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ir proklamieren den Generalstreik. Der Berliner Arbeiter-und-Soldaten-Rat zieht mit. Ich habe mit Barth gesprochen. Die Matrosen sind auf unserer Seite. Die Mehrheit der Unabhängigen wird zu uns stoßen. Nie war die Gelegenheit günstiger.« Liebknecht stieß es heraus. Er war durch Piecks Vermittlung zu Rosa und Jogiches in Wollitz’ Wohnung gestoßen. Und seitdem wurden aller Nerven noch stärker strapaziert.
»Karl, denken Sie an den Januaraufstand. Wir waren dagegen, haben trotzdem mitgemacht, und wir sind kläglich gescheitert.« Jogiches sprach ruhig.
»Aber ohne Niederlagen lernen die Massen nicht. Das geht nicht durch Aufklärung. Die beste Aufklärung ist die Massenaktion. Es ist ein bitterer Weg …«
»Ich weiß«, sagte Jogiches. »Aber wenn das richtig ist, muss es nicht richtig sein, das Proletariat bewusst in die Niederlage laufen zu lassen.«
»Wir haben keine Wahl!« Liebknecht war zornig. »Die Arbeiter gehen auf die Straße, der Berliner Rat ruft den Generalstreik aus. Wir können uns nicht verweigern.«
»Karl, du hast wieder Vereinbarungen für die Partei getroffen, die nur die Zentrale treffen kann. Es geht nicht, dass du die Partei festlegst, und alle anderen dürfen nur noch ja sagen.« Auch Rosa mühte sich, ruhig zu bleiben.
So ging es nun seit gut zwei Wochen. Die Führer schrieben Artikel. Liebknecht traf sich mit allen möglichen Leuten und riskierte sein und der anderen Leben. Er war unfähig, konspirativ zu arbeiten. Kleinigkeiten genügten, ihn aufbrausen zu lassen. Er riskierte alles und glaubte deshalb, alles entscheiden zu dürfen. Der Generalstreik in Berlin war am 3. März angelaufen, die Zentrale der KPD schloss sich an. Seit drei Tagen nun streikten Arbeiter gegen die Regierung des Reichspräsidenten Ebert und des SPD-Ministerpräsidenten Scheidemann. Die hatten in Berlin alle Gewalt dem Reichswehrminister Noske übergeben, der befahl, jeden zu erschießen, der bewaffnet angetroffen wurde. Gefangene wurden nicht gemacht. Noske hatte schon die Räterepubliken in Hamburg und Bremen zusammenschießen lassen. Jetzt wollte er Schluss machen mit den Berliner Aufständischen.
Zacharias hatte in den vergangenen Tagen die Verbindung zu Pieck gehalten. Pieck hatte einen Kurier in die Arbeitsstelle von Zacharias’ Mutter geschickt. Sie hatte den Goldgürtel am nächsten Morgen mitgebracht und dem Kurier übergeben.
Auf dem Alexanderplatz gab es Schießereien, dann auch in Lichtenberg. Pieck hatte ein provisorisches Hauptquartier der Partei in der Boxhagener Straße in Lichtenberg eingerichtet. Dort saß nun auch die Redaktion der verbotenen Roten Fahne, in der Rosas Artikel erschienen.
Zacharias war nicht wohl bei dem Gedanken, die einigermaßen sichere konspirative Wohnung aufzugeben. Aber er widersprach nicht und begleitete Rosa und die anderen nach Lichtenberg.
Am Abend war die Zentrale der Partei fast vollzählig versammelt im neuen Hauptquartier. Zacharias saß neben der Tür, draußen hatte er weitere Bewaffnete postiert. Jetzt ein Freikorpsüberfall, und die Führung der Partei würde ausgelöscht.
»Schon ein Bericht von Eberlein aus Moskau?« fragte Pieck.
»Nein, wir wissen noch nicht einmal, ob die neue Internationale gegründet wurde.«
»Ich hoffe, Eberlein lässt sich nicht überreden mitzumachen.«
»Die Zentrale der Internationale kann nur in Berlin sitzen«, sagte Liebknecht. »Aber erst müssen wir siegen.«
»Wie ist die Lage in Berlin?« fragte Jogiches. »Genosse Zacharias, berichten Sie.«
Zacharias trug vor, was ihm berichtet worden war. Die Lage war schlecht. Die Freikorps erhielten Nachschub und Verstärkung, die Aufständischen standen einer Übermacht gegenüber, die täglich stärker wurde. Bald würde das Hauptquartier gefährdet sein. Zacharias forderte die Genossen auf, sich wieder in konspirativen Wohnungen zu verstecken.
