziges Mal danach gefragt worden. Wahrscheinlich lag er in einer Schreibtischschublade. »Ich habe ihn vergessen. Haben Sie denn Dienstausweise?« fragte er die Soldaten.

»Brauchen wir nicht«, sagte der erste.

Es hatte sich ein Pulk von Soldaten um die drei versammelt.

»Jetzt schicken Sie schon jemanden rein zur Genossin Luxemburg und sagen Sie ihr, ich müsse sie sprechen, dringend.«

»Soso«, sagte der zweite Soldat. Er schaute sich um, dann zeigte er mit dem Finger auf einen weiteren Soldaten. »Geh mal rein, ein Genosse« – er forderte Zacharias mit einem Blick auf, seinen Namen zu wiederholen – »möchte die Genossin Volkskommissar besuchen. Beeil dich.«

Der Mann ging gelassen in Richtung Eingang, während sich der erste Soldat eine Zigarette anzündete. Er nahm die Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen. »Ein bisschen was Warmes«, sagte er. »Warum machen wir diese Revolution eigentlich im Winter? Stell dir vor, im Sommer, da kann man sich auf die Wiese legen, baden gehen. Aber nun? Die Nächte, mein Gott, was sind die kalt. Wir stehen hier rum, die Konterrevolution versteckt sich, und wir warten und warten. Aber sie werden kommen, glaub mir, Genosse, sie werden kommen.«

Ja, dachte Zacharias, wo bleiben Reichswehr und Freikorps? Warum greifen sie nicht an? Warum schenken sie uns die Zeit, uns zu sammeln? Da lachte er bitter. Sammeln, wir uns sammeln? Je länger wir an der Macht sind, desto größer das Durcheinander. Jeder macht, was er will.

Er sah den Soldaten im Laufschritt sich nähern. »Kommen Sie!« rief er von weitem. »Kommen Sie, Genosse, die Genossin Volkskommissar erwartet Sie.«

Der erste Soldat schaute Zacharias von oben bis unten an. Dann schlug er ihm hart auf den Rücken. »Nichts für ungut«, sagte er. »Wir tun nur unsere Pflicht.«

Zacharias folgte dem Uniformierten in den Reichstag. Die Pforte war besetzt, der Mann stellte ihm einen Passierschein aus, nachdem er mit jemandem telefoniert hatte. Zacharias fand Rosa in einem Bürozimmer im ersten Stockwerk. Jogiches saß in der Ecke, las Zeitung und rauchte. »Ja, Genosse Zacharias«, sagte Rosa.

Die Tür ging auf. Zacharias konnte nicht erkennen, wer sie geöffnet hatte. »Die Delegation aus Halle wartet schon drei Stunden!« Eine Frauenstimme, nervös, übernächtigt.

»Schicken Sie sie rein«, sagte Rosa. »Warten Sie bitte solange«, sagte sie zu Zacharias. In ihrem Gesicht las er Hilflosigkeit angesichts der unendlichen Zahl von Wünschen, die die Menschen im revolutionären Deutschland an den Volkskommissar für Wirtschaft richteten.

Es erschienen fünf Männer. Sie hatten sich fein gemacht, trugen Anzüge und Schlipse, die Aufregung hatte sie gepackt. Der kleinste von ihnen, mit einem verschlissenen Kragen und Schweiß auf der Stirn, überbrachte die Grüße des revolutionären Hallenser Proletariats. Er stotterte, weil er kämpferisch klingen wollte.

Zacharias beobachtete die Szene genau. Rosa blieb geduldig, sie hörte zu, obwohl der Delegierte fast ewig brauchte, bis er zum Grund der Reise nach Berlin kam. Es gebe nicht genug zu essen, die Menschen hungerten, Plünderungen begännen, sobald die Sonne untergegangen sei, Überfälle und Vandalismus trieben die Menschen nachts in die Häuser. Die Miliz komme nicht dagegen an, zumal auch die Polizisten hungerten und es daher erste Fälle von schwerem Disziplinbruch gegeben habe. Die Industrie und der Handel lägen am Boden, die Arbeiter blieben zu Hause oder zögen übers angrenzende Land, weil das Rohmaterial fehle. Die Bauern in der näheren Umgebung der Stadt würden immer öfter auf Menschen schießen, die die Höfe wegen Brot, Fleisch und Eiern fast stürmten. Die Arbeiter böten zum Tausch alles an, was in den Fabriken nicht niet- und nagelfest sei, Werkzeuge, Textilfäden, Öl. Die Prostitution gehe um. Männer gäben sich aus als Kommissare und requirierten eigenmächtig in Läden und sogar Privathaushalten.

