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E

r stand vor dem Mietshaus in der Pflügerstraße 32 in Berlin-Neukölln. Der Name stand an der Tür. Seine Hände wurden nass. Er schlug den Eisenklöppel gegen den an der Tür angeschraubten Sockel und wartete. Erst nichts, dann ein Schlurfen. Ein Brauereiwagen fuhr die Kopfsteinpflasterstraße hinunter, der Kutscher rief: »Ho-ho!« Aber das Pferd klapperte so langsam wie zuvor vor sich hin, es schüttelte bedächtig die Mähne. Zacharias suchte mit den Augen die Straße ab, ob irgendwo Menschen darauf lauerten, das Pferd zu töten und es auf offener Straße zu zerfleischen, wie er es in Moskau gesehen hatte. Da öffnete sich die Haustür. Eine Frau mit weißen Haaren schaute ihn an mit großen Augen, dann quollen Tränen hervor. Sie sagte nichts, ging einen Schritt auf ihn zu, fasste ihn an den Schultern und starrte ihm ins Gesicht. Dann umarmte sie ihn. Er spürte ihre Knochen, sie fühlte sich hart an durch die schwere Kleidung. »Sebastian«, sagte sie. Ein Kloß wuchs ihm im Hals. Dann ließ sie ihn los und schaute ihn wieder an. »Dünn bist du geworden. Komm rein.« Sie ging vor zur Wohnungstür im Erdgeschoss.

»Warum ist die Haustür abgeschlossen?« fragte Zacharias, um etwas zu sagen. Der Schreck über den Anblick der Mutter lähmte ihn fast. Sie hatte schwarzes Haar gehabt, als Zacharias in den Krieg zog, und ihre Knochen hatte er nie gespürt. Auch schien sie ihm kleiner, unter den Augen hingen Tränensäcke. Die Warze am Kinn war gewachsen.

Die Mutter schaute ihn traurig an. »Es ist alles anders geworden. Der Krieg, der Hunger. Die Leute stehlen wie die Raben, da muss man die Häuser abschließen, auch am Tag.«

Sie führte ihn in die Küche. Er sah, dass sie schlurfte. Die Küche war so, wie er sie in Erinnerung hatte. Aber es war kalt, der Ofen brannte nicht. Davor lagen in einem Korb zwei Stück Holz. Gleich öffnete die Mutter die Ofenklappe.

»Nein«, sagte Zacharias. »In Russland ist es noch kälter.« Er wusste, es gab nur wenig Brennmaterial in Berlin. »Wo ist Vater?«

Sie schaute ihn traurig an und faltete ihre Hände verkrampft. »Du weißt es ja noch nicht. Er ist gestorben, Typhus. Im Hungerwinter 1917 wurde er krank, es dauerte nicht lange, am 2. Januar haben wir ihn beerdigt.« Vor gut einem Jahr also.

Er schluckte. Dieser verdammte Krieg. Diese Verbrecher, die ihn angezettelt hatten, großkotzig und menschenverachtend. Sie befahlen jeden Tag Tausende in den Tod und fanden es herrlich, am Anfang jedenfalls. Vor Langemarck schickten sie Schüler und Studenten singend in die Maschinengewehrsalven des Feindes. Sie nannten es Heldentum. Und in der Heimat hungerten sich die Menschen ins Grab.

Aber dann wich der Zorn, und Zacharias war nur noch traurig. Er rief sich das Bild des Vaters in Erinnerung. Seine Kollegen in den Tegeler Borsig-Werken achteten ihn und wählten ihn immer wieder als gewerkschaftlichen Vertrauensmann. Zacharias legte sein Gesicht in die Hände. Episoden mit dem Vater fielen ihm ein. Weihnachten vor vielen Jahren, eine Holzeisenbahn unterm Weihnachtsbaum, und der Vater spielte mit. Oder wenn Besuch kam, Arbeitskollegen des Vaters, die über Bebel sprachen und auf die Opportunisten schimpften. Eine Kanne Bier holen für den Vater. Einmal durfte der kleine Sebastian am Glas nippen, und gleich wurde ihm schlecht. Der Qualm der Sonntagszigarre, über den die Mutter jedes Mal schimpfte, woraufhin der Vater nur lächelte und genüsslich am Fehlfarbstumpen sog. Noch mehr Rauchwolken, noch mehr Gestank.