Liebknecht schnaufte. »Dieser Defätismus hat uns im Januar das Genick gebrochen.«
Es klopfte an der Tür. Alle starrten hin. Zacharias öffnete und ging hinaus. Draußen stand ein Soldat. Ein von Zacharias eingeteilter Posten hielt ihn am Arm, ein anderer richtete den Gewehrlauf auf seinen Rücken.
»Dieser Mann behauptet, er habe uns etwas Wichtiges zu sagen.« Der Posten packte den Mann noch kräftiger am Arm.
»Dann soll er es tun«, sagte Zacharias.
»Ich sage das nur der Genossin Luxemburg.«
Der Posten schaute Zacharias an. Der zögerte kurz, dann betrat er den Sitzungsraum. Er ging zu Rosa und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie hörte genau zu, dann stand sie auf und folgte Zacharias hinaus. Währenddessen ereiferte sich Liebknecht über die Feigheit der Genossen. Draußen schloss Zacharias die Tür.
Rosa sagte: »Nun packen Sie den Mann nicht so fest. Wir gehen nach nebenan, und dort erzählen Sie uns, was Sie zu berichten haben.« Sie schob die Posten zur Seite und bat nur Zacharias mitzukommen.
Wählend Zacharias die Tür sicherte, bot sie dem fremden Soldaten einen Platz an und setzte sich ihm gegenüber.
»Nun, wie heißen Sie denn?«
»Kowalski, Egon Kowalski.«
»Genosse Kowalski, was haben Sie auf dem Herzen?«
Er zupfte sich an seinem grauen Bart, unter feuchten Augen hingen Tränensäcke. Er stotterte leise. »Ich habe in der Telefonzentrale der Volksbeauftragten gearbeitet und geglaubt, die Genossen Ebert und Scheidemann wollten den Sozialismus erkämpfen.«
»Bitte sprechen Sie lauter«, sagte Rosa.
»Ja, Entschuldigung.« Er schaute sich um, als wären weitere Personen im Raum. Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Sie müssen wissen, ich bin Mitglied der SPD, schon vor dem Krieg. Aber dann habe ich etwas mitbekommen. Ich habe es erst für mich behalten. Aber jetzt, wo die Revolution verraten ist, da kann ich nicht mehr schweigen. Sie zerstören die Räte durch diese Nationalversammlung. Jahrelang hat unsereins vom Volksstaat geträumt. Und was haben wir jetzt? Jetzt haben wir ein bürgerliches Parlament und eine Koalitionsregierung mit bürgerlichen Parteien unter diesem Scheidemann.« Der Mann stotterte, eine Schweißperle lief hinunter zum Kinn. Als hätte er erst begriffen, was geschehen war, während er es aussprach.
»Ja, und in München, da ist die SPD die Konterrevolution. Ich weiß jetzt schon, was geschehen wird. Sie wird Reichswehr und Freikorps schicken, um die Räterepublik in Bayern zu stürzen. Das wird sie tun. So wie in Bremen und Hamburg und anderswo.« Die Empörung quoll aus ihm hervor. Er war erleichtert, seine Wut zeigen zu können.
Rosa schaute ihn unentwegt an. Sie hatte einen sanften Blick, fast erwartete Zacharias, dass sie dem Soldaten die Hand auf den Arm legte. Sie unterbrach den Mann nicht, nickte nur und ermutigte durch Aufmerksamkeit. Sie nahm ihn ernst, das spürte der Mann von Anfang an.
»Ich habe Sie mal gehört, Genossin Luxemburg, vor dem Krieg. Als Sie vor Gericht standen, weil Sie diese Soldatenmisshandlungen aufgedeckt haben. Und weil Sie gesagt haben, dass sozialdemokratische Arbeiter nicht auf ihre französischen Genossen schießen würden. Und heute schießen deutsche Sozialdemokraten auf deutsche Arbeiter.«
Zacharias wurde ungeduldig. »Was haben Sie uns zu berichten?«
Der Soldat schaute irritiert zu Zacharias. Rosa sandte ihm einen strafenden Blick. »Lassen Sie den Genossen sagen, was er sagen will. Ich finde das höchst lehrreich.«
Zacharias fühlte Hitze im Kopf aufsteigen und hoffte, sein Gesicht färbte sich nicht rot.
