8
M
it dem ersten Morgenlicht fielen wieder Schüsse. Zacharias hörte den Abschuss der Kanone, das Haus zitterte unter dem Einschlag der Granate. Wieder ein Knall, wieder detonierte eine Granate im Haus. Menschen schrien, sie gerieten in Panik oder waren getroffen, vielleicht auch beides. Weitere Schüsse, im Treppenhaus knallte eine Handgranate.
Zacharias wusste nicht mehr, wie lange sie schon dasaßen. Er konnte nichts mehr tun. Er war benommen und nahm kaum noch etwas wahr. Dann sagte der MG-Schütze plötzlich: »Komisch. Ich hör nichts mehr. Bin ich taub?«
Als Zacharias nicht antwortete, schüttelte der Mann ihn an der Schulter.
Zacharias öffnete die Augen, ihm war es, als erwachte er aus einem schlechten Traum. Er wollte die Hand wegschieben, die ihn schüttelte. Aber dann merkte er, dass es draußen still geworden war. Nur im Gang oder in irgendeinem Zimmer jammerten Verletzte. Zacharias stand auf und schaute vorsichtig aus dem Fenster. Er sah das Geschütz, aber keinen Soldaten. Ein Rauschen erklang irgendwoher. Sonst kein Geräusch, keine Bewegung. Die Sonne schien auf die leere Straße.
Waren sie schon im Haus? Zacharias lauschte zur Treppe hin. Nichts. Außerdem stand dort der Wachtposten, der seine Handgranaten geworfen hätte, wenn sich jemand im Treppenhaus hätte blicken lassen. Das Rauschen von draußen wurde stärker. Inzwischen war der MG-Schütze aufgestanden. Gemeinsam starrten sie nach draußen.
»Die sind weg«, sagte der MG-Schütze.
»Vielleicht eine Falle«, erwiderte Zacharias.
»Sie hatten uns doch schon im Sack. Da brauchen sie keine Falle mehr.«
»Das ist doch seltsam, warum sind die weg?«
»Was ist das für ein Geräusch?« fragte der MG-Schütze.
Aus dem Rauschen waren Rufe geworden und Motorenlärm, dann einzelne Schüsse. Zacharias rannte zu den Führern. »Kommen Sie nach vorn! Schauen Sie sich das an. Da geschieht etwas Unglaubliches. Die Soldaten sind weg, statt dessen kommt eine Menschenmenge hermarschiert.«
Sie stellten sich im Schlafzimmer ans Fenster. Zacharias erkannte ein Transparent mit der Aufschrift »Betriebsrat Elektrokohlenfabrik«. Es folgten weitere Transparente, die aber noch nicht zu entziffern waren. Fahnen der USPD wurden getragen, dann sah Zacharias auch welche der eigenen Partei. Vorn im Zug gingen Männer mit Gewehren. Noch vor ihnen rollten gepanzerte Fahrzeuge. Keiner in der Wohnung sagte ein Wort.
Jetzt erkannte Zacharias Pieck und Friesland. Und da war Bohn, mit einem Verband um den linken Oberarm. Er war also durchgekommen.
Sie warteten oben, was geschah, wie gefesselt von dem Anblick der Masse, die gekommen war, ihnen das Leben zu retten. Sie waren zu schwach, um die Treppen hinunterzulaufen. Dann Schritte im Treppenhaus. »Wer da?« rief der Wachtposten. Zacharias hetzte zu ihm und riss ihm die Handgranate weg.
»Das sind unsere.«
Der Mann schaute ihn an wie ein Wesen von einem fremden Stern. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen und wollte es hinter sich bringen. »Unsere?«
»Das sind Genossen, du Idiot!« Zacharias lachte laut, fast hysterisch.
Plötzlich lachte der Mann mit. Er umarmte Zacharias. »Genossen«, sagte er, als hörte er das Wort zum ersten Mal. »Genossen.«
Pieck und Friesland waren die ersten, die erschienen. »Wo sind Luxemburg und Liebknecht? Wo Jogiches?« fragte Pieck aufgeregt.
Zacharias deutete mit dem Daumen hinter sich.
Friesland schlug Zacharias auf die Schulter. »Wurde Zeit, nicht?«
Zacharias schluckte, er wollte nicht, dass jemand seine Tränen sah.
»Dieser Bohn ist ein feiner Kerl«, sagte Friesland. »Hat sich den Arm durchschießen lassen und ist doch gekommen. Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Wut die Leute haben. Ebert und Groener verschwören sich gegen die Revolution. Der ehemalige Volksbeauftragte Ebert, jetzt sitzt er in Weimar und darf zittern. Der Arbeiter-und-Soldaten-Rat hat beschlossen, dass er die Macht in Berlin übernimmt. Er ruft die Arbeiter im Reich auf, es ihm nachzutun. Das Geheimabkommen, das war der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ.«
Menschen drängten sich nach oben. Sie suchten Liebknecht und Luxemburg. Es waren Delegationen von Berliner Betrieben. Namen wurden genannt, meistens von Unternehmen, deren Belegschaften die Revolution unterstützten. Zacharias hörte die Namen vieler Berliner Großbetriebe wie der AEG, der Berliner Maschinenbau-AG, der Siemens-Schuckert-Werke, der Knorr-Bremse, der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, der Carl Flohr Maschinenfabrik. Vor den Arbeitern der Berliner Großunternehmen waren die Freikorpssöldner geflohen. Ein Betriebsrat berichtete, Hugo Haase, der Vorsitzende der USPD, habe erklärt, seine Partei sei die führende Kraft der Revolution. Alle revolutionären Kräfte müssten zusammenhalten, sonst triumphiere wieder die Reaktion.
