Am Morgen sah die Welt freundlicher aus. Er hatte diese Nacht keine Albträume gehabt, und nachdem er gefrühstückt hatte, blendeten ihn die weißen Strahlen der Wintersonne. Seine schwarzen Gedanken schienen weit weg. Heute würde er Gustav Tibulski suchen, und wenn er ihn fand, würden sie ein paar Schritte weiterkommen. Tag für Tag, es hat keinen Sinn, weit in die Zukunft zu denken. Wir müssen unseren Laden im Innern in Ordnung bringen, dann haben wir eine Chance, gegen die Konterrevolution zu bestehen.

Er wollte sich gerade auf den Weg machen, da klopfte es an die Wohnungstür. Margarete öffnete und kam mit Bronski wieder. Der lachte Zacharias freundlich an.

»Guten Morgen, Genosse Zacharias. Darf ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen?« Er warf einen Blick auf Margarete und guckte dann Zacharias streng an.

»Margarete, ob du …«

Sie verließ die Küche, ihr Gesicht zeigte keine Regung.

Bronski setzte sich, ohne aufgefordert worden zu sein. »Nun, Genosse Zacharias. Die Dinge stehen gut, finden Sie nicht auch?«

»Gewiss«, sagte Zacharias.

»Die Zentrale unserer Partei stützt den bolschewistischen Kurs. Wenn die Genossin Luxemburg klug ist, folgt sie der Mehrheit, so wie es der Genosse Liebknecht längst tut. Es geht drunter und drüber, da muss eine eiserne Faust dazwischenhauen.«

»Wenn es so einfach wäre«, sagte Zacharias.

Bronski hob die Augenbrauen, dann lächelte er. »Stimmt, manchmal drücke ich mich etwas schlicht aus. Ich bin ein Arbeiter, wissen Sie.«

»Ich auch«, sagte Zacharias.

Bronski kratzte sich an der Backe. Er rülpste leise, versuchte vergeblich, es zu unterdrücken. »Sie sind der Leiter dieser Untersuchungskommission. Der Genosse Dserschinski sagte, das sei doch so etwas wie die Keimzelle der deutschen Tscheka. Eine Regierungskommission untersucht einen konterrevolutionären Anschlag, dann kann sie doch gleich auch alle anderen Umtriebe des Feindes aufklären und durchkreuzen.«

Dieser Gedanke überraschte Zacharias. Sollte er unfreiwillig zum ersten Leiter der deutschen Tscheka werden? War er es schon? Hatte jemand diesen Anschlag inszeniert, um die Gründung einer Geheimpolizei zu provozieren? Zacharias ordnete seine Erkenntnisse, es passte alles. Nun ergaben sogar die Morde einen Sinn. Denn wer würde nach einer Geheimpolizei rufen, wenn ein paar durchgedrehte Figuren in der Reichskanzlei ein bisschen Schabernack trieben?

»Stecken Sie dahinter, Bronski?«

»Hinter was?«

»Dem Anschlag in der Reichskanzlei.«

Bronski schaute ihn durchdringend an. »Natürlich nicht. Wollen Sie mich beleidigen?«

Zacharias überlegte. Was würde er antworten an Bronskis Stelle, wenn er der Täter wäre?

»Dieser Anschlag zeigt, dass die deutsche Revolution sich schützen muss, Genosse Zacharias. Haben Sie verlernt, was der Genosse Lenin uns gelehrt hat?«

»Ich weiß nur, dass der Genosse Lenin mir gesagt hat, ich solle die Genossin Luxemburg schützen und berichten, was sie denkt. Und ich solle selbst entscheiden, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen ich meinen Auftrag erledige.« Er verkniff sich die Bemerkung, dass er Rosa auch gegen die Machenschaften Frieslands schützen werde. »Ich verspreche Ihnen, ich werde diesen Anschlag aufklären. Ich werde die Auftraggeber entlarven und festnehmen, egal woher sie kommen und welches Ziel sie hatten. So verstehe ich meinen Auftrag von Lenin.«