Der Soldat schaute von Zacharias zu Rosa, er schwitzte stark. Dann stotterte er weiter. »Wir in der Telefonzentrale haben alle Gespräche der Volksbeauftragten vermittelt. Wir wussten also, wer wann telefonierte. Und manchmal haben wir mitgehört. Dabei habe ich das erste Mal gemerkt, wie wir belogen werden. Ebert sagte, er hasst die Revolution wie Pest. Er wollte die Monarchie retten. Ein Sozialdemokrat, der die Monarchie retten will. Der Vorsitzende meiner Partei! Ich habe ja lange geglaubt, die USP und die Spartakisten würden die SPD grundlos bekämpfen. Viel zu lang hab ich das geglaubt.«
Er schwieg, fuhr sich mit den Händen durchs Haar und wischte mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Einmal habe ich ein Gespräch vermitteln wollen zum Volksbeauftragten Ebert. Aber da nahm ein Sekretär ab, irgend so jemand, und der sagte, Ebert telefoniere gerade. Ich schaute mich um in der Zentrale, da war kein Gespräch vermittelt worden. Da musste es also noch eine andere Telefonleitung geben, eine, die wir nicht kannten. Das ließ mir keine Ruhe. Eines Nachts hatte ich Dienst, draußen war mal wieder der Teufel los, es wurde geschossen. Da bin ich hoch in Eberts Dienstzimmer und habe die Klinke gedrückt. Es war nicht abgeschlossen, also bin ich rein. Auf dem Schreibtisch stand neben dem normalen Telefon noch ein anderes. Ich habe den Hörer abgenommen und gekurbelt. Da meldete sich der Stab vom General Groener, also dem Chef der Obersten Heeresleitung in Kassel. Ich hab wieder aufgelegt und schnell das Zimmer verlassen. Ich habe dann vorsichtig herumgefragt, und ein Offizier hat mir erzählt, es gebe ein Geheimabkommen zwischen Groener und Ebert zur Niederschlagung der Revolution. Die beiden würden jeden Abend miteinander telefonieren und sich abstimmen.«
Rosa lachte bitter. »Ich habe denen alles zugetraut, wirklich alles. Aber wenn man dann weiß, was man vermutet hat, kommt der Zorn dennoch. Ich danke Ihnen, Genosse. Kommen Sie zu uns, helfen Sie uns. Wir brauchen Leute, die die Wahrheit über die Treue stellen.« Sie warf einen Blick auf Zacharias. Der überlegte, ob sie ihn gemeint hatte mit dem letzten Satz. Was mochte es bedeuten, die Wahrheit über die Treue zu stellen?
Sie hielt die Hand des Soldaten einige Augenblicke in ihrer. »Danke. Vielleicht wissen Sie gar nicht, welche Bedeutung Ihr Bericht hat für die Revolution. Wenn Sie einmal nicht weiterwissen und glauben, ich könnte Ihnen helfen, dann wenden Sie sich an mich. Und jetzt bitte ich Sie, das alles aufzuschreiben und zu unterzeichnen. Und vergessen Sie bitte nicht, Ihre Adresse anzugeben.« Sie führte den Soldaten aus dem Zimmer.
»Wenn Sie fertig sind, geben Sie das Papier bitte diesem Genossen.« Sie zeigte auf einen bärtigen Mann mit dickem Bauch, der am Fenster nach Feinden schaute. »Alfons, seien Sie wie ein Vater zu diesem Genossen. Er ist für uns wichtig, sehr wichtig. Er schreibt etwas auf, das bringen Sie mir dann bitte gleich.«
Der Bärtige hob die Hand und nickte. »Mach ich«, brummte er.
Rosa winkte Zacharias, ihr zu folgen. Sie kehrten zurück in den Sitzungsraum. Dort herrschte Streit. Liebknecht giftete Jogiches an, der habe Fehler über Fehler gemacht, Pieck saß da mit hochrotem Kopf. Rosa schien es nicht zu beachten: »Ich habe gerade etwas erfahren, das die Wende bringen kann.«
Nun schwiegen alle.
»Es gab und gibt wahrscheinlich noch eine Geheimleitung zwischen Ebert und Groener, vor allem aber ein Abkommen, um die Revolution niederzuwerfen. Die haben alles abgesprochen. In der Reichskanzlei werden Telefonate über eine Zentrale vermittelt. Außer der Leitung zwischen Berlin und Kassel. Und jeden Abend sitzt Ebert am Telefon und konspiriert mit dem ärgsten Feind des Proletariats. Wenn wir diesen Verrat an der Arbeiterklasse veröffentlichen, wird es große Empörung geben, auch bei den Mehrheitssozialdemokraten, erst recht bei den Unabhängigen. Während Dittmann und Genossen Volksbeauftragte spielten, entschied Ebert die Machtfrage hinter deren Rücken. Oder sie wussten etwas, dann laufen ihnen jetzt die Arbeiter weg.«
»Das kommt in die nächste Ausgabe der Roten Fahne!« rief Liebknecht.