Zacharias drängte sich vor. Er sah, wie die Parteiführer mit den Abordnungen aus den Betrieben diskutierten. Er verstand nicht viel, nur Fetzen. Revolutionsregierung. Räte. Bewaffnung der Arbeiter. Besetzung von Telegrafenämtern und Banken. Die Entente. Dann hörte er: »Zum Reichstag! Dort wird die Revolutionsregierung gewählt, in zwei Stunden.«
»Wir brauchen einen Wagen!« brüllte er und drängelte sich näher heran an Rosa. »Ich versuche einen Wagen zu kriegen!« rief er ihr ins Ohr. Sie nickte.
Die Menschen drängten sich die Treppe hinunter. Zacharias hielt einen Betriebsrat vom Kraftwerk Rummelsburg am Arm fest. Der Mann fuhr herum, Zacharias hob besänftigend die Hand. »Habt ihr einen Wagen für die Genossen Luxemburg und Liebknecht?«
»Ich besorg einen. Steht nachher vor der Tür!« Der Mann strahlte wie ein Kind vorm Weihnachtsbaum.
In seinem Gesicht spiegelte sich die neue Zeit. Die Freude dieses Arbeiters sagte: Die Revolution hat begonnen. Nun haben wir es in der Hand. Erst die glückliche Rettung, dann der tapfere Bohn, ohne dessen Opferbereitschaft nichts von dem geschehen wäre, was nun geschieht. Zufall und Notwendigkeit. Wie es scheint, setzt sich die Notwendigkeit mittels Zufällen durch. Das werde ich mal Rosa sagen. Und sie wird mir einen Vortrag halten, bis mir das Hirn raucht, über Dialektik, Klassenkampf und die Revolution als Universität der Massen. Jetzt merkte Zacharias, dass er lachte, so laut, dass sich manche zu ihm umdrehten. Er wollte aufhören, konnte es aber nicht. Dann brach er zusammen.
Als er aufwachte, lag er auf einer Liege in einem Zimmer. Die Tür stand offen. Draußen hasteten Menschen hin und her, ab und zu steckte einer seinen Kopf herein, als ob er jemanden suchte. Worte schwirrten durch die Gänge und Räume. Räte, Volkskommissare, Rote Armee. Zacharias richtete sich auf, da spürte er seine Schwäche. Dennoch setzte er sich auf die Kante der Liege. Eine junge Krankenschwester kam herein. »Haben Sie ausgeschlafen?«
»Wo bin ich?«
»Im Reichstag. Ich wollte Sie ja ins Krankenhaus …«
Zacharias stand auf. Ihm schwindelte, er setzte sich wieder hin.
»Erst etwas essen und trinken«, sagte die Krankenschwester. Sie hatte ihre dunkelbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, auf dem Kopf trug sie eine weiße Haube.
Zacharias beobachtete durch die offene Tür das Treiben im Gang. Er hörte Stimmen, manche Männer riefen oder brüllten. Er verstand »Radek«. War Radek frei?
»Radek kommt!« brüllte einer. Zwei Männer stellten sich in die Tür, einen glaubte Zacharias schon einmal gesehen zu haben.
»Weißt du, was er gesagt hat, als die Genossen ihn aus dem Gefängnis holten?« fragte der eine.
»Nee.«
»Genossen, es wurde gerade unterhaltsam. Ihr verderbt mir wirklich alles.«
Die beiden lachten.
»Erst wollte er gar nicht mit. ›Ihr glaubt nicht, wer mich nachher besuchen wird, und da soll ich dieses Hotel schon verlassen?‹«
Sie lachten wieder.
»Wenn das mal stimmt«, sagte der andere.
»Wenn nicht, ist es gut erfunden.«
Sie zogen weiter. Die Schwester kam mit einem Tablett. Zacharias aß wenig und trank etwas. »Sie sollten versuchen zu schlafen.«
»Ich soll die Revolution verschlafen? Was sind Sie denn für eine?«
Die Schwester schüttelte den Kopf, aber Zacharias sah das Lächeln in ihrem Gesicht. Er stand auf, es ging besser. Mit unsicherem Schritt trat er auf den Gang. Eigentlich bin ich längst tot. Vielleicht sehe das nur ich, die Menschen sind glücklich heute. Er folgte dem Strom, der zog ihn in den Plenarsaal.
Im Präsidium saß ein weißhaariger alter Mann. Zacharias kannte das markige Gesicht seit vielen Jahren. Es war Georg Ledebour, der SPD-Linke, der im Krieg die USPD mitgegründet hatte. Er saß auf dem Sessel des Reichstagspräsidenten, als hätte er schon immer da gesessen. Er klopfte mit dem Hammer auf den Tisch, fand aber kein Gehör. Die Menschen im Plenum schrien durcheinander, andere schliefen. Viele rauchten. Ledebour klopfte, so kräftig er konnte, da brach der Hammer entzwei, die Teile flogen in den Saal. »Oh, der Genosse Ledebour wird handgreiflich!« rief einer. Gelächter. Selbst Ledebour, dem die Humorlosigkeit ins Gesicht geschnitten war, musste lachen. Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch. Aus irgendeinem Grund wurde es leise.
Zacharias ließ den Blick wandern, ob er die Spartakus-Führer fände, aber er entdeckte sie nicht. Auch die Prominenz der USP ließ sich nicht blicken.