Die Mutter hatte sich neben Zacharias’ Stuhl gestellt und strich ihm vorsichtig übers Haar. »Aber du lebst«, sagte sie. »Vater hat oft überlegt, wo du sein könntest. Und er hatte solche Angst, du könntest gefallen sein. Kaum einer hier ist ohne Gefallenen in der Familie. Es war schrecklich, als der Brief kam, du seist vermisst.«

Er schaute der Mutter ins Gesicht. Sie war so alt geworden. »Und Renate?«

»Die hat vorletztes Jahr geheiratet, den Günther Bäumer. Den kennst du doch noch, der wohnte hier im Viertel, in der Glogauer Straße. Eine Woche nach der Hochzeit hat sie den Brief bekommen. Gefallen an der Westfront. Sie ist fast verrückt geworden. Hat viele Tage nur geweint und nicht gesprochen. Man konnte zuschauen, wie sie verfiel. Ein halbes Jahr später ist sie gestorben, Lungenentzündung. Sie war völlig entkräftet und ohne Hoffnung. Da hatte die Entzündung leichtes Spiel. Vielleicht tröstet es dich, sie hat es so gewollt. Davon bin ich überzeugt.« Die Stimme der Mutter klang rau. Sie räusperte sich. Dann legte sie ihm die Hand auf die Schulter und wiederholte: »Aber du lebst.«

Er schaute sich um in der Küche, ohne etwas zu sehen. Ich hätte in Russland bleiben sollen. Der Gedanke schien auf, dann sah er wieder die Bilder der Menschen, die er getötet hatte, und der Gedanke verschwand. Er war nicht vorbereitet gewesen auf das Elend zu Hause. Er hatte immer noch die Bilder einer Vergangenheit im Kopf, die ihm nun unwirklich vorkam.

»Sebastian, ich koche uns einen Kaffee, und ein Stück Brot habe ich auch, oder was man heute Brot nennt.« Ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu. Während die Mutter Feuer im Ofen entzündete, versuchte Zacharias zu begreifen, was sie ihm erzählt hatte. Es war blauäugig, zu glauben, der Krieg würde ausgerechnet seine Familie nicht zerstören, wo er doch Millionen von Familien in allen kriegführenden Ländern zerstört hatte. Millionen Ehemänner, Verlobte, Freunde, Brüder waren erschossen, zerquetscht, zersprengt, erstochen worden. In der Heimat waren sie an Hunger, Diphtherie, Tuberkulose, Grippe gestorben.

Die Mutter schloss die Ofenklappe, es roch nach Papierrauch. Sie nahm vom Brett an der Wand eine Blechdose und gab etwas daraus in eine Kanne. Dann füllte sie den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd. »Zichorie«, sagte sie, als müsste sie sich entschuldigen.

Zacharias hatte die Frage nach Margarete auf der Zunge, aber er traute sich nicht. Wenn sie auch tot war? Aber dann fragte er doch: »Und Margarete, lebt sie noch?«

»Ich glaube schon, aber sicher bin ich nicht. Als keine Briefe mehr von dir kamen, ist sie anfangs oft hier gewesen und hat nach dir gefragt. Wir wussten ja auch nichts.« Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Irgendwann blieb sie weg. Ich kann es verstehen. Wir mussten sie immer enttäuschen.«

Als der Ersatzkaffee fertig war, saßen sie schweigend am Tisch. Er war versunken in Erinnerungen. Wann hatte er den Vater zum letzten Mal gesehen? Am Morgen seiner Einberufung. »Jetzt, wo du zu Kaisers gehst, bin ich beruhigt, die Russen werden nicht in Berlin einmarschieren.« Es war ein Scherz. Der Vater hatte ihn lange angeschaut und ihn dann kurz in den Arm genommen. Das hatte er noch nie getan. In seinen Augen hatte es geglänzt, und als er zur Arbeit ging, schlug er die Tür lauter zu als sonst. Und die Schwester? Die hatte geweint. Um sie zu beruhigen, hatte Zacharias gesagt: »Ich komme gar nicht mehr an die Front. Wenn die mich geschliffen haben, ist der Krieg vorbei.«

»Bestimmt?« hatte Renate gefragt.

»Steht sogar im Vorwärts, dass die Franzosen die Hosen voll haben. Sie rennen weg, und wir sind bald in Paris.«

Er fragte sich, ob er es geglaubt hatte. Ja und nein. Er hatte es gehofft. Aber bald war die Hoffnung verflogen, die Franzosen rannten nicht weg, sie gruben sich ein wie die Deutschen auch.