»Das reicht nicht«, sagte Jogiches. »Wir treten mit den Unabhängigen in Kontakt. Wenn auch die Freiheit die Sache bringt, dann wird es ernst.«
»Können wir uns bis morgen halten?« fragte Pieck.
Niemand antwortete.
Am Abend erschien Mathilde Jacob. Zacharias kannte sie noch nicht. Sie stellte sich vor als Rosas Sekretärin, aber er merkte gleich, dass sie eher eine Vertraute war. Jacob tippte die Erklärung des Soldaten ab, ließ aber dessen Namen und Adresse weg.
Es war schon finster, die Schießerei war abgeebbt, als Rosa Zacharias bat: »Gehen Sie zur Freiheit, erklären Sie den werten Genossen, was wir erfahren haben. Nehmen Sie den Bericht mit. Die müssen Ihnen glauben.«
»Und wer passt auf, dass hier nichts passiert?«
»Es ist nicht mehr viel los. Draußen stehen die Genossen und bewachen uns. Eine Revolution ohne Risiko gibt es nicht. Wir halten das allein nicht mehr lange durch, der Feind ist zu stark. Vielleicht bringt diese Sache die Wende.« Sie klang nicht sehr überzeugt.
»Morgen früh ist es der Aufmacher in der Roten Fahne. Aber werden die sozialdemokratischen Arbeiter uns glauben, wenn ihre Führer gleich Lüge schreien? Das haben wir doch gelernt. Es kommt nicht darauf an, die Wahrheit zu kennen, sondern darauf, dass die Massen uns glauben. Was bedeutet, dass sie ihre traditionellen Führer für Lügner halten müssen. Das geht nicht so schnell. Aber vielleicht können wir diesen Prozess nun beschleunigen.«
Zacharias ging die Treppe hinunter zum Ausgang in den Hinterhof. Er wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Mit der Mauser in der Hand schlich er an der Wand entlang. Irgendwo leuchtete eine Zigarette auf. Als er die Tür des Nachbarhauses erreicht hatte, lauschte er. Aber er hörte nur weit entfernte Geräusche, vielleicht tranken die Freikorpssöldner. Zacharias öffnete die Tür und schlich in den Flur. Er roch es zuerst, bevor er es wusste. Er war nicht allein.
»Parole?« rief einer, in dessen Stimme Angst lag.
Zacharias sah einen Umriss und feuerte. Der andere stöhnte, dann sackte er auf dem Boden zusammen. Zacharias drückte ihm hart die Pistole an den Kopf. »Wie lautet die Parole?«
Der Söldner stöhnte. Zacharias drückte fester.
»Ludendorff.«
Zacharias drückte ab und rannte los zur vorderen Haustür, riss sie auf und rannte auf die Straße.
»Was ist los?« wurde er angebrüllt. »Parole!«
»Ludendorff. Spartakisten. Sie brechen hier durch! Ich bin verletzt.«
Er lief weiter weg von den Söldnern, hörte sie schreien und wartete auf den Schuss in den Rücken. An einer Straßenecke bog er ab. Er atmete schwer, doch er musste weiter. An einer Haltestelle wartete die Straßenbahn zur Warschauer Brücke. Nassgeschwitzt setzte er sich hinein. Er fuhr zum U-Bahnhof, in der Friedrichstraße stieg er aus der U-Bahn, den Rest der Strecke zum Schiffbauerdamm, wo der Parteivorstand und die Redaktion der Freiheit saßen, lief er zu Fuß.
Männer mit Gewehren in der Hand sicherten die Pforte. Am Eingang drängte Zacharias den Pförtner, er müsse einen leitenden Redakteur sprechen. Der Pförtner telefonierte. Endlich fand er einen Verantwortlichen. Wilhelm Dittmann selbst erklärte sich bereit, mit Zacharias zu sprechen.
Ein junger Mann holte Zacharias ab. »Ich bringe Sie zum Genossen Dittmann«, sagte er.
Der saß in einem kleinen Zimmer, in dem überall Papierstapel und Bücher herumlagen. Dittmann nahm einen Stapel Papier von einem Stuhl, Zacharias setzte sich.
»Nun?« sagte Dittmann. Er war müde.