Bronski klopfte zweimal mit der Faust auf den Tisch, leise, aber bestimmt, als wollte er applaudieren. »Nichts anderes erwarten wir von Ihnen. Versetzen Sie der Reaktion einen Schlag.«

Will der mich auf den Arm nehmen, oder weiß er wirklich noch nicht, dass wir einen Genossen suchen? Zacharias überlegte fieberhaft. »Dann sollten Sie den Genossen Friesland anweisen, nicht mehr auf meiner Absetzung zu bestehen.«

Bronski lächelte. Warum kommt mir dieser Mann immer schmutzig vor? Dann zeigte der seine braunen Zähne und sagte: »Aber Genosse Zacharias, wir können uns doch nicht in die Angelegenheiten einer befreundeten Partei einmischen.«

Zacharias bedachte seine Lage. Offenbar gab es mehrere Drahtzieher. Friesland arbeitete gegen ihn, das war nicht zu übersehen. Aber vielleicht sollte der ihn nur unter Druck setzen? Womöglich hatte der Fuchs Dserschinski gesagt: Der Genosse Zacharias legt seinen Auftrag ein wenig eigenwillig aus. Auf Warnungen hört er nicht. Also zeigt ihm die Instrumente. Einen Beschluss der KPD-Zentrale kann nicht mal der Sturkopf Zacharias übergehen, und solch ein Beschluss bewirkt erst mal nichts, weil nur die Regierung diesen Burschen absetzen kann.

Eine andere Variante wäre, dass in Moskau verschiedene Genossen an eigenen Drähten zogen. Grigori Sinowjew, dem Chef der neuen Kommunistischen Internationale, mochte es in Deutschland nicht schnell genug gehen. Zacharias hatte Sinowjew erlebt als Vorsitzenden des Petrograder Sowjets. Sinowjew war ungestüm, aufbrausend und wirkte gleichermaßen bedrohlich wie lächerlich mit seinen wirren Locken und der viel zu hohen Stimme in dem untersetzten Körper. Warum Lenin auf Sinowjew setzte, das würde ewig sein Geheimnis bleiben. Hatte der nicht gemeinsam mit Kamenew die Revolution nicht gewollt? Und so einer wird Chef der Weltrevolution? Wollte er den Makel nun tilgen, indem er sich von niemandem übertreffen ließ an revolutionärem Eifer?

Sinowjew war ein Mordplan gegen Rosa schon zuzutrauen. Aber Lenin und Dserschinski, die sie gut kannten und verteidigten, mit denen sie im Grundsatz immer solidarisch war, auch wenn sie vor Fehlentwicklungen warnte? Noch immer hatte sie das Manuskript über die russische Revolution nicht veröffentlicht, weil, wie viele wussten, auch kritische Anmerkungen darin standen.

Und Bronski nun, der dasaß, in seinem Ohr bohrte und Zacharias erwartungsvoll angrinste. Wem gehorchte er? »Genosse Bronski, bevor Sie nicht eine Legitimation vorlegen können, die Sie befugt, mir, sagen wir mal, Ratschläge zu geben, werde ich den Kontakt mit Ihnen nicht weiterpflegen. Ich hätte das schon früher beschließen müssen. Sie werden das gewiss verstehen, ich muss sichergehen, dass Sie sind, wer zu sein Sie behaupten. So sind die Regeln der Konspiration.«

»Das haben Sie sich aber schön zurechtgelegt. Nur kommen Sie ein bisschen spät darauf.«

»Aber nicht zu spät. Auf Wiedersehen, Genosse Bronski. Ein Papier mit der Unterschrift Lenins oder Dserschinskis würde uns helfen. Das können Sie gefahrlos mit sich führen, schließlich sind wir an der Macht. Und mir würde es Klarheit bringen, beispielsweise darüber, ob nur Sie die Genossin Luxemburg ermorden wollen oder ob auch andere hinter diesem Wahnsinnsplan stecken.« Zacharias stand auf und ging zur Tür. Er öffnete sie und stellte sich daneben.

Bronski schaute ihn grimmig an. »Das hätten Sie besser nicht getan«, knurrte er.