Jetzt erst spürte er die Müdigkeit. Die Reise war ohne Schwierigkeiten verlaufen, aber auf der Schiffspassage von Riga nach Hamburg hatte er sich einige Male übergeben müssen wegen der rauen See. Die Mutter schmierte Brote mit Margarine.

»Viele haben nicht mal mehr das«, sagte sie.

Er trank und aß. »Kriegst du eine Rente?«

»Nein«, sagte die Mutter. »Nur wenn ich selbst ein Krüppel wäre. Wäre der Krieg nicht gewesen, dann wären der Vater und Renate noch am Leben.«

Ja, hätte es doch keinen Krieg gegeben. Er hat alles zerstört, und nicht einmal die Sieger haben etwas gewonnen. Zacharias dachte an die ersten Tage des Kriegs, so viele waren begeistert gewesen, aber nicht alle. Auch mancher, der jubelte, schrie um so lauter, je näher die Angst ihm rückte. Damals glaubten fast alle, Deutschland müsse sich verteidigen gegen Russland, den Hort der Reaktion. Siegte der Zar, gäbe es nichts mehr von dem bisschen Freiheit, die Organisationen der Arbeiter würden unterdrückt. Wenn es gegen Russland ging, hätte selbst Bebel den Schießprügel geschultert. Das hörten und lasen sie damals in den sozialdemokratischen Zeitungen. Aber Bebel war lange tot, und Deutschland hatte sich nicht verteidigt, sondern angegriffen, vor allem die Habsburger ermutigt, mit den Serben abzurechnen, weil die angeblich schuld waren am Attentat auf den Thronfolger und seine Frau. Sie waren belogen worden.

Die Mutter saß ihm gegenüber und schaute ihn an. »Was willst du nun tun? Wie war es in Russland? Erzähl!«

»In Russland war es kalt, und die Menschen haben noch weniger zu essen als hier. Aber sie haben den Zaren verjagt und eine Revolution gemacht für die Arbeiter und die Bauern. Noch geht es drunter und drüber, aber wir werden das schon schaffen.«

»Wir?«

»Ja, ich auch. Ich habe mitgemacht, und ich bin stolz, dass ich es durfte.«

»Revolution gab es hier auch«, sagte die Mutter. Es schien ihr egal zu sein, jedenfalls klang sie unbeteiligt.

»Aber sie ist auf halbem Weg steckengeblieben.«

»Vielleicht hätte Vater es auch so gesehen. Ich weiß es nicht. Jedenfalls machen sie überall Jagd auf Spartakisten, und sie schießen sie tot. Was willst du nun tun? Es gibt so viele Soldaten, die Arbeit suchen.« Sie sah so alt aus und so müde.

Er schüttelte den Kopf. »Ich will helfen, die Revolution weiterzuführen, bis sie ihren Namen verdient.«

Die Mutter schaute ihn traurig an. »Noch mehr Tote, noch mehr Elend. In Russland gibt’s doch auch nur Mord und Totschlag. Das sagen alle.«

»Schuld sind die Ebert und Scheidemann. Die haben die Gelegenheit nicht genutzt. Wir hätten alles haben können ohne Blutvergießen. Aber statt dessen haben sie die Freikorps auf die Arbeiter losgelassen. Wenn Vater das erlebt hätte.«

»Hoffentlich weißt du, was du tust.«

Sie saßen noch lange da. Meistens schwiegen sie. Sonst redeten sie über die Familie und wie es früher war. Dann konnte Zacharias sich der Müdigkeit nicht mehr erwehren. Er nahm eine Goldmünze aus dem Gürtel, den Dserschinski ihm mitgegeben hatte. Das Stück glänzte auf dem Tisch. Die Mutter starrte es an.

»Ich will dir nicht auf der Tasche liegen«, sagte er.

Die Mutter nahm das Stück und betrachtete es. Erst wollte sie fragen, wo das Gold herkam, aber dann schloss sie den Mund, stand auf und legte das Stück unter eine Dose im Küchenschrank. Zacharias wusste, früher hätte sie von ihm kein Geld angenommen. Gold war jeden Tag mehr wert, die Reichsmark verfiel in der Nachkriegsinflation.