»Der Arbeiter-und-Soldaten-Rat muss eine Tagesordnung beschließen. Ich schlage vor, Tagesordnungspunkt eins ist Wahl des Präsidiums, Tagesordnungspunkt zwei Wahl der provisorischen Regierung. Wenn die Regierung gewählt ist, erwarten wir von dieser ein Programm. Daraus ergeben sich die weiteren Tagesordnungspunkte.«
»Ich verlange, dass der Tagesordnungspunkt ›Grußworte‹ aufgenommen wird. Gleich nach der Wahl des Präsidiums. Der Genosse Radek will zu uns sprechen.« Das sagte ein kleinwüchsiger Mann in der ersten Sitzreihe.
Donnernder Beifall. »Hoch Lenin! Hoch Trotzki! Es lebe die russische Revolution!« Sie riefen es durcheinander.
Irgend jemand hatte Ledebour ein abgebrochenes Stuhlbein gereicht. Damit schlug er nun auf den Präsidiumstisch ein. »Genossen, bewahrt revolutionäre Disziplin!«
Ein paar Rufe, dann beruhigten sich die Menschen. Die Tagesordnung wurde gegen wenige Stimmen angenommen. Zum Vorsitzenden der Versammlung des Arbeiter-und-Soldaten-Rats wurde Ledebour gewählt, dazu als Beisitzer ein Soldat und ein Vertreter der Staatswerkstätten Spandau. Dann öffnete sich eine Tür hinter dem Platz des Präsidiums, Radek erschien. Als sie ihn erkannten, standen die Delegierten auf und klatschten. Viele reckten die Fäuste, sie ließen wieder Lenin und Trotzki hochleben.
Radek stellte sich ans Rednerpult und betrachtete scheinbar unbewegt die fast ekstatische Begeisterung. Nach einer Weile reckte er beide Hände nach oben und senkte sie langsam. Er wiederholte die Bewegung einige Male, es sah aus wie eine Beschwörung. So schlug er die Masse in seinen Bann, bevor er ein Wort gesagt hatte.
Dann sprach er mit einfachen Worten, aber jedes traf das Gemüt der Zuhörer. Radek zog seine Hose hoch und beschwor die deutsch-russische Freundschaft. Er erklärte namens der Sowjetregierung, er sei befugt, der deutschen Revolution alle Unterstützung zuzusagen, die Russland geben könne. Er warnte die Entente, sich mit der deutschen Konterrevolution zu verbünden. Tue sie es, dann erwüchse daraus ein europäischer Bürgerkrieg der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie. Seine Rede wurde immer wieder von Beifall unterbrochen, vor allem als er ankündigte, die gerade gegründete Kommunistische Internationale habe beschlossen, ihren Sitz nach Berlin zu verlegen, »dorthin, wo das Herz der Weltrevolution schlägt«.
Nach Radeks Rede applaudierten die Delegierten minutenlang. Dann klopfte Ledebour mit dem Stuhlbein auf den Präsidiumstisch, allmählich kehrte Ruhe ein. Ledebour verlas Resolutionen aus Betrieben, Verwaltungen und Garnisonen, in denen gefordert wurde, die Ebert-Scheidemann-Regierung zu verjagen und alle Macht den Räten zu übertragen.
Nun forderte Ledebour die Delegierten auf, Vorschläge für die provisorische Regierung zu machen. Auf Antrag eines Delegierten wurde der Titel des Ministers durch den des Volkskommissars ersetzt, nach russischem Vorbild. Es wurden viele Namen gerufen, Ledebour und die Beisitzer mühten sich, sie mitzuschreiben. Es war ein lautes Durcheinander. Da öffnete sich eine Tür hinter dem Präsidiumssitz, und Ledebour erklärte, der USP-Vorsitzende Hugo Haase habe ums Wort gebeten.
Zacharias hatte einen Sitz in der letzten Reihe gefunden und bestaunte das Geschehen wie einen Bühnenakt. Vor kurzem noch hatte er mit dem Tod gerechnet, jetzt lebte er nicht nur, über Nacht war Berlin in ihre Hand geraten. Wo waren die Freikorps? Sie hatten sich doch nicht in Luft aufgelöst.
Zacharias quälte die Ungewissheit jede Minute mehr, da er das Spektakel im Reichstagsplenum bestaunte. Er stand auf und ging hinaus. Draußen suchte er jemanden, der ihn unterrichten könnte über die militärische Lage, aber er fand niemanden. Die Soldaten, die er ansprach, zuckten die Achseln. Sie wussten nichts. Zacharias stellte sich vor, wie eine Freikorpsarmee in Berlin eindrang und die Revolution niederschoss. Er kehrte zurück zum Plenum und hoffte, die führenden Genossen im Raum hinter dem Präsidium würden auch daran denken.
Er versuchte sich auf Haases Rede zu konzentrieren. Haase war Rechtsanwalt wie Liebknecht, und das merkte man. Er war kein Demagoge, sondern reihte Argumente aneinander. Er setzte sich mit Einwürfen auseinander, die er erwartete. Warum nur eine provisorische Regierung? Weil der Berliner Arbeiter-und-Soldaten-Rat nicht für die Arbeiter und Soldaten im Reich sprechen könne. Erst wenn die Arbeiter und Soldaten in ganz Deutschland ihre Delegierten nach Berlin schickten und diese die Regierung bestätigten oder eine neue wählten, sei der Rat der Volkskommissare die Stimme des revolutionären Deutschland.