Zacharias las in Rosas Gesicht, dass sie diese Klagen kannte. Sie sah müde aus, ja sogar krank, die bleiche Gesichtshaut betonte ihre dunklen Augen um so mehr. Und dann sprach sie, langsamer, als Zacharias es kannte, langsamer, damit die Arbeiter sie verstanden und weil sie so müde war. »Haben Sie sich an die Parteien in Halle gewendet? Wie soll ich Ihnen von Berlin aus helfen?«

»Die USP hat sich fast aufgelöst, man trifft die Genossen des Vorstands beim Organisieren, wie das heißt. Ja, und die Spartakisten, das sind nur ein paar. Wenn sie nicht auf Essenssuche sind, mühen sie sich. Aber in Wahrheit sind sie hilflos. Die Miliz, ach, die Miliz …« Er machte eine verächtliche Handbewegung.

»Was stellen Sie sich vor? Soll ich Ihnen die Rote Armee schicken? Sie sind zu fünft. Sammeln Sie Gutwillige um sich. Machen Sie dem Arbeiter-und-Soldaten-Rat Druck. Übernehmen Sie die Führung, wenn die Parteien das nicht können. Die Arbeiter können nur sich selbst befreien, niemand wird es ihnen abnehmen. Aber wenn die Arbeiter versagen, da kann keine Partei an ihre Stelle treten, selbst wenn die revolutionären Parteien stärker wären als bei Ihnen in Halle.«

»Wir haben gehört, Schiffe aus Russland landen in Hamburg, bald. Mit Weizen und Fleisch.«

Rosa nickte bedächtig. »Ja, nächste Woche vielleicht. Aber es ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Russen können nicht achtzig Millionen Deutsche ernähren. Wir müssen das schon selbst hinkriegen. Stellen Sie Agitationstrupps zusammen, die aufs Land gehen und mit den Bauern reden. Die Regierung hat einen Appell an die Entente gerichtet, die Hungerblockade aufzuheben. Aber wir werden nicht einmal eine Antwort bekommen. Wir schätzen die Solidarität unserer russischen Genossen. Aber sie brauchen den Weizen und das Fleisch so dringend wie wir.«

Die Delegierten traten ab. Rosa lehnte sich zurück und stöhnte. Jogiches, der schweigend zugehört hatte, setzte sich auf einen Stuhl am Tisch, die Zigarette in der Hand.

»So geht das Tag für Tag, Genosse Zacharias. Ich komme mir vor, als wäre ich Gott, sie glauben, ich könnte und wüsste alles. Warum nur, Leo, sind die Schwaben solche kopflosen Wesen? Die einzigen deutschen Revolutionäre kommen aus Polen.«

»Ich komme aus Litauen, auch wenn du das in dem dir eigenen großpolnischen Chauvinismus schon annektiert hast. Da bist du genauso schlimm wie Radek.« Er lachte und nebelte seinen Kopf ein mit Rauch.

Sie lächelte. »Schön, dass dir noch Scherze einfallen, bist ja sonst kein Witzbold. Besser wäre es aber, du wüsstest, was wir diesen Genossen raten können. Ist das die Alternative, Leo: Leninismus oder Untergang? Liebknecht hat das für sich beantwortet. Er ist nun unser größter Leninist. Pardon, welch Fauxpas, natürlich ist Lenin ein Liebknechtist.« Enttäuschung färbte ihre Stimme, sie war müde, zornig, enttäuscht.