In der Nacht lag er in seinem Zimmer im Bett und versuchte vergeblich zu schlafen. Erinnerungen kamen an die Schulzeit, die Lehre bei Borsig und die ersten Jahre an der Drehbank. Gesichter von Kollegen tauchten auf und verschwanden. Immer wieder der Vater und Renate. Er versuchte sich vorzustellen, wie Margarete aussehen mochte. Aber ihr Bild blieb blass. Wie war ihre Stimme? Wie hatte sie sich bewegt? Ob sie auch tot war? Und wenn nicht, warum sollte sie auf ihn warten? Vermisst war doch so gut wie tot. Irgendwann kamen die Tränen. Er beschimpfte sich. Dummer Junge, der glaubt, zu Hause habe sich nichts verändert, während die Welt zertrümmert war.

Am nächsten Morgen stand er früh auf. Die Mutter war schon in der Küche, es war warm. Zacharias ahnte, sie verschwendete ihre Holzvorräte, um ihm eine Freude zu machen. Er rieb sich die Augen, sie brannten. Sie redeten nicht viel, tranken Ersatzkaffee und aßen ein Stück Brot, das nach Kleie schmeckte. In Russland war es noch schlechter, dachte Zacharias. Da schmeckte es nach Sägemehl.

»Ich muss jetzt los«, sagte Mutter. »Arbeiten.« Sie schlurfte zur Tür. »Ach, ich vergesse es immer wieder«, sagte sie und kehrte noch einmal um. An der Wand hing ein kleiner Kalender. Sie riss das Blatt ab, so, wie sie es früher jeden Morgen getan hatte. Das Blatt mit dem 22. Januar 1919 warf sie in den Herd.

Später fragte er sich, warum es ihn verletzte, dass sie arbeitete. Er war es nicht gewohnt. Er sagte: »Gut, dass du eine Arbeit hast.« Es kam ihm vor wie eine Lüge.

»Putzen«, sagte sie. »Zwei Stellen, trotzdem reicht es nicht.«

Der Krieg hatte die Mutter zur Putzfrau gemacht. Es demütigte ihn. Er schalt sich einen Dummkopf. Das ist ein Beruf wie jeder andere. Man arbeitet und erhält Geld.

Als die Mutter gegangen war, saß er noch lang auf dem Stuhl und schaute zum Fenster hinaus. Ein paar Fußgänger. Selten ein Automobil, hin und wieder Pferdegespanne. Er ging ins Wohnzimmer. In der Vitrine Bücher, darunter Bebels Die Frau und der Sozialismus. Er nahm es heraus und blätterte. Der Vater hatte einiges angestrichen darin. Er las ein paar Sätze, es kam ihm vor wie ein Text aus ferner Zeit. Zacharias stellte das Buch zurück ins Regal. Auf einer Kommode neben dem Fenster standen immer noch die Bilder. Die vom Vater und von Renate trugen ein schwarzes Band. Zacharias überlegte, ob er die Bänder abnehmen sollte, aber er ließ es. Er betrachtete den Vater. Das Bild war einige Jahre vor dem Krieg aufgenommen worden. Der Vater lächelte in die Kamera. Er trug einen Anzug mit Schlips. Renate war noch jung, sie hatte ihr Haar zu Zöpfen geflochten. Ihre Augen schienen zu leuchten. Sie war meist fröhlich und gerne vorlaut, aber niemand hatte es ihr übel genommen.

Zacharias setzte sich aufs Sofa und begann zu weinen. Er saß lange. Und dann meldete sich der Hass auf die, die den Krieg angezettelt, und auf die, die den Kaiser und seine Generale unterstützt hatten. Ebert, Scheidemann und all die anderen, sie trugen eine Mitschuld am Elend von Millionen Familien in Deutschland und anderswo. Sie haben den Krieg angefangen, und sie hätten wenigstens aufhören und auf die irrwitzigen Eroberungspläne verzichten können. Sie haben Verteidigung gesagt und Eroberung gemeint. Von Anfang an. Und jetzt sitzen des Kaisers Helfer in der Regierung, hetzen die Soldateska auf die Arbeiter und reden vom Sozialismus. Deine Trauer ist der Hass, dachte Zacharias. Trauer richtet sich an die Vergangenheit, die kann man nicht ändern. Hass aber richtet sich auf heute und morgen.