Zacharias starrte auf die Tür hinter dem Präsidium, dann trieb ihn die Ungewissheit dorthin. Niemand hielt ihn auf. Er öffnete die Tür, nirgendwo eine Wache. Drinnen saßen und standen die Führer der revolutionären Parteien und Betriebsvertreter um einen Tisch und stritten sich lautstark. Liebknecht forderte gerade, dass niemand anderes als die Genossin Luxemburg verantwortlich für die Wirtschaftspolitik sein müsse, »oder, sagen wir es deutlich, für die Sozialisierung«. Einige klopften Beifall oder klatschten, wenige buhten. Zacharias entdeckte Jogiches, der in einer Ecke lehnte und zuhörte. Zacharias eilte zu ihm, der schaute ihn ruhig an.
»Kennen Sie die militärische Lage? Warum ist der Raum hier nicht abgesichert?«
Jogiches war einen Augenblick überrascht. Dann begriff er. »Warten Sie hier.« Jogiches ging nach vorn, tippte Däumig, der am Tisch saß, auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der stand auf und stellte sich zu Zacharias. Er reichte ihm die Hand und nickte freundlich.
»Sie kennen sich ja schon, der Genosse Däumig ist in der USP verantwortlich für Militärfragen«, sagte Jogiches. Er wandte sich an Däumig. »Bitte unterrichten Sie den Genossen Zacharias über die Lage.«
Der kratzte sich an der Nase. »Unser Nachrichtendienst meldet, alle konterrevolutionären Verbände haben sich aus Berlin zurückgezogen. Wir beobachten sie genau. Sie sammeln sich, warten auf Verstärkung und werden dann angreifen. Aber vielleicht« – er lächelte – »kommen wir ihnen zuvor. Die Räte in Hamburg und Bremen sowie in vielen kleineren Städten haben sich für die Revolution erklärt. Kiel ist wieder in der Hand der Matrosen. In München wird gerade eine neue bayerische Regierung gebildet, unter Einschluss von USP und KPD. Es ist, als hätten sie nur auf unser Zeichen gewartet. Binnen weniger Stunden hat sich die Lage grundlegend verändert.«
Däumig redete an gegen die laute Streiterei der Führer. Immer wieder Liebknechts Stimme.
»Der Genosse Liebknecht ist wieder anstrengend«, grinste Däumig. »Er wird Vorsitzender des Rats der Volkskommissare, aber es ist ihm nicht genug. Er will alles sofort. Die Sozialisierung, den Sieg über den Feind, das Bündnis mit Lenin, den Aufbau einer Roten Armee, ein Tribunal über Ebert und Scheidemann. Wir haben Truppen in Richtung Weimar geschickt, aus Erfurt, Dresden und Leipzig. In Bamberg wird gekämpft, auch noch in weiteren bayerischen Städten, genauso in Hannover und Düsseldorf. Im Ruhrgebiet hat sich eine Rote Armee gebildet mit einigen zehntausend Kämpfern. Sie hat sich unserer Regierung unterstellt. Wir wollen Weimar einkesseln und die Ebert-Scheidemann-Regierung verhaften. Wir werden nachher beschließen, dass die Nationalversammlung aufgelöst ist. Unsere Abgeordneten sind schon hier. Wir sind dabei, weitere bewaffnete Einheiten in Berlin aufzustellen und aus dem Umland herzuholen. Vielleicht gelingt es uns, die Freikorps anzugreifen, bevor die dazu kommen.«
»Und die Entente?«
»Das ist fast die größte Gefahr. Bisher sieht die Lage so aus: Die Engländer wollen offenbar nicht militärisch eingreifen, die Franzosen schon. Aber die französische Arbeiterbewegung wird nicht stillhalten. Die Gewerkschaften werden mit Streik drohen, ich habe vorhin ein Telegramm aus Paris erhalten. Die Briten fürchten, Trotzki lässt die Rote Armee Polen überrennen und uns zur Hilfe eilen. Der amerikanische Präsident Wilson verlangt, dass Franzosen und Belgier sich raushalten. Wilson hat Angst, dass auch in Westeuropa die Arbeiterklasse nach der Macht greift.«
»Auf gut Deutsch, es kann jeden Tag alles Mögliche passieren«, sagte Zacharias. Er staunte, wie schnell sich die Dinge entwickelten.
»So ist es. Sie sind der Genosse, der auf die Genossin Luxemburg aufpasst?«
»So ungefähr.«
»Jogiches sagt, wir sollen mit Ihnen reden, wenn es um Sicherheitsfragen geht.«
»Wenn der Genosse Jogiches es sagt.« Zacharias überlegte, was er davon zu halten hatte. Im Spartakusbund und der KPD hatte sich niemand um Sicherheitsfragen gekümmert. In der USP war Däumig verantwortlich, er steuerte einen Nachrichtendienst, von dessen Berichten sie abhingen. Er konnte nicht gleichzeitig Luxemburgs Leibwächter sein und verantwortlich für Sicherheitsfragen. Ihn drängte nichts, seine russischen Erfahrungen zu wiederholen. Natürlich, sie brauchten eine deutsche Tscheka. Aber würden sie auch den Terror benötigen?
Plötzlich strömten die Genossen zur Tür.