Zacharias antwortete nicht. Er schaute dem schweren Mann nach und wusste, der würde das nicht auf sich sitzen lassen. Die Haustür schlug zu. Er ging in sein Zimmer, dort lag Margarete auf dem Bett und starrte an die Decke. Er setzte sich auf die Bettkante und nahm ihre Hand. Die war kalt. »Wir sind fertig«, sagte er.

»Dieser Mann macht mir angst. Musst du mit solchen Leuten umgehen?«

»Ich habe ihn rausgeschmissen. Vielleicht kommt er wieder, vielleicht nicht.«

»Und wer ist er?«

Zacharias zögerte, dann sagte er: »Ein Kurier aus Russland.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Bist du so wichtig, dass sie dir einen aus Russland hinterherschicken?«

»Eigentlich nicht. Aber ich habe inzwischen eine Stellung in der Regierung, die mich für manche Leute interessant macht. Die bilden sich ein, sie könnten mit meiner Hilfe die Revolution retten.« Er lachte trocken, es hörte sich so albern an.

»Muss die denn gerettet werden?«

»Manche glauben, sie müsse vor den Revolutionären gerettet werden. Die eine Partei will sie vor der anderen retten und umgekehrt. Und selbst in der eigenen Partei gibt es zwei, vielleicht drei verschiedene Lager. Und allen geht es natürlich nur um die Revolution, und die jeweils anderen sind schuld, dass die in Gefahr ist. Man ist sich nicht einmal über die Gründe einig, warum sie in Gefahr ist. Und was die Gefahr sein soll, darüber wird auch gestritten. Zuviel Freiheit, zu wenig Freiheit, zuviel Bolschewismus, zu wenig Bolschewismus, zuviel Zentralismus, zu wenig Zentralismus. Es ist idiotisch.«

In der Nacht lag sie neben ihm. Er spürte, dass auch sie nicht schlief. In seinem Kopf vermischten sich Ängste mit Erinnerungen. Immer wieder das Gesicht von Bronski, den Zacharias nun endgültig Sinowjew zugeordnet hatte, der Komintern, die sich als Generalstab der Weltrevolution aufspielte. Und wenn er den Stier bei den Hörnern packte, wenn er mit Radek sprach, der doch die deutschen Verhältnisse besser kannte als der Rest der Internationale zusammen? Der hatte einen direkten Zugang zu Lenin, und gewiss konnte er über die neu eingerichtete Sowjetbotschaft Unter den Linden die Parteiführung per Telegraf erreichen. Wenn er Radek bat, eindeutige Instruktionen einzuholen und eine Stellungnahme zu den Streitereien in der deutschen Partei? Über diesem Gedanken schlief er ein.

 

*

 

Am Morgen lag Margarete immer noch neben ihm. Ihre Augen waren offen, als hätte sie keinen Augenblick geschlafen. »Du warst unruhig«, sagte sie. »Hast irgend etwas gebrabbelt von Bauern, Getreide und Schießen.«

»Blöde Träume«, sagte er. »Seit dem Krieg haben das viele.«

Er trank nur einen Becher Zichorienkaffee und eilte zur Sowjetbotschaft. Radek musste helfen, der musste wissen, wer Bronski war und auf wessen Rechnung er arbeitete. Der Posten am Tor der Botschaft war in Zivil gekleidet, er verlangte einen Ausweis.

»Ich habe nur ein Soldbuch«, sagte Zacharias auf Russisch. »Sagen Sie dem Genossen Radek, der Genosse Sebastian Zacharias möchte ihn sprechen.«

Der Posten winkte zum Hauseingang, es erschien ein Uniformierter, an der Seite ein Pistolenhalfter. Der Uniformierte eilte zum Posten, der flüsterte ihm etwas ins Ohr, und der Bewaffnete ging ins Haus. Nach einer Weile kehrte er zurück und flüsterte nun seinerseits dem Posten etwas ins Ohr. Der Posten nickte, der Uniformierte entfernte sich zum Haus, und der Posten sagte: »Der Genosse Radek ist nicht im Haus, er ist gerade weggegangen, frühstücken.«