Er trocknete die Tränen mit dem Taschentuch und öffnete die obere Kommodenschublade. Darin sah er die Zigarrenschachtel des Vaters. Er nahm sie heraus und öffnete sie. Die Fehlfarbzigarren waren ausgetrocknet. Er stellte die Schachtel zurück in die Schublade und schloss sie.

Zacharias lief im Zimmer umher, betrachtete weiter Bilder und Buchrücken. Ich muss Margarete finden, dachte er. Aber immer wieder kehrten die Worte der Mutter zurück in sein Gedächtnis. Margarete war nicht mehr gekommen. Er hatte ihr nicht geschrieben, die Briefe wären nicht angekommen. Ich muss Margarete finden. Aber mit dem Vorsatz wuchs die Furcht, sie sei auch tot oder habe einen anderen. Wäre doch nur natürlich, Zacharias galt als so gut wie tot. Und treu war er auch nicht gewesen. Er dachte an Jelena, die er in Engels kennengelernt hatte. Die Lehrerin mit den blonden Locken, die ihn nicht mehr sehen wollte, als die Tscheka ihren Onkel erschossen hatte. Zacharias wusste nicht mehr, was dem Onkel vorgeworfen worden war. Es waren Revolution und Bürgerkrieg, aber Jelena, die Lenin verehrte, begann die Tscheka zu hassen. Und daran änderte sich nichts, als Zacharias ihr sagte, Lenin habe die Tscheka gegründet und sie handele nach seinen Befehlen. Erschießen, erschießen, erschießen. Soundso viel Prozent der Bewohner eines Dorfes. Die Popen. Alle, die als Feinde verdächtigt werden oder als Spione oder als Gerüchtemacher. Das hatte Lenin in Telegrammen gefordert. Wie im Blutrausch, so kam es Zacharias jetzt vor.

Er musste raus. Ein eisiger Wind blies durch die Straßen, am Himmel kündigte sich schwarzblau Schnee an. Zacharias schlug den Mantelkragen hoch. Er ging an der Kneipe vorbei, in der er früher Bier für den Vater geholt hatte. Etwas zog ihn zum Eingang, aber vor der Tür kehrte er um. Am Nachmittag würde er Retzlaw aufsuchen, den Kontaktmann zu Radek. Radek würde ihm sagen können, wie er Jogiches treffen konnte. Und der wiederum wusste, wo Rosa war. Die Partei war verboten, und jeder Funktionär, den die Freikorps fingen, war fast schon tot. Das würde auch für Zacharias gelten, sobald er in der Partei mitarbeitete. Er spürte keine Angst, die mochte später kommen.

Weiter hinten lag die Schule. Er erinnerte sich an den alten Lehrer Paulus, der die Kinder mit seinem Stock auf die Handflächen schlug, wenn sie schwatzten oder seine Fragen nicht beantworten konnten. Gegenüber der Schule war früher ein Bäcker. Als Zacharias sich dem Haus näherte, sah er, dass die Fenster leer waren, auch der Laden war geschlossen. Über der Tür stand noch »Feinbäcker Adam«. Vielleicht war Adam im Krieg geblieben oder pleite.

Zacharias schlenderte durch das Viertel, bis er vor dem Haus stand, in dem Margarete mit ihren Eltern wohnte oder gewohnt hatte. Er zog am Türknauf, es war abgeschlossen. Er überlegte, ob er klopfen sollte. Er ging an der Tür vorbei, dann drehte er wieder um. Seine Hand zitterte, als er klopfte. Drinnen rührte sich nichts. Er klopfte kräftiger und wartete. Niemand öffnete. Er trat ein paar Schritte zurück. Ein lautes Tröten ließ ihn erschrecken. Er sprang auf den Bürgersteig, ein Auto knatterte an ihm vorbei. Der Fahrer rief ihm irgend etwas zu. Der Grimasse nach zu urteilen, nichts Freundliches.

Zacharias betrachtete das Haus. Im ersten Stock hatten sie gewohnt. Es sah aus wie früher. Dunkelblaue Vorhänge, die Fenster waren sauber. Er war erleichtert und wunderte sich darüber. Das besagte doch nichts. Schon gar nicht, ob Margarete dort noch wohnte. Und wenn sie dort wohnte, was würde sie sagen, wenn sie ihn sah?