»Die Genossin Luxemburg schickt mich …«
»Dann gehören Sie also zu den Helden des Straßenkampfs.«
Zacharias überhörte den Spott. »Ich habe eine wichtige Mitteilung für Sie und die Forderung, sie in der Freiheit zu veröffentlichen. Morgen schon.«
»Aha«, sagte Dittmann. »Eine Forderung.«
Zacharias berichtete von dem Soldaten und Eberts Geheimleitung. Dittmann hörte zu, der Spott wich aus seinem Gesicht. Er wurde nachdenklich. »Vielleicht ist es nicht ganz richtig, von einer Geheimleitung zu sprechen, da den Volksbeauftragten die Existenz einer besonderen Verbindung zur Obersten Heeresleitung schon bekannt war. Aber es war uns nicht bekannt, dass Ebert sie benutzt und ein Abkommen mit Groener getroffen hat. Dann hätte Ebert hinter dem Rücken der USP-Beauftragten, also auch hinter meinem Rücken, mit den Militärs konspiriert. Jeden Abend! Wenn es stimmt, was Sie sagen.«
»Ich kann Ihnen im Namen der Genossin Luxemburg mitteilen, dass dieser Soldat ihr persönlich berichtet hat und dass die Genossin Luxemburg nicht den geringsten Zweifel hat, dass der Bericht stimmt.«
»Wenn man glaubt, was man glauben will«, sagte Dittmann. Dann murmelte er: »Hinter meinem Rücken.« Er stand auf und lief umher. »Hinter meinem Rücken. Ich habe es immer geahnt. Wir hatten nicht einmal einen Zipfel der Macht. Ebert und seine Leute haben uns benutzt als Galionsfiguren, um die Arbeiter zu täuschen. Und wir sind darauf reingefallen.«
Zacharias sagte nichts. Er merkte, er hatte Glück. Dittmann fügte Teile seiner Erinnerung neu zusammen. Die unabhängigen Volksbeauftragten hatten bis Ende Dezember mitgemacht, dann waren sie aus der Regierung ausgetreten, weil die USP Eberts Politik nicht mehr mittragen wollte.
»Können Sie es irgendwie beweisen?«
»Wir haben nur den Bericht. Ich war dabei, als der Mann berichtete. Ich habe nicht den geringsten Zweifel.«
»Ob es diese Leitung heute noch gibt?«
»Sie meinen, inzwischen von Weimar nach Kassel?«
»Davon gehe ich aus. Nein, ich meine von der Reichskanzlei zu Groener. Die Leitung, wenn es sie noch gibt, wird natürlich nicht mehr benutzt. Aber warum sollte sie es nicht mehr geben? Man müsste in Eberts damaliges Dienstzimmer gehen und die Telefone ausprobieren. Dann hätte man vielleicht einen Beweis. Zwar nicht für das Abkommen, aber dafür, dass es möglich war. Wenn ich an die Öffentlichkeit trete, glauben mir die Spartakisten und die Anhänger meiner Partei, aber nicht die Mehrheitssozialdemokraten. Wir werden Ebert nicht zwingen können, die Existenz des Abkommens zuzugeben. Aber wenn wir mindestens die Existenz der Leitung unbezweifelbar belegen können, das wäre doch was. Da ließe sich was draus machen.«
Zacharias wusste, wie gefährlich es sein würde, den Beweis zu erbringen. Und doch war die Aussicht verlockend. Er überlegte, wie er es anstellen könnte. »Haben Sie noch ein Dokument mit Eberts Unterschrift?«
Dittmann lächelte. »Für so etwas ist bei uns der Genosse Däumig zuständig.« Er griff zum Telefonhörer, wählte, wartete, dann sagte er: »Haben Sie ein paar Minuten Zeit? Dann kommen Sie bitte in mein Zimmer.«
Kurz darauf öffnete sich die Tür. Zacharias kannte Däumig von Bildern und Berichten. Der war einer der Führer der Novemberrevolution gewesen, und jetzt war er ein wichtiger Mann des linken Flügels im Vorstand der USPD. Dittmann forderte Zacharias auf, noch einmal zu berichten. Als der fertig war, sagte Dittmann: »Wenn wir das beweisen können, haben wir die Ebert-Leute im Schwitzkasten.«
Däumig überlegte und sagte nichts.