»Es geht los«, sagte Däumig. »Wir müssen uns bald einmal gründlich unterhalten. Nach der Regierungsbildung.«
Auch Zacharias kehrte zurück in den Plenarsaal. Diesmal fand er keinen Sitzplatz, so lehnte er sich an die Rückwand, von wo aus er alles gut im Blick hatte. Während die führenden Genossen des Rats und der revolutionären Parteien sich auf die Regierungsbänke setzten, bedachte Zacharias, was Däumig ihm berichtet hatte. Sie hatten wohl in Berlin derzeit die Massen hinter sich, in anderen Großstädten auch. Aber auf dem Land und in vielen anderen Städten herrschten Großgrundbesitzer und das Bürgertum. Die Arbeiterklasse musste nun versuchen, die armen Bauern für sich zu gewinnen. Auf die russische Art, indem die Regierung den Großgrundbesitz enteignete und verteilte unter den Bauern. Aber wieder griff die Erinnerung nach Zacharias. Auf die russische Art, das hieß am Ende mit Gewalt.
Ledebour klopfte mit dem Stuhlbein auf den Präsidiumstisch. Ein fetter Mann, der neben Zacharias stand, spuckte Kautabak auf den Boden. Er wischte sich den Mund am Ärmel ab und sagte: »Nun geht es den Kapitalisten an den Kragen.«
Wo mochte der Mann herkommen? Überhaupt war sich Zacharias nicht im klaren darüber, ob alle Anwesenden Delegierte des Berliner Arbeiter-und-Soldaten-Rats waren. Niemand prüfte die Vollmachten der Leute, die nun eine neue Regierung wählen würden.
Es stellte sich wieder Haase hinters Rednerpult. Er verlas den Vorschlag, den die Führer im Hinterzimmer ausgehandelt hatten. Demnach kandidierte Liebknecht als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare, Luxemburg erhielt das Wirtschaftsressort, Verteidigung und Inneres Däumig, Justiz und Stellvertreter Liebknechts Haase, Propaganda Dittmann, Äußeres Barth, der als Vertreter der Revolutionären Obleute in die Regierung eintrat. Auch die anderen Ressorts gingen an prominente Vertreter von USP und KPD.
Die Delegierten applaudierten. Zacharias wusste, sie hätten auch jedem anderen Vorschlag zugestimmt. Sie vertrauten den Revolutionsparteien und unterwarfen sich ihrer Führung. Das deutsche Proletariat war es gewohnt, von Menschen geführt zu werden, die behaupteten, den Gang der Geschichte zu kennen.
Uneinigkeit kam auf, als ein Delegierter verlangte, auch Vertreter der SPD zum Eintritt in die Regierung aufzufordern. Pfeifen und Johlen waren die Antwort. Ledebour fragte, ob es weitere Vorschläge oder Einwände gebe. Niemand meldete sich. Dann fragte er, wer dem Vorschlag für den Rat der Volkskommissare zustimme. Alle hoben die Hand. Niemand stimmte dagegen, als Ledebour danach fragte, und niemand enthielt sich der Stimme. Beifallsstürme. Hoch die Revolution! Hoch die Revolutionsregierung! Schreie und Tumult.
Dann sah Zacharias Liebknecht am Rednerpult. Er streckte die Hände nach oben, um sich Gehör zu verschaffen. Mit hochrotem Kopf schrie er an gegen die Begeisterung. Allmählich wurde es leiser.
»Genossen! In dieser historischen Stunde erklärt der Rat der Volkskommissare die Regierung Ebert und Scheidemann für abgesetzt. Die sogenannte Nationalversammlung ist aufgelöst.«
Dröhnender Beifall.
»Die Mitglieder dieser Regierung und die führenden Vertreter der Nationalversammlung sind zu verhaften.«
Beifall, noch lauter.
»Eine der ersten Aufgaben des Genossen Haase wird sein, ein Volkstribunal einzurichten und die Verräter an der Sache der Arbeiterklasse anzuklagen.«
Beifall. Zacharias blickte zu Haase, dessen Gesicht war kreidebleich.
»Der Genosse Däumig, unser Kommissar für Verteidigung und Inneres, hat den Auftrag erhalten, Weimar zu erobern und die Köpfe der Konterrevolution zu verhaften.«
»Abschlagen! Köpfe abschlagen!« Ein anderer schrie: »Da braucht es keinen Prozess! Abknallen!«
»Nein, Genossen«, erwiderte Liebknecht, »wir müssen diese Verräter öffentlich entlarven, um jene Arbeiter für die Revolution zu gewinnen, die immer noch glauben, die SPD kämpfe für den Sozialismus. Und wir müssen diejenigen zur Verantwortung ziehen, die den Krieg verschuldet haben.«
Beifall.
»Wir werden Ihnen morgen ein Sozialisierungsgesetz zur Abstimmung vorlegen. Ich kann Ihnen heute ankündigen, dass darin alle Betriebe ab einer bestimmten Belegschaftszahl sofort der Kontrolle der Betriebsräte unterworfen werden. Die Kapitalisten werden entmachtet, jeder Versuch des Widerstands wird gebrochen. Die Genossin Luxemburg wird nach mir dazu vortragen. Der Genosse Däumig ist beauftragt, eine Miliz zu bilden und ein Komitee zur Bekämpfung der Konterrevolution. Die preußische Polizei und die Polizei in den anderen Ländern des Reichs sind aufgelöst. Außerdem werden wir alle Richter und Staatsanwälte entlassen. Sofern sie direkt der Klassenjustiz gedient haben, werden wir sie zur Verantwortung ziehen. Die Gefängnisse unterstehen künftig der Verwaltung des Genossen Haase. In Moabit und Plötzensee wurden bereits alle politischen Gefangenen freigelassen, dazu alle Gefangenen, die keine Kapitalverbrechen verübt haben. Alle sonstigen Fälle werden geprüft. Die Genossen in Hamburg, Bremen und anderen Städten werden genauso handeln. Der Presse wird per Gesetz auferlegt, die Wahrheit zu berichten. Sollten Zeitungen gegen das Gesetz verstoßen, werden sie verboten. Das gilt auch, wenn Zeitungen zur Unruhe oder zum Widerstand gegen die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufhetzen. Als erste Maßnahme haben wir dem Genossen Däumig befohlen, Redaktion und Druckerei des Vorwärts zu besetzen. Sollte sich die Berliner Organisation der Mehrheitssozialdemokraten auf den Boden der Revolution stellen, darf der Vorwärts wieder erscheinen.«
Liebknecht sagte noch viel, aber Zacharias war zu müde, um ihm zu folgen. Er legte sich auf den Boden, benutzte den Mantel als Kopfkissen und schlief gleich ein.