»Nicht nur er, die Mehrheit.« Er wandte sich an Zacharias. »Gestern abend hat die Zentrale beschlossen, dass wir der USP einen Gewaltkurs vorschlagen. Disziplinlosigkeit soll bestraft werden, die Parteien will man verschmelzen und der Internationale unterstellen, damit dieser Schreihals Sinowjew die Befehlsgewalt übernehmen kann. Ex oriente lux.«

»Was man zugeben muss, so wie Lenin und Trotzki es machen, geht es, jedenfalls eine Weile. Nur, ist das der Sozialismus, für den ich im Gefängnis gesessen habe? Für den so viele gekämpft haben und gestorben sind? Die Diktatur von ein paar selbsternannten Führern, die jeden verfolgen, den sie als Feind ausgemacht haben? Leo, ist es das?«

Er schüttelte den Kopf.

»Und was meinen Sie, Genosse Zacharias?«

»Was soll man entscheiden, wenn zwei Übel zur Wahl stehen: die Anarchie oder der Terror. Vielleicht ist der Terror die bessere Wahl, für eine Übergangszeit, bis die Macht gefestigt ist, damit dann die sozialistische Demokratie aufgebaut werden kann.«

Sie schaute ihn finster an. »Wenn man einmal die falschen Mittel einsetzt, dann kommt man nicht mehr davon los. Wer anfängt mit dem Morden, der muss immer wieder töten.«

Zacharias wusste es. Aber sein Verstand wehrte sich. Es konnte doch nicht sein, dass die Menschen diese Chance nicht ergriffen, sich selbst zu befreien von Ausbeutung und Krieg. »Aber wir können doch nicht einfach abtreten.«

Sie lachte los, aber das Lachen war bitter. »Das verhindere die Zentrale, die längst an die Stelle aller Götter getreten ist. Liebknecht und Pieck, Friesland vorneweg, sie wollen losschlagen, aber im Gegensatz zu Russland können sie das nicht einfach so. Heute abend noch ist Sitzung der Regierung, da werden die Fetzen fliegen.«

Jogiches zündete sich eine neue Zigarette am Stummel der letzten an. »Wie ich höre, arbeiten die Moskowiter schon in der USP. Vereinigung unter dem Banner der Internationale, das ist die Parole. Man munkelt, diese Fraktion gewinne die Mehrheit und auf dem nächsten Parteitag würden alle ausgeschlossen, die sich nicht der neuen Linie unterwürfen.«

»Lenin hat das geschickt eingefädelt.« Rosa lächelte. »Er betreibt die Einmischung nicht über die Partei, sondern über die Internationale, in der die Bolschewiki das Kommando haben. Der Genosse Eberlein hat da genug berichtet aus Moskau.«

»Wenn Sie gestatten«, sagte Zacharias.

Beide blickten ihn an, fast schienen sie erstaunt, dass er noch da war.

Jogiches nickte.

»Es gibt jetzt wirklich einen Mordplan gegen die Genossin Luxemburg …«

»Das wissen wir«, sagte Rosa. »Aber wir haben jetzt Wichtigeres …«

»Ich soll Sie ermorden. Sie haben tatsächlich mich ausgesucht.«

Wieder blickten ihn beide an. »Wie bitte?« fragte Jogiches.

»Ja, ich bin der Mörder.« Dann erzählte er von Bronskis letztem Besuch. »Ich habe vierzehn Tage Zeit, jetzt sind es fast nur noch dreizehn. Die Zeit läuft ab.«

»Und wer steckt nun dahinter?« Jogiches mühte sich, ruhig zu bleiben.

»Die Internationale, Sinowjew. Aber ich nehme an, dass das abgesprochen ist. Sinowjew würde sich nie trauen, so etwas ohne Beschluss des Zentralkomitees anzuordnen. Und gewiss ist es mit der Tscheka verabredet.«

»Dann ermorden Sie mich bitte nicht«, sagte Rosa. »Später vielleicht.« Sie lächelte.

»Wenn ich es nicht tue, bekommt ein anderer den Auftrag. Und ich werde als Deserteur gejagt.«

»Wer?« Jogiches starrte Zacharias an.