»Wir könnten versuchen, in die Reichskanzlei zu kommen und das Telefon auszuprobieren. Dafür brauchen wir noch irgendeinen Zeugen, dem jeder glaubt.« Er wandte sich an Däumig. »Können Sie einen Passierschein oder so etwas anfertigen lassen, am besten mit Eberts oder Scheidemanns Unterschrift?«
»Gut«, sagte Däumig. »Wir machen das gleich. Warten Sie hier.«
»Ein Papier, in dem steht, dass der Betreffende den Auftrag hat, dem Herrn Reichspräsidenten eine Akte aus seinem ehemaligen Dienstzimmer zu holen und nach Weimar zu bringen«, sagte Zacharias.
Däumig winkte ab. »Genau daran dachte ich. Und Sie werden hingehen. Wir stellen Ihnen einen von unseren Leuten als Begleiter. Am liebsten käme ich selbst mit. Aber es könnte mich jemand erkennen.«
»Eigentlich ist es keine Überraschung, dass Ebert mit Groener gegen die Revolution arbeitete«, sagte Zacharias. »Und doch wird die Aufdeckung Empörung auslösen.«
»Vor allem in unseren Reihen. Wenn bekannt wird, dass Ebert vom ersten Tag an mit Militärs und Freikorps gegen die Arbeiterklasse und gegen die anderen Volksbeauftragten konspiriert hat, dann gibt es einen Aufschrei. Wenn nicht mehr.«
»Wollen Sie sich da nicht dem Generalstreik anschließen? Wir könnten ihn ausdehnen und weiterführen. Wenn die USP auch auf Reichsebene mitzieht, können wir die Macht übernehmen.«
»Das werden wir zwei nicht einfach so entscheiden können.«
»Ich glaube, das entscheidet die Straße. Wir können nur folgen.«
»Ein getreuer Schüler der Genossin Luxemburg.« Dittmann lächelte. »Aber vielleicht haben Sie ja recht.«
Sie unterhielten sich eineinhalb Stunden über die Abspaltung der Spartakusgruppe von der USP, die Dittmann für idiotisch hielt, über Russland, das in Dittmanns Augen nur ein blutiges Chaos war, über Rosa, die laut Dittmann auf die falschen Ratgeber hörte. Endlich klopfte es, die Tür öffnete sich, Däumig kehrte zurück, in der Hand ein Blatt Papier. Er pustete über das Blatt, wie um zu zeigen, wie neu es sei. »Der Genosse Ebert hat soeben den Genossen Zacharias zu seinem persönlichen Beauftragten ernannt und weist ihn an, ein wichtiges Dokument, das der Geheimhaltung unterliegt, aus dem Schreibtisch des ehemaligen Dienstzimmers des heutigen Reichspräsidenten in der Reichskanzlei zu besorgen. Es ist höchste Eile geboten.«
Zacharias musste lachen. »Und haben Sie auch schon den richtigen Zeugen parat?«
»Natürlich«, sagte Däumig. »Was glauben Sie denn? Niemand kann es mit den Unabhängigen Sozialdemokraten aufnehmen, wenn es um Ideen geht. Die Spartakisten schon gar nicht.«
Dittmann runzelte die Stirn. »Nun, Genosse!«
»Einen kaiserlichen Notar natürlich.«
Zacharias lachte erneut.
»Das ist nicht komisch«, sagte Däumig. »Niemand ist glaubwürdiger als ein Notar. Wir holen den Mann auf dem Weg zur Reichskanzlei aus dem Bett und nehmen ihn mit. Der Genosse Zacharias erhält eine bewaffnete Eskorte von vier Mann. Die Leute warten draußen schon. In Uniform. Der Notar trägt den historischen Namen Wallenstein, er wohnt in der Kronenstraße 37. Genosse Zacharias, bitte schön!« Däumig gab Zacharias das Papier. Es sah beeindruckend aus. »Ich werde mitkommen bis kurz vor dem Wilhelmplatz. Gehen wir!«
*
Im Hinterhof des Gebäudes warteten vier bewaffnete Männer in den Mannschaftsuniformen kaiserlicher Jäger neben einem Lastwagen. Für Zacharias lag ebenfalls eine Uniform bereit mit den Rangabzeichen eines Unteroffiziers. Sie war ihm etwas zu groß. Däumig und Zacharias setzten sich zum Fahrer auf die Bank, die Soldaten stiegen auf die Ladefläche. Es war längst nach Mitternacht. Auf den Straßen war Ruhe. Nur einmal begegneten sie einer Droschke.
Sie hielten direkt vor der Kronenstraße 37. Im fahlen Licht der Laternen erkannte Zacharias ein Messingschild – »Dr. Friedrich Wallenstein, Notar, Termine nach Vereinbarung«. Das Schild schien neu angebracht worden zu sein. Im Haus brannte kein Licht.