Irgendwann spürte er ein Rütteln, er öffnete die Augen und sah in das Gesicht eines Mannes, den er nicht kannte. »Genosse, es ist Revolution, schlafen kannst du später!« Der Mann lachte.
Dann hörte Zacharias ihre Stimme. Er erkannte sie sofort. Das war nicht Luise Zietz von der USP, die zum Staatssekretär ernannt worden war, und es war nicht Clara Zetkin, der Volkskommissar für Frauenangelegenheiten. Es war Rosa. Die Menschen tobten nicht wie bei Liebknecht, sie hörten zu.
Luxemburg beschwor die Genossen, Gewalt nur zu benutzen, wenn der Klassenfeind zur Gewalt greife. »Wir brauchen hier nicht das Blutbad nach bolschewistischem Muster. Die deutsche Arbeiterklasse ist zu zivilisiert, zu sehr die Erbin der europäischen Kultur, als dass sie zu Totschlägern herabsinkt. Der Feind bestimmt, ob wir Gewalt anwenden und wie viel Gewalt wir anwenden. Wenn es nach uns ginge, so würde die Revolution friedlich siegen, weil die Massen den Sozialismus wollen.«
Zacharias hörte manche murren. Sie wollten Rache. Aber vielleicht schieben sie nur das eigene Versagen ab auf die Führer. Die heute murren, sind womöglich im August 1914 freiwillig in den Krieg gezogen. Vielleicht haben sie im Winter 1918 den Mehrheitssozialdemokraten geglaubt, dass die Sozialisierung marschiere und der Volksstaat gegründet werde. Aber hat Rosa nicht recht, wenn sie sagt, die Massen müssten selbst lernen, wie sie den Klassenkampf zu führen hätten? Allein durch ihr Auftreten erinnert sie viele Arbeiter daran, dass auch sie die Revolution 1914 verraten hatten. Die damals der Sache treu geblieben sind, waren ein klägliches Häuflein, verlacht und verhöhnt, wenn es überhaupt wahrgenommen wurde. Rosa und auch Liebknecht gingen für ihre Überzeugung ins Gefängnis. Viele von denen, die heute nach Rache schreien, haben die Spartakisten damals erst als Landesverräter beschimpft, dann als bolschewistische Agenten. Und heute wollen sie kein kritisches Wort hören, nichts, was sie von ihrer Rache abhalten könnte. Die Wut, die sie auf sich haben müssten, richten sie nun gegen Ebert und Scheidemann und die Sozialdemokraten, die ihnen noch folgen. Diese Wut schafft ein Feindbild und wird zur Triebkraft der Revolution. So erwächst aus der Ebert und den anderen sozialdemokratischen Führern angelasteten Täuschung, die in Wahrheit auch eine Selbsttäuschung war, neue Kraft.
Zacharias fühlte sich elend. Er wankte mehr nach vorn zur Regierungsbank, als dass er ging. Aber die war umlagert von Delegierten und Journalisten. Er versuchte Blickkontakt mit Rosa herzustellen, aber es gelang ihm nicht. Da entschied sich Zacharias, ohne Erlaubnis nach Hause zu gehen, um ein paar Stunden zu schlafen. Was hatte Rosa von einem Leibwächter, der im Stehen einschlief? Sie war umgeben von Genossen, von denen einige bewaffnet waren.
Auf dem Heimweg gingen Zacharias die Szenen der vergangenen Tage durch den Kopf. Eigentlich war er längst tot. Vielleicht war er es, und die Revolution war nur ein Traum im Jenseits. Da lachte er über sich selbst. Red keinen Unsinn, geh ins Bett, morgen geht es weiter. Du wachst auf und musst keine Angst mehr haben vor Polizisten, die dich ermorden wollen. Gleich morgen schaue ich, ob ich Lohmeier finde. Mit dem Herrn habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen.
Jetzt spürte er den Hunger. Er hatte lange nichts gegessen. Als er vor der Haustür stand, glaubte er, keinen Schritt weitergehen zu können.
»Wie siehst du denn aus?« begrüßte ihn die Mutter. »Wo warst du?« Aber sie erwartete keine Antwort, in ihrem Gesicht zeigten sich Erleichterung und Sorge gleichermaßen. »Da war vorhin jemand da für dich. Ein Russe oder ein Pole, so genau weiß man das ja nicht. Er kommt morgen wieder, ich soll dich grüßen.«
Zacharias setzte sich auf einen Stuhl. »Hat er keinen Namen genannt?«
»Nein.«
Aber Zacharias ahnte auch so, wer es gewesen war.