»Irgendeiner, der leichten Zugang hat zur Genossin Luxemburg. Irgendeiner, dem es keiner zutraut. Vielleicht der Genosse, der sie beschützen soll. Vielleicht der Bote, der ihr eine Nachricht bringt. Vielleicht Mitglieder einer Arbeiterdelegation. Vielleicht eine Genossin aus dem Ausland, eine gute alte Genossin.«

»Dserschinski«, sagte Rosa nur. Es klang wie: Er doch nicht, das ist unmöglich. »Lenin«, sagte sie noch. Dann: »Trotzki.«

»Lenin ist krank seit dem Attentat, vielleicht weilt er zur Kur und weiß nichts. Trotzki schwebt über den Dingen. Ob er mitmacht, keine Ahnung. Aber Dserschinski, der ist eingeweiht, wenn er nicht selbst der Urheber ist und Sinowjew angestiftet hat.«

»Warum?« fragte Jogiches.

»Er gehorcht der Notwendigkeit der Geschichte, so jedenfalls wird er es sehen. Ich habe mit ihm gesprochen, kurz bevor ich nach Deutschland zurückgekehrt bin. Die Bolschewiki stehen mit dem Rücken an der Wand. Wir sind ihre Hoffnung. Aus ihrer Sicht ist es unsere Pflicht, zu siegen. Der Grund, dass wir einer Niederlage entgegengehen, heißt Luxemburg.« Er entschuldigte sich mit einem Blick bei Rosa.

»Das brauchen Sie mir nicht mehrmals zu erklären, ich habe es schon beim ersten Mal begriffen. Und nun, Leo?«

»Wenn sie ein Mordkommando schicken, werden sie vielleicht Erfolg haben. Du hast noch knapp zwei Wochen Zeit.«

»Für was, Leo? Zwei Wochen für was?«

Sein Blick senkte sich auf den Boden.

»Den Kotau zu machen. Das meinst du doch? Zur Leninistin zu werden.« Sie legte Verachtung in das Wort Leninistin. »Eine Diktatur zu errichten, wie sie Friesland und Konsorten wollen. Das würde mir den Kopf retten, nicht wahr? Da würden sie jubeln.« Sie war aufgestanden und lief ziellos umher. Einmal stampfte sie mit dem Fuß auf. »Dieses Pack, ich habe ihnen nie getraut. Wir hätten längst eine Mauer errichten müssen zwischen denen und uns. Zacharias, sagen Sie etwas. Was sollen wir tun?«

Er hatte die Frage gefürchtet. »Wenn Sie überleben wollen, dann verstecken Sie sich. Ich helfe Ihnen, ich werde Sie beschützen. Vielleicht inszenieren wir Ihren Tod, dann haben Sie eine Weile Ruhe.«

»Verstecken! Verstecken! Im revolutionären Deutschland soll sich Rosa Luxemburg verstecken! Lächerlich! Wahnsinnig!« Sie schrie. Dann blieb sie plötzlich stehen und versank in Nachdenken.

»Wir haben fast zwei Wochen Zeit, Sie in Sicherheit zu bringen. Vielleicht nach Stuttgart, erst einmal, zu Ihrer Freundin Zetkin. Dann kann man weitersehen.«

Sie antwortete nicht.

»Oder nach Frankfurt am Main, wo der Genosse Levi wohnt, das ist doch Ihr Anwalt.«

»Dort wird man sie zuerst suchen, und Levi haben sie auch im Visier«, knurrte Jogiches hinter der Rauchwolke, die er stets von neuem vor sich hin blies.

Sie schwiegen lange. Rosa setzte sich, blätterte in Akten auf ihrem Tisch, ohne sie zu lesen. Dann sagte sie: »Wir warten die Sitzung des Rats ab, danach treffen wir uns hier. Genosse Zacharias, Sie begleiten mich zum Rat der Volkskommissare, du bist ja ohnehin dort, Leo.«

Sie hatte sich gefangen. Ihrer Stimme hörte man an, sie würde kämpfen. Aber wie soll man gegen einen Tod kämpfen, den man nicht sieht? Zacharias grübelte. Er malte sich Fluchtwege aus. Wohin konnte sie gehen? In Deutschland kannte sie jedes Schulkind, und wie sollte man sie jahrelang verkleiden und verstecken? Selbst wenn es ging, Zacharias spürte, sie würde es nicht aushalten. Welchen Sinn konnte ihr Leben haben, wenn sie aus der Politik ausschied? Im Gefängnis, da war es anders gewesen. Sie musste sich nicht verstecken, und sie hat es immer verstanden, Artikel und Briefe herauszuschmuggeln. Ihre Freundin und Sekretärin Mathilde Jacob hatte eine Meisterschaft darin entwickelt, Dinge ins Gefängnis zu schaffen und heraus. Aber wenn Rosa heute im Gefängnis säße, sie könnte hinausschmuggeln, was sie wollte, niemand würde es drucken.