Zacharias überlegte kurz, dann bedankte er sich und ging zum Adlon. Er fand Radek hinter einer französischen Zeitung im sonst leeren Hotelrestaurant. Auf dem Tisch standen Brötchen, Schinken, geräucherte Fische, der Duft von Bohnenkaffee zog durch den Saal. Zacharias klopfte leise auf den Tisch, da erst entdeckte Radek ihn und erkannte ihn sogleich. »Der Genosse Zacharias«, sagte er. »Kommen Sie, nehmen Sie Platz.«

Ein Kellner eilte herbei. »Der Herr wünschen?«

Zacharias blickte zu Radek, der sagte: »Bringen Sie Kaffee und etwas, womit der Genosse essen kann. Wir sind doch gerade dem Tierreich entstiegen.« Er lachte leise vor sich hin. Der Kellner verzog keine Miene und eilte zu einem Tisch an der Wand, auf dem Geschirr und Besteck standen.

»Die letzte Oase der abendländischen Zivilisation. Und wen findet man mittendrin? Den Genossen Radek.« Er faltete die Zeitung zusammen und schob sie zur Seite. Der Kellner brachte Geschirr und Besteck und wollte Zacharias Kaffee eingießen. Aber Radek wehrte ab mit einer unwirschen Handbewegung. Der Kellner verbeugte sich knapp und lief weg. Er hatte wohl Schlimmes gehört von Bolschewisten, vielleicht, dass sie Kinder fraßen, Adlige aufhängten und Geistliche zu Tode folterten.

»Sie haben Angst vor uns«, sagte Radek. »Haben was gelesen und gehört und glauben immer das Schlimmste. Aus dieser Angst erwächst ein furchtbarer Hass. Wenn diese anständigen Bürger wieder an die Macht kommen, werden sie uns in unserem Blut ersäufen. Verstehen Sie das, Genosse Zacharias? Selbst wenn wir nichts mehr gäben auf die Revolution, wenn sich alles als falsch herausstellte, dann bliebe uns noch der Zwang, um unser Leben zu kämpfen. Schon deshalb dürfen wir die Macht nicht aus der Hand geben.« Er rührte um in seiner Tasse, setzte sie an den Mund, schlürfte etwas, setzte die Tasse ab und warf zwei Stück Würfelzucker hinein. »Ich bin diesen Kaffee nicht mehr gewöhnt. Viel zu stark. Aber darüber wollten Sie gewiss nicht mit mir sprechen.«

»Ich wollte Sie etwas fragen.«

»Nur zu, fragen Sie.«

»Wie stehen Sie zum Genossen Friesland?«

»Sie fragen, weil der Ihre Absetzung betreibt.«

Zacharias nickte.

»Den Auftrag dazu hat er sich selbst gegeben. Oder er hat eine politische Einschätzung im sowjetischen ZK so verstanden oder verstehen wollen. Vielleicht ist er zornig auf Sie, wie einer, der Hoffnung auf einen setzt, dann aber erleben muss, wie die Hoffnung getäuscht wird, und nun denjenigen bestrafen will, der von dieser Hoffnung doch gar nichts wusste.« Radek rührte wieder um, dann zündete er sich eine Zigarette an. »Lassen Sie mich offen sprechen, auch wenn es um meine besondere Freundin Rosa geht. Sie wissen – wie sagt man im Deutschen? –, wir sind uns nicht grün.« Er betonte das »grün«. »Warum sagt man eigentlich nicht schwarz? Wir sind uns nicht schwarz, das klingt doch viel besser. Euch Deutsche soll einer verstehen. Es hat jüngst in Moskau eine Auseinandersetzung gegeben im Zentralkomitee. Ich will nicht in die Einzelheiten gehen, aber festhalten, dass die Genossen der Meinung sind, es liege wesentlich an der Genossin Luxemburg, dass die deutsche Revolution nicht vorankommt. Sie haben einen Auftrag von Lenin, und diesen Auftrag begreifen Sie so, dass Sie meine Freundin Rosa und ihren ständigen Begleiter unterstützen sollen. – Sie fragen, wie ich zum Genossen Friesland stehe. Nun, er ist ein Genosse. Lenin schätzt ihn, er hat enorme Fähigkeiten und wird in der Partei noch eine bedeutende Rolle spielen. Allerdings, finde ich, er ist eigensinnig. Etwa so eigensinnig wie Sie.« Radek lächelte verschmitzt.