Er lief weiter. Plötzlich kam eine Streife um die Ecke. Sie waren zu viert und trugen Stahlhelme, im Gürtel steckten Stielhandgranaten, über der Schulter hingen bei dreien Karabiner, einer hatte eine Pistolentasche am Gürtel über dem Mantel. Irgendwer rief ihnen etwas nach aus der Straße, woher die Soldaten kamen. Zacharias blieb stehen. Jetzt meldete sich die Angst. Weitergehen, sagte er zu sich. Immer weitergehen. Die Soldaten kamen auf ihn zu. Dann standen sie wenige Meter vor ihm, und einer rief: »Kommen Sie mal her!« Er winkte mit dem Finger. Die anderen nahmen die Gewehre von der Schulter und stellten sie mit dem Kolben auf die Straße. Langsam ging Zacharias zu den Soldaten.

»Können Sie sich ausweisen?« fragte der Soldat ohne Gewehr.

Zacharias nickte, zog sein Soldbuch aus der Innentasche des Mantels und hielt es dem Soldaten hin. Der schaute ihn neugierig an, dann richtete er seine Augen auf das Soldbuch, nahm es und blätterte darin. Er ließ sich Zeit. Zacharias zwang sich, ruhig zu bleiben. Bloß kein Schweiß auf der Stirn und keine zitternden Hände. Er überlegte, wo er die Hände unterbringen sollte. Er steckte sie in die Manteltasche, da richtete ein Soldat das Gewehr auf ihn. »Nichts da!« sagte er.

Zacharias zog die Hände aus den Taschen und legte sie auf den Rücken. Der Streifenführer blätterte und überlegte. »Sie waren in Russland. Seit wann sind Sie wieder hier?«

Sag die Wahrheit, dann kannst du dir nicht widersprechen. »Seit gestern.«

»Was? Seit gestern?«

»Kriegsgefangenschaft«, sagte Zacharias.

»So lange? Das gibt’s doch nicht. Die Bolschewisten mussten doch alle freilassen nach dem Friedensvertrag.«

»Haben sie aber nicht.« Er hätte auch sagen können, es seien viele freiwillig dort geblieben, um die Revolution zu unterstützen. Aber dann hätten sie ihn verhaftet oder erschossen. Andere kehrten nicht heim, weil sie fürchteten, an der Westfront eingesetzt zu werden. Außerdem waren die Russen nicht in der Lage, Hunderttausende von Kriegsgefangenen rasch nach Hause zu befördern. Es fehlte an Lokomotiven, an Wagen, an Kohle und Brennholz, und die Wege in den Westen waren unsicher.

»Bei den Bolschewisten waren Sie also, diesen Judensäuen. Wohl selber einer, was?«

»Ich war in Kriegsgefangenschaft, die haben mich festgehalten, Arbeitseinsatz«, sagte Zacharias. »Und jetzt bin ich endlich zu Hause.«

Der Streifenführer schaute noch einmal in das Soldbuch, dann auf Zacharias. »Interessant. Solche Vögel wie dich habe ich schon kennengelernt. Du hast deine Kriegsgefangenschaft eigenmächtig verlängert, um nicht mehr fürs Vaterland kämpfen zu müssen. Stimmt’s?« Er wartete die Antwort nicht ab, sondern wandte sich an einen Soldaten und sagte: »Durchsuchen.«

Der Mann tastete ihn ab, fand aber nichts.

Der Streifenführer musterte Zacharias. »Und jetzt?«

»Arbeit suchen.«

»Als was?«

»Dreher.«

»Soso, einen richtigen Proleten haben wir hier, und der kommt gerade aus Russland. Wenn ich schlecht gelaunt wäre, ließe ich dich jetzt erschießen. Du hast Glück, riesiges Glück, dass ich es nicht bin. Aber ich merke mir deine Bolschewistenfresse. Ich habe ein gutes Gedächtnis, gerade für Leute wie dich.« Mit einer kurzen Handbewegung zeigte er Zacharias, er solle weitergehen.

Zacharias zwang sich, ruhig zu gehen, er spürte den Blick des Streifenführers noch lange im Rücken. Er würde darauf achten, nie etwas Verdächtiges mitzuführen. An der nächsten Kreuzung bog er rechts ab in die Wildenbruchstraße, dort hatte ein Schulfreund gewohnt, aber Zacharias wollte nicht stehenbleiben.

Mittags war er wieder zu Hause. Die Mutter stand in der Küche, es roch nach Kohlsuppe. Ob sie jeden Mittag heimkam? Auch wenn er nicht zurückgekehrt wäre?