Dann fiel ihm der einzige Fluchtort ein, den er ihr vielleicht würde schmackhaft machen können: Zürich, wo sie studiert und mit Leo Jogiches gelebt hatte. Womöglich gelang es, die Familie von Polen nach Zürich zu holen, ein weiterer Ansporn. In Zürich würde sie schreiben können, sie würde Zeitungen finden und Buchverlage, die ihre Arbeiten veröffentlichen würden. Sie könnte die Entwicklung in Deutschland und Russland analysieren, weltweit würde man nachdrucken, was sie schrieb. Und er, Zacharias, er würde dort frei leben können, ohne töten zu müssen, ohne zu fliehen vor den eigenen Genossen, die einen zum Mörder gemacht hatten. Und er würde auf sie aufpassen, weil sie immer mit einem Mörder aus Moskau rechnen mussten.

»Kommen Sie«, sagte Rosa.

Er war ein wenig benommen.

»Sie freuen sich über etwas. Doch nicht über Ihren Mordauftrag?« Sie lächelte. Aber in ihrem Gesicht las er Entschlossenheit.

Während der Sitzung des Rats der Volkskommissare zeigte sie keine Unruhe. Zacharias, der schräg hinter ihrem Stuhl an der Wand saß, bildete sich ein, sie beobachte die anderen Kommissare und deren Mitarbeiter.

Liebknecht war in freudiger Stimmung. Das erste Schiff mit Weizen war in Hamburg eingelaufen, die Massen hatten das Schiff bejubelt, sie hatten rote Fahnen aufgezogen, die Miliz hatte paradiert, es waren Reden gehalten worden auf die Freundschaft zwischen Sowjetrussland und Sowjetdeutschland.

»Werden wir jetzt in Moskau regiert?« fragte Rosa, und sie mühte sich, keine Schärfe in die Frage zu legen. »Wir sind nicht Sowjetdeutschland, sondern die Sozialistische Republik Deutschland, wie sie der Genosse Liebknecht im November ausgerufen hat.«

Schweigen begegnete ihr. Nur Clara Zetkin, die alte Freundin, nickte. Friesland verzog das Gesicht.

Dann erörterten sie die Lage im Land. Däumig meldete nur Scharmützel mit Einheiten der Konterrevolution, die eher zufällig ausgebrochen seien. »Sie kämpfen nicht, die feigen Hunde. Sie warten, dass die Entente ihnen die Drecksarbeit abnimmt.« Die Rote Armee werde jeden Tag stärker, Ausbildung und Bewaffnung verbesserten sich. Das waren aber die einzigen guten Nachrichten. Sonst klagte Däumig über den Zusammenbruch der Disziplin. Die Miliz und zunehmend auch die Armee seien nicht damit beschäftigt, die Reaktion zu bekämpfen, sondern Banden, die durchs Land marodierten, Bauern, die um sich schossen, Arbeiter, die Läden stürmten und plünderten.

Die Tür öffnete sich, Radek betrat den Raum. Liebknecht erhob sich, Beifall, Hochrufe auf die Sowjetmacht. Radek versuchte, nicht zu grinsen, er schüttelte Liebknecht die Hand, dann bat er um Ruhe und darum, in einer Ecke die Sitzung verfolgen zu dürfen. In seiner Bescheidenheit verbarg er, wie befriedigt er war, endlich anerkannt zu werden von den deutschen Genossen. Zacharias glaubte fast, in Radeks Miene lesen zu können. Ihr habt mich rausschmeißen wollen damals, wisst ihr’s noch? Und jetzt kriecht ihr auf Knien. Aber ich bin Radek, ich bin nicht nachtragend, auch wenn ihr mir gewiss ein bisschen, sagen wir mal, Freude gönnt, werte Genossen. Bewundert mich, ich stehe für das neue Russland, das euch Getreide schickt.