Zacharias stieg aus und prüfte die Tür. Außen gab es keine Klingeln, aber an der Tür war ein Klopfschlegel angebracht. Zacharias betätigte den Schlegel, so laut es ging. Dann wartete er. Als sich nichts rührte, schlug er den Schlegel wieder mehrmals hart gegen das Schild. Endlich drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Die Tür ging auf, ein alter Mann im Bademantel und mit wirren weißen Haaren schaute verschlafen auf die Männer, die mitten in der Nacht diesen Krach veranstalteten. Der Mann wurde noch blasser, als er die bewaffneten Soldaten sah, die sich hinter Zacharias aufgebaut hatten. »Wir suchen den Herrn Dr. Wallenstein!« sagte Zacharias ruppig.
»Ja, ja«, stammelte der Mann. »Der Herr Doktor wohnt im zweiten Stock.«
Zacharias rannte mit den Soldaten die Treppe hinauf, bis er vor der Wohnungstür stand. Er klopfte. Als es nichts half, trommelte er. Dann sah er einen Lichtschein im Milchglas.
»Machen Sie auf! Wir kommen im Auftrag des Herrn Reichspräsidenten. Es eilt!«
Als die Tür sich einen Spalt öffnete, drückte Zacharias sie auf. Ein kleiner Mann stand vor ihm. Die Angst stand ihm in den Augen. Zacharias hielt ihm kurz die gefälschte Urkunde vors Gesicht. »Sie kommen mit in die Reichskanzlei. Danach bringen wir Sie wieder nach Hause. Wenn Sie einen Mucks tun, landen Sie im Leichenschauhaus. Ziehen Sie sich an.« Er hatte keine Zeit zu warten, ob der Notar hereinfiel auf die Fälschung.
Zacharias bedeutete einem Soldaten, den Notar zu begleiten. Es dauerte nicht lang, da war er wieder im Flur. Sie stiegen die Treppen hinunter, unten stand der Mann mit den wirren weißen Haaren an der Tür und kriegte den Mund nicht zu. Sie zwangen den Notar, sich zwischen den Fahrer und Zacharias zu setzen. Däumig stieg auf die Ladefläche. Er fürchtete vielleicht, dass der Notar ihn erkannte.
Sie rasten zur Wilhelmstraße und hielten direkt vor dem Eingangstor. Davor standen zwei Posten. Mit barscher Stimme forderte Zacharias einen Soldaten auf, den wachhabenden Offizier zu holen. Der Soldat klopfte an die Tür, eine Klappe öffnete sich, der Soldat flüsterte etwas, dann schloss sich die Klappe. Kurze Zeit später erschien ein Oberleutnant, die Hand auf die Pistolentasche gelegt. Zacharias zeigte ihm das Papier, während ein Soldat dem Notar den Karabinerlauf in den Rücken drückte. Der Offizier hielt das Papier ins Licht einer Laterne, dann ließ er seine Hand sinken und überlegte. »Warten Sie, ich werde es prüfen!«
»Wir haben keine Zeit!« sagte Zacharias. »Jetzt erreichen Sie in Weimar sowieso niemanden.«
»Das werden wir sehen«, sagte der Oberleutnant. »Ihren Namen bitte.«
Zacharias zog die Mauser und drückte sie dem Offizier in den Magen. »So heiße ich«, sagte er. »Und wir gehen jetzt gemeinsam ins Zimmer des Reichskanzlers.«
Der Oberleutnant wollte etwas sagen, aber Zacharias drückte ihm den Lauf noch fester in den Leib. Die beiden Posten an der Tür sahen nicht, was geschah.
»Los!« sagte Zacharias. »Wenn Sie einen Mucks tun, sind Sie tot. Es lohnt sich nicht. Wir wollen nur etwas nachschauen, seien Sie vernünftig, dann überleben Sie.«
Der Offizier schaute Zacharias wütend an, dann drehte er sich um und führte Zacharias mitsamt seinen Begleitern ins Palais. Das Gebäude war wie ausgestorben. Seit sich die Regierung nach Weimar abgesetzt hatte, gab es in der Reichskanzlei nicht viel mehr zu tun, als auf den Tag zu warten, an dem es der Reichsregierung beliebte, zurückzukehren in die Hauptstadt.
Das Zimmer des Reichskanzlers war abgeschlossen. Ein Soldat benutzte sein Bajonett als Brecheisen. Es knallte laut, als die Tür aufsprang. Der Oberleutnant schnaufte empört.