»Sind viele Streifen unterwegs, suchen Spartakisten«, sagte die Mutter.

»Mich haben sie auch angehalten. Es ist unglaublich, was die sich rausnehmen.«

»Es sind Eberts Soldaten. Wie gut, dass Vater das nicht erleben muss. Er wäre verzweifelt.«

Die Mutter stellte Suppenteller auf den Tisch. Zur Suppe gab es Kleiebrot. Sie aßen schweigend. Als sie fertig war, griff die Mutter in die Schürzentasche und legte die Münze auf den Tisch. »Das kann ich nicht annehmen«, sagte sie.

Er schob ihr das Goldstück wieder hin. »Es ist richtig so.« Er überlegte, was Dserschinski dazu sagen würde. Bestimmt nicht, dass er seiner Mutter auf der Tasche liegen sollte. Aber vielleicht würde er fordern: Alles Geld für die Revolution. Moskau war weit weg, er musste selbst entscheiden, was richtig war, im Großen und im Kleinen. Er fand es richtig, seiner Mutter Geld zu geben. Er schmarotzte nicht bei einer Putzfrau.

Die Mutter schaute ihn traurig an. »Jemand, der Gold mit sich trägt, sucht keine Arbeit.«

»Doch, doch«, sagte Zacharias. »Ich werde arbeiten. Aber nicht mehr an der Drehbank.«

»Was dann?«

»Es ist besser für dich, du weißt nichts.«

Sie nickte, aber das zeigte keine Zustimmung, sondern dass sie etwas begriff. »Du arbeitest für die Russen«, sagte sie.

»Es ist besser, du weißt nichts«, wiederholte er.

»Vielleicht«, erwiderte sie. Sie klang enttäuscht. Vielleicht überlegte sie, was ihr Mann dazu gesagt hätte. Zacharias fühlte sich nicht wohl, er ahnte, was der Vater über Russland gedacht hätte: »Mord und Totschlag, Diktatur, das ist doch kein Sozialismus. Damit haben wir Sozialdemokraten nichts zu tun.«

»Aber Mord und Totschlag gibt’s auch in Deutschland. Ich sage nur Noske.«

Der Vater hätte den Kopf geschüttelt und gesagt: »Ja, ja, der Noske ist ein Schlächter. Der hatte schon immer eine Schwäche fürs Militär. Aber allein schuld ist er nicht. Wenn Liebknecht und Rosa putschen, was soll man da machen?«

»Aber SPD und USPD hatten doch die Macht. Warum lassen sie sich die aus der Hand nehmen? Warum wollten sie die Nationalversammlung und nicht die Räte?«

»Weil wir Sozialdemokraten Demokraten sind. Sagt schon der Name. Das Volk soll entscheiden und nicht ein paar Schreihälse auf Sitzungen von Räten. Karl und Rosa haben ja nicht mal Mandate gekriegt für den Rätekongress. Früher warst du auch mal Demokrat, aber heute bist du Putschist. Ich sag dir eines, dein Lenin macht es nicht mehr lang. Man kann nicht gegen ein ganzes Volk Krieg führen. Das ist ein Fanatiker.«

Wie soll man einem Toten beibringen, dass in diesen Zeiten morgen alles ganz anders aussehen kann als heute? Wie soll man abstimmen in Revolutionen, wenn jeden Tag die Stimmung umschlagen kann?

Die Mutter schaute ihn an über den Tisch. »Hast du nach Margarete gefragt?« Sie sagte es wohl, um über etwas anderes zu sprechen.

Er schüttelte den Kopf.

»Hast du noch Hunger?«

Natürlich hatte er Hunger, aber er glaubte, seine Mutter würde nicht satt, wenn er noch etwas aß. Trotzdem schöpfte die Mutter noch eine Kelle Kohlsuppe aus dem Topf auf dem Tisch und schob ihm einen Kanten Kleiebrot zu. Er wollte protestieren, aber dann sah er den Blick der Mutter und schwieg. Sie schaute zu, wie er aß. Der Herd heizte die Küche.

»Du kannst hier wohnen, solange du willst. Damit du es weißt.«

»Ich weiß es noch nicht.«

Sie schaute ihn kurz streng an. »Pass auf dich auf. Es wurden so viele getötet in den letzten Wochen. Dieser Spartakusaufstand war schrecklich. Und seitdem jagen sie jeden, den