Friesland war kein Kommissar, aber als einer der Vertreter der KP-Zentrale zugegen. Niemand verwehrte ihm das Wort. »Wir sind zu lasch. Einige hier verwechseln Demokratie mit Anarchie. Der Feind muss uns gar nicht bekämpfen, wir vernichten uns selbst. Die Internationale hat uns aufgefordert, die beiden Parteien zu vereinigen. Grundlage sollen die Bedingungen der Internationale sein …«

»Damit wir alle Bolschewisten werden«, warf Dittmann ein.

»Richtig, Genosse Dittmann. Ich weiß, einige in der USP begreifen nicht oder wollen nicht begreifen, dass es sinnvoll ist, von denen zu lernen, die gesiegt haben. Sie wollen lieber von denen lernen, die verlieren. Ich frage mich, was gefährlicher ist für die Revolution, der Feind oder diese Genossen, die so gerne untergehen …«

Beifall und Protestrufe. Liebknecht klingelte. »Das ist eine Sitzung der Regierung«, rief einer. »Der Genosse Friesland möge uns verschonen mit dem Parteienklüngel. Wir sind es satt.« Pfuirufe. Liebknecht klingelte wieder. Nur langsam wurde es ruhiger.

Dann stand Liebknecht auf, wandte sich an Friesland und sagte: »Wenn ich das fortführen darf, Genosse Friesland. Sie sind zwar vorgeprellt, haben aber die wichtigen Fragen angesprochen. Wir stehen am Scheideweg. Hie geht es zur reinen Demokratie, über die schon Marx sich lustig machte. Hie geht es zum Sozialismus, der, wir wissen es doch schon lange, Opfer verlangt. Die Diktatur des Proletariats muss in der Form verwirklicht werden, die die Lage fordert. Diktatur des Proletariats heißt heute zuerst Disziplin und Bekämpfung der Konterrevolution. Dabei steht der Kampf um die Disziplin an vorderster Stelle. Denn wenn wir nicht mit eisernem Besen den Kehricht wegfegen, den jede Revolution nach oben spült, dann wird der Kehricht uns ersticken. Er ist schon dabei, es zu tun. Wir haben nicht einmal zwanzig Prozent der Vorkriegsproduktion erreicht, in manchen Wirtschaftszweigen ist die Lage noch schlechter, nicht wahr, Rosa?«

»Vielleicht sind die Arbeiter noch nicht reif, Karl«, sagte Rosa.

»Und dann?« brüllte Pieck dazwischen. »Gehen wir zum General Groener und geben die Macht wieder ab, hübsch verpackt in buntem Papier.«

»Papier? Wo gibt’s Papier?« rief einer dazwischen.

Jetzt sah Zacharias auch Sonja. Sie stand hinter Friesland und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sonja. Nur sie und Pieck hatten ihnen die Freikorps in die Dahlemer Villa schicken können. Es sei denn, ein Nachbar hatte sie verraten. Ein Nachbar mit einer Verbindung zu Freikorps, welch ein Zufall wäre das. Und wer hatte für Radeks Verhaftung gesorgt? Er überlegte, ob er es sagen sollte. Es einfach rufen, dann würden sie schon zuhören. Nur, wenn es falsch war? Dann war es ein Rohrkrepierer. Verdammt, das würde er nie herausbekommen.

Gelächter erklang, es war bitter und böse.

Pieck erhob sich, nachdem Liebknecht sich gesetzt hatte. »Wie sollen wir messen, ob das Proletariat reif ist? Dafür gibt es kein Thermometer wie für Fieber.«

Gelächter, Pieck fühlte sich stark. »Wir müssen die Revolution retten. Ob das Proletariat reif war oder nicht, das mögen die Gelehrten hinterher debattieren. Aber hat nicht die Genossin Luxemburg gelehrt, die Massen erzögen sich selbst im Kampf? Wie kann man über die Reife des Proletariats zur Revolution dozieren und den Kampf ablehnen? Den Kampf, in dem das Proletariat ja laut der Genossin Luxemburg die Reife erst erlangen kann? Wir haben keine Zeit zu solch gelehrten Erörterungen, hier ist nicht die Hochschule der Revolution, sondern ihr Schlachtfeld.«

Donnernder Beifall, auch von USP-Funktionären. Dittmann schüttelte den Kopf, er sah hilflos aus. Aber Däumig und besonders Barth verbargen ihre Zustimmung nicht.