»Und dann war Margarete hier.«
Er überlegte, was sie gewollt haben mochte. Zacharias aß hastig zwei Scheiben Brot mit Rübenaufstrich, trank Wasser, dann ging er in sein Zimmer und warf sich angezogen aufs Bett. Der Schlaf kam sofort.
*
Ein Klopfen weckte ihn. Er öffnete die Augen und blinzelte ins Licht. Es war heller Tag. »Herein!« rief er.
Seine Mutter öffnete die Tür. »Der Russe«, sagte sie und ging hinaus.
Zacharias stand auf, wusch sich in der Waschschüssel das Gesicht und fuhr sich mit den Händen durch die zu langen dunkelbraunen Haare. Dann ging er in die Küche. Er spürte die Unruhe in ihm wachsen. Am Küchentisch saß ein kleiner, fetter Mann, unrasiert, mit Pickeln im Gesicht. Er stand auf, als er Zacharias sah, und reichte ihm die Hand. Mit einem Blick auf die Mutter sagte er auf Russisch: »Wo können wir ungestört sprechen, Genosse?«
Zacharias führte den Mann in sein Zimmer. Er bot ihm einen Platz auf dem einzigen Stuhl an, er selbst setzte sich aufs Bett.
»Bronski heiße ich. Der Genosse Dserschinski schickt mich. Ich soll Ihnen eine Weisung übermitteln und in Moskau berichten, was Sie herausgefunden haben. Vor allem, wie wir die Revolutionsregierung unterstützen können.« Er nuschelte.
»Fangen wir mit letzterem an«, sagte Zacharias. »Es ist der kälteste Winter seit langem. Die Entente blockiert die deutschen Häfen. Die Menschen frieren und haben nichts zu essen. Allein in Berlin verhungern Tausende. Zuerst brauchen wir Lebensmittel, dann Kohle. Alles andere ist zweitrangig.«
Bronski schüttelte leicht den Kopf. »Kein Geld? Nicht die Rote Armee? Der Genosse Trotzki persönlich hat mir gesagt, es wäre ihm und seinen Soldaten eine Ehre, die deutsche Revolution zu verteidigen.«
»Vielleicht genügt die Drohung. Die Genossen in Moskau glauben, die deutschen Arbeiter würden jubeln, wenn Rotarmisten die Grenze überschritten. Das ist aber nicht wahr. Viele würden es als Bedrohung empfinden, als Einmischung, als Besetzung. Die Mehrheitssozialdemokraten würden sagen, sie hätten es schon immer gewusst, dass die Bolschewisten die Revolution mit Waffengewalt exportieren wollten. Wir hungern und frieren, Genosse Bronski. Ich weiß, die Russen hungern und frieren noch mehr. Und jede Hilfe für uns bedeutet mehr Opfer in Russland. Aber wenn etwas die Bolschewiki in Deutschland beliebt machen kann, dann diese Hilfe.«
Bronski schaute ihn finster an. Er ist beleidigt, dachte Zacharias.
»Die Rote Armee ist kein Besetzer. Wir wollen das gleiche wie die deutschen Arbeiter. Und wir brauchen die Revolution in Deutschland. Wenn sie scheitert, werden wir auch scheitern. Das sagen alle führenden Genossen.«
»Berichten Sie dem Genossen Dserschinski, was ich Ihnen gesagt habe. Warum sollten Sie einen Krieg mit den Polen anfangen, die mit der Entente verbündet sind? Ohne Krieg gegen Polen aber könnte die Rote Armee nicht nach Deutschland marschieren. Das wäre Abenteurertum. Ich verlange, dass Sie das ungekürzt und unverfälscht berichten.«
Jetzt wurde Bronski böse. »Was glauben Sie, Genosse Zacharias, was mein Auftrag ist? Die Genossen in Moskau anzulügen?«
Zachanas schaute kurz an die Decke, dann erfassten seine Augen wieder Bronski. Was war das für einer? Einer von denen, die ihre Berichte an die Bedürfnisse ihrer Chefs anpassten? Traute er sich zu berichten, was in Moskau nicht gefiel? Zacharias hatte miterlebt, wie versessen alle Führer auf Deutschland starrten und das eigene Schicksal abhängig machten von dem, was dort geschah. Siegte die Revolution auch hier, dann war Europa ein Pulverfass, dann würden überall Aufstände losbrechen und die Macht des Kapitals wanken in der Welt.
»Und nun die Weisung, Genosse. Der Genosse Dserschinski beauftragt Sie, gemeinsam mit dem Genossen Friesland die deutschen Kommunisten auf die Taktik der Bolschewiki festzulegen. Der Genosse Dserschinski hat mir befohlen, Ihnen auszurichten, dieser Wunsch beruhe auf einem Plan Lenins. Der Genosse Lenin habe gesagt: Wenn die deutschen Revolutionäre sich nicht weiterentwickeln zu einer wahrhaft bolschewistischen Partei, dann kann die Revolution nicht siegen.«
Zacharias schaute ihn verwundert an. Er sollte mit Friesland eine Fraktion bilden und versuchen, Lenins Taktik durchzusetzen. Nur, was bedeutete das?