»Nun, Genosse Radek, ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll. Und Lenin hat mir geraten, mich an Sie zu wenden, wenn ich eine politische Einschätzung benötige …«

»Nur zu, fragen Sie. Der Genosse Lenin hat mich vorgewarnt.«

»Nach meiner Beobachtung gibt es eine Art Fraktion in der deutschen Partei, mit Friesland und Pieck an der Spitze. Diese Gruppe hat zur Zeit in wichtigen Fragen die Mehrheit, und sie beruft sich auf Lenin. Unterstützt Lenin diese Gruppe? Erhält sie Anweisungen aus Moskau?«

»Wenn ich das wüsste«, sagte Radek nach einer Weile, in der er am Kaffee nippte und an der Zigarette zog. »Aber nehmen Sie doch!« Radek wies auf das Frühstück auf dem Tisch.

Zacharias begann zu essen. Radek hatte recht, der Kaffee war stark.

Radek beobachtete Zacharias, es schien ihn zu freuen, dass es ihm schmeckte. »In Moskau gibt es einige, die glauben, sie müssten die Revolution in Deutschland vorantreiben, nicht nur Lenin, der es aber als einziger versteht, nüchtern zu analysieren. Nicht zuletzt weil er sich gut informieren lässt.« Radek grinste, es war seine Aufgabe, den Sowjetführer zu unterrichten. »Da gibt es also das Volkskommissariat des Äußeren unter unserem Freund Georgi Tschitscherin. Der war lange Menschewik und beweist nun besondere Linientreue. Wenn man nur immer wüsste, was die Linie ist!« Radek lachte.

»Die Sowjetbotschaft gibt Geld und Propagandamaterial und drängt sich auf mit Rat. Der Genosse Liebknecht sei schon richtig böse auf die lieben Genossen Unter den Linden, sagt man. Die Rote Armee rasselt mit dem Säbel und ärgert die Polen, Trotzki will Waffen nach Deutschland schaffen und Instrukteure, die helfen sollen, eine schlagkräftige deutsche Rote Armee aufzubauen. Der werte Genosse Dserschinski, den Sie ja gut kennen, wie man mir berichtet hat, will in Deutschland eine Tscheka nach sowjetischem Vorbild errichten. Das Zentralkomitee der ruhmreichen Kommunistischen Partei Russlands schickt Getreide, das es Hungernden mit Gewalt weggenommen hat, weil es glaubt, so die deutschen Arbeiter für den Bolschewismus zu begeistern. Der Genosse Sinowjew, zu aller Erstaunen Vorsitzender der neuen Internationale, schickt seinerseits Leute nach Deutschland, die im Untergrund wühlen und verblüfft manchen Genossen wieder treffen, mit dem sie vor kurzem noch im Gewerkschaftshaus in Moskau gespeist haben. Sie sehen, es geht alles nach Plan. Allerdings« – er gackerte wie ein Huhn – »kennt niemand diesen Plan außer dem einzigen Gott, den die Griechen den Russen vererbt haben und der den schönen Namen Chaos trägt.« Er zog sich am Ohrläppchen, als wollte er sich rügen. »Oder ist das gar kein Gott? Dann stellen Sie sich mal vor, wir glauben an einen Gott, der gar keiner ist. Sagen Sie mir, Genosse, was bedeutet es, wenn Atheisten an einen Gott glauben, der gar keiner ist? Diese Frage muss ich mal dem Genossen Lenin vorlegen. Er ist der einzige, der eine Antwort wissen wird. Oder er lässt mich erschießen. Was ja auch eine Antwort wäre.« Radek klatschte sich mit der Hand auf den Oberschenkel. Seine Zigarette fiel zu Boden, er beachtete sie nicht.