Rosa schwieg, obwohl viele sie nun anstarrten und erwarteten, dass sie sich wehrte. Aber sie hatte die Stimmung längst begriffen, da war es sinnlos, etwas zu sagen. Die anderen würden es ihr im Mund herumdrehen und vor die Füße werfen. Zacharias verstand, es ging zu Ende. Die Gewaltfraktion siegte, und er gestand sich ein, ohne Terror würde die Revolution weiter zerfallen. Aber mit Gewalt würde die Revolution erstickt durch ein Regime von Führern, die zu wissen glaubten, was die Geschichte und das Proletariat von ihnen verlangten. Die sich als historisches Werkzeug betrachteten und sich so ins Recht setzten, Opfer zu fordern, nicht für sich natürlich, sondern für die Zukunft, die sie in gleißenden Farben malten, um die Trübnis der Gegenwart zu überpinseln. Es war dieser Augenblick, in dem Zacharias das ganze Unglück erkannte, das er und seinesgleichen über die Welt gebracht hatten. Ein Unglück in bester Absicht, begründet durch eine überlegene Moral, im Besitz der geschichtlichen Wahrheit, Vertreter einer Klasse, die alle Klassenunterschiede und alle Ausbeutung aufheben würde ein für allemal. Alle, die in diesem Raum saßen, träumten diesen Traum. Sonja. Er sah, wie sie ihn anblickte über den langen Tisch hinweg. Sie hatte große schöne Augen, und was immer sie getan hatte, es diente der Utopie, die sie alle herbeisehnten. Je schöner die Utopie, je mehr sie anderes überstrahlte, desto mehr rechtfertigte sie.

Wie mochte es abgelaufen sein? Hatten Friesland und seine Genossen den Freikorps den Tip gegeben, weil sie Rosa loswerden wollten, aber sich selbst nicht trauten? Hatten sie nach dem Misslingen des Anschlags in Dahlem beschlossen, keine halben Sachen mehr zu machen, sondern den Mord selbst zu organisieren? Hatten sie sich gestritten, untereinander oder mit Moskaus Boten? Ging es einigen zu weit, drängten andere darauf, es sofort zu tun? Wie lange hatte es gedauert, bis sie alle sich dazu durchgerungen hatten, es müsse nun getan werden?

So, wie Sonja ihn anschaute, bildete er sich ein, auch sie wusste von dem Mordauftrag an ihn. Du hast keine zwei Wochen mehr, glaubte er in ihren Augen zu lesen. Du musst es so aussehen lassen, als wären es die Freikorps gewesen. Das ist der letzte Dienst Rosas für die Revolution. Aber dann lachte er sich innerlich aus. Seit wann kann man in den Augen eines Menschen lesen, was er denkt? Und seit wann könntest du es?

Sie neigte sich zu ihm, er hatte sie nicht gesehen. »Aufwachen, Genosse Zacharias«, sagte Rosa. Sie lächelte, und er fand es der Lage nicht angemessen. »Sie hatten recht«, flüsterte sie. »Hier ist kein Blumenpott mehr zu gewinnen. Heißt es Blumenpott? Ja, nicht? Wir sehen uns nach der Sitzung, hoffentlich ist das Geschwätz bald vorbei. Und dann machen wir Nägel mit Köpfen. So heißt das doch?« Sie legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Dass sie zitterte, merkte er erst jetzt. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl, schob den Aktenstapel vor sich hin und her, tat so, als hörte sie nicht zu. Sie war im Geist schon woanders. Vielleicht in Zürich.

Zacharias suchte Jogiches, den hatte er am Anfang der Sitzung kurz gesehen, dann war er verschwunden. Jogiches, der legendäre Organisator, dem nie das Geld fehlte, plante er schon die Flucht?