»Ich bin so eine Art Leibwächter der Genossin Luxemburg. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, soll ich ihren Einfluss zurückdrängen. Es ist ja bekannt, die Genossin Luxemburg hat eine eigene Taktik, und wie es scheint, führt diese ebenso zum Ziel wie die Taktik des Genossen Lenin.«
»Genosse Zacharias, ich habe nicht den Auftrag, mit Ihnen zu diskutieren. Ich darf Sie unterrichten, der Genosse Friesland ist bereits unterwiesen und hat begonnen, Verbündete zu sammeln. Als Bolschewik sollten Sie wissen, dass Ihnen Ihre Position als Leibwächter der Genossin Luxemburg eine wichtige Rolle in unserem Kampf gibt. Der Genosse Lenin hat bekanntlich großen Respekt vor der Genossin Luxemburg. Er ist aber der Auffassung, die Genossin Luxemburg besitze einen übertriebenen Einfluss auf die Kommunistische Partei und, so fürchtet er, auch auf die Regierung. Wenn die Internationale nach Berlin umzieht, könnte es geschehen, dass die Genossin Luxemburg auch die Internationale mehr beeinflusst, als es einer einzelnen Führerin zusteht. Der Genosse Liebknecht hingegen hat offenbar begriffen, dass er nicht umhinkommt, eine starke kommunistische Partei aufzubauen und die Macht in deren Hand zu konzentrieren. Eine Revolution ohne Generalstab hat schon verloren.«
»Auch in Russland gibt es zwei revolutionäre Parteien, neben den Bolschewiki die Linken Sozialrevolutionäre. Bei uns sind aber die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien anders. Die USP ist um ein Vielfaches stärker als die Kommunisten. Aber die KP hat einen großen Einfluss in der Regierung, gerade wegen Rosa Luxemburg. Die Massen lieben sie.«
»Das macht sie um so gefährlicher. Die Massen erkennen noch nicht, wohin die Taktik der Genossin Luxemburg führt. Wir aber wissen es und sehen die Gefahren. Und in Russland bestimmen die Bolschewiki die Politik, nicht die Linken Sozialrevolutionäre. In Deutschland kommt es darauf an, die beiden Parteien zu vereinigen auf der Grundlage des Kommunismus.«
»Sie meinen, die große USP hat sich der kleinen KP zu unterwerfen?«
Bronski schaute Zacharias misstrauisch an. »Beide Parteien müssen sich zusammenschließen und Mitglied der neuen Internationale werden. Wenn der Sieg der deutschen Revolution feststeht, wird die Internationale nach Berlin ziehen. Die Revolution kann aber nur siegen, wenn auch die USP die Gültigkeit der bolschewistischen Taktik anerkennt, die KP muss das sowieso tun. Die Partei, in deren Land die Internationale ihr Hauptquartier hat, wird ein großes Gewicht haben in ihren Gremien. Wir müssen verhindern, dass aus der Kommunistischen Internationale eine sozialdemokratische wird.«
Zacharias überlegte, ob er Bronski erklären sollte, wie wirklichkeitsfremd die Moskauer Weisung war. Er hatte es selbst erlebt in Russland. Weil dort die Bolschewiki sich am eigenen Sieg berauschten, glaubten sie, sie könnten aller Welt beibringen, wie man den Sozialismus errichtete. Und die Arbeiter überall mussten sich für Russlands Revolution begeistern und sich vom Einfluss der Reformisten und Opportunisten befreien. Zacharias aber wusste, die russische Arbeiterklasse hatte eine andere Mentalität und eine andere Tradition als die deutsche. Sie war von geringer Zahl und fast ohne Geschichte. Die meisten russischen Arbeiter konnten weder lesen noch schreiben. Die deutschen Arbeiter dagegen waren die größte Volksgruppe. Sie waren bildungshungrig, sozialdemokratisch erzogen und in mächtigen Gewerkschaften organisiert. Seit dem Fall der Sozialistengesetze 1890 kämpfte die deutsche Sozialdemokratie legal, wenn auch manche ihrer Vertreter bis zur Novemberrevolution immer wieder angefeindet und verfolgt wurden.
»Die Revolution in Russland begann mit einem Beschluss des ZK. Lenin plante sie wie einen militärischen Angriff. Die deutsche Revolution hat niemand geplant, sie ist das Ergebnis einer Empörung der Arbeiter über Eberts Verrat. Der hat sich zum Revolutionsführer gemacht, um die Revolution mit Hilfe von Söldnern der Reaktion zu ersticken. Hier gibt es kein ZK, das Befehle erteilt. Und die Revolution hat in Berlin und einigen Städten vielleicht vorläufig gesiegt, aber noch lange nicht im Reich. Wenn wir die Bolschewiki kopieren, werden wir untergehen. Liegt das im Interesse Sowjetrusslands?«
Bronski starrte ihn böse an. »Sie vergessen offenbar, dass Sie Funktionär der Tscheka sind. Sie missachten Befehle Dserschinskis und sogar Lenins. Sie glauben, Sie wüssten alles besser. Ich verlange, dass Sie Kontakt mit Friesland aufnehmen und Ihren Auftrag erledigen. Lenin sagt, es gibt nur zwei Wege in der Weltrevolution. Entweder die Arbeiterklasse folgt Luxemburg, dann wird sie verlieren. Oder sie folgt den Bolschewiki, dann wird sie siegen. Haben Sie das verstanden, Genosse Zacharias?«
Zacharias antwortete nicht. Wer bin ich? Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich habe so viele Menschen umgebracht, gewiss war es nötig. Geht das jetzt so weiter?
»Ich staune, dass ich Sie daran erinnern muss. Aber damit Sie nachher nicht sagen, Sie hätten es nicht gewusst: Der Arm der Tscheka reicht weit. Wer Befehlen nicht gehorcht, hilft dem Feind, ist ein Deserteur. Sie wissen, was man mit Deserteuren im Krieg macht, Genosse Zacharias?«