»Passen Sie auf den Oberleutnant auf!« befahl Zacharias einem Soldaten. Dann zog er den Notar zum Schreibtisch. Er war groß und fast leer. Darauf standen nur zwei Telefone. Eines hatte eine Wählscheibe, das andere eine Kurbel, wie Zacharias es aus dem Krieg kannte. Er nahm den Hörer des Kurbeltelefons und drehte am Kurbelgriff. Es knackte. »OHL, Feldwebel Schachner.«
»Hier Reichskanzlei. Geben Sie mir den diensthabenden Offizier.«
»Sofort. Bitte warten Sie.« Nach kurzer Zeit eine andere Stimme: »Hier Major Schleicher.«
Zacharias winkte den Notar heran und drückte ihm den Hörer ans Ohr. »Fragen Sie, welchen Rang der Mann hat, wo er sich aufhält und bei welcher Dienststelle er arbeitet.«
Zacharias drückte sein Ohr mit an den Hörer.
»Mit wem spreche ich?« fragte der Notar.
»Major Kurt von Schleicher.«
»Dienststelle?«
»Oberste Heeresleitung.«
»Ort?«
»Sagen Sie, wer sind Sie eigentlich?«
Zacharias nahm dem Notar den Hörer aus der Hand und legte auf. Dann öffnete er die Schreibtischschubladen. In der unteren Schublade einer Konsole fand er eine Mappe. Er blätterte darin und begann zu staunen. »So dumm kann man doch gar nicht sein.« Er blätterte weiter. Dann sagte er kopfschüttelnd: »Das sind Aufzeichnungen von Ebert, mit Datum und allem, was er mit Groener verabredet hat. Eichhorns Absetzung zum Beispiel, den Angriff auf die Volksmarinedivision. Ich kann es nicht glauben, dass ein Mann wie Ebert so etwas vergisst.«
Er wandte sich an den Notar. »Jetzt gehen wir zu Ihnen und setzen eine schöne Urkunde auf.« Er zeigte auf den Oberleutnant. »Dieser Herr bleibt hier. Fesseln Sie ihn an den Sessel.« Er zeigte auf den Sessel in einer Sitzgruppe in der Ecke. Ein Soldat riss eine Kordel vom Vorhang, band dem Offizier die Hände auf den Rücken, führte ihn zum Sessel, drückte ihn auf die Sitzfläche und fesselte auch die Beine. Dann riss er eine weitere Kordel ab und wickelte diese um den Offizier und die Sessellehne. Der Mann ließ es mit wutrotem Gesicht, aber schweigend über sich ergehen.
»Wir wollten nur mal sehen, mit wem der Volksbeauftragte Ebert am liebsten telefoniert hat. Gehen wir!« befahl Zacharias.
Unten am Eingang schickte er einen Wachtposten nach oben. »Im ehemaligen Dienstzimmer des Volksbeauftragten Ebert wartet der wachhabende Offizier auf Sie.« Dann eilten Zacharias und seine Begleiter zum Wagen und fuhren los.
Sie hielten vor dem Haus des Notars. In dessen Büro führte Zacharias den Mann zu seinem Schreibtisch. »Ich möchte, dass Sie wahrheitsgemäß festhalten, was Sie gesehen und gehört haben. Am meisten interessiert uns, dass es eine direkte Telefonleitung gibt aus dem Dienstzimmer des früheren Volksbeauftragten Ebert zur Obersten Heeresleitung. Notieren Sie auch, dass Sie mit dem Major im Generalstab Schleicher gesprochen haben. Der ist bekanntlich einer der engsten Mitarbeiter von General Groener. Ich darf doch?« Zacharias zog das Telefon heran und wählte die Nummer des Lichtenberger Hauptquartiers. Dem Genossen am Telefon sagte er, er solle Rosa wecken.
Sie schien nicht geschlafen zu haben. Zacharias berichtete, was er herausgefunden hatte. Er riet ihr, ebenfalls Kontakt mit den Unabhängigen aufzunehmen, die zögen mit, würden auf jeden Fall in der Freiheit, vielleicht sogar in einer Sonderausgabe, berichten über das Geheimabkommen Ebert-Groener. Als Zacharias sagte, er werde den Tatbestand notariell beglaubigen lassen, musste sie lachen. »Wie sind Sie denn auf diese Idee gekommen?«
»Nicht ich, Däumig.«
»Es muss alles seine Ordnung haben in Deutschland. Eines Tages wird irgendwer fordern, die Revolution notariell zu beglaubigen. Weil es sie sonst nicht gibt.«