»Was will ich Ihnen damit sagen? Dass Sie jederzeit mit allem rechnen müssen. Ich übrigens auch. Aber wir beide können uns immer auf einen Auftrag des Genossen Lenin herausreden, nicht wahr? Die Frage ist nur, ob uns das nutzt. Nachher kommt es soweit, dass es schädlich ist, sich auf den Genossen Lenin zu berufen. Statt dessen müssen wir vielleicht den großen Führer Stalin preisen, das wäre doch der größte Witz der Weltgeschichte. Wie schön, dass das nicht passieren wird.« Sein lautes Lachen hallte im leeren Saal. An der Wand neben der Tür zur Küche lehnte der Kellner und wartete ängstlich auf Weisungen dieses schrecklichen Russen mit dem noch schrecklicheren Lachen, der so gut Deutsch sprach, dass einem schauderte.

»Essen Sie, Genosse Zacharias, wer weiß, wann Sie wieder solche guten Sachen aufgetischt bekommen.«

Zacharias begriff allmählich, wie absurd es war, zu zweit im Speisesaal eines leeren Luxushotels zu sitzen und Dinge zu essen, die es nirgendwo sonst mehr gab. Hoffentlich tauchte nicht der Hotelfotograf auf. Kein Arbeiter würde es verstehen, auch wenn es sinnlos wäre, die Vorräte verschimmeln zu lassen und das Mehl der Schusterjungen den Maden zu schenken. Der Gedanke drängte sich auf, etwas mitzunehmen für Margarete, die ewig hungrig war. Er winkte dem Kellner, der gleich herbeieilte. Zacharias bat um einen Beutel, Radek lachte, der Kellner rannte zu einer Tür, verschwand dahinter und kehrte zurück, in der Hand eine Tasche, die wohl ihm gehörte, jedenfalls war sie benutzt. Zacharias packte Brötchen ein, Schinken, geräucherten Fisch und Butter. Radek lächelte spöttisch.

»Haben Sie Frau und Kinder?«

»Eine Frau«, sagte Zacharias. »Eine Frau, die ich übel vernachlässige.«

»Unsere Hingabe an die Revolution raubt uns die Liebe für den einzelnen Menschen. Mein Gott, wann sieht meine Frau mich? So selten. Und immer muss sie Angst haben, dass ich getötet werde. Wenn ich in Moskau bin, sehe ich sie auch nur wenig, eine Sitzung nach der anderen, Berichte schreiben, Artikel, Reden halten. Da wünscht ein Arbeiterrat irgendeiner kleinen Fabrik irgendwo im großen Sowjetrussland, der Genosse Radek möchte sprechen. Über was? Über die Weltrevolution, den Bürgerkrieg, die Deutschen, ja, was machen die Deutschen, schaffen sie es endlich? Gelingt ihnen, was die Geschichte von ihnen fordert? Und der Genosse Radek, was macht der? Der fährt dahin, hilft unterwegs Brennholz schlagen, friert trotzdem im Zug, holt sich fast den Tod und hält eine Rede über die Weltrevolution, den Bürgerkrieg, die Deutschen, was ja am Ende aufs gleiche hinausläuft. Und dann fahre ich wieder zurück, helfe Brennholz sammeln, wechsle den Zug, weil die Lokomotive kaputtgeht, komme irgendwann in Moskau an, eile in den Kreml und werde wieder losgeschickt, irgendwohin in Russland, wo es nur kalt ist und die meisten nicht lesen und schreiben können, weshalb wir so viele Reden halten müssen.«

»Kennen Sie den Genossen Bronski?«

Radek nickte, er tat es bedächtig, als redete er mit sich selbst im stillen, suchte Argumente, verwarf sie, suchte neue Argumente, um sich von etwas zu überzeugen. Dann schüttelte er heftig den Kopf, fast hätte Zacharias sich entschuldigt, dass er Radek unterbrochen hatte. »Der gehört zu den Helfern des Genossen Sinowjew. Des Steuermanns der Weltrevolution. Und so führen sich seine Boten auch auf. Selbstherrlich, brutal. Könnte sein, dass Sinowjew auf die Karte Friesland setzt, dass er über ihn die deutsche Partei seiner Kontrolle unterwerfen will und Bronski sein verlängerter Arm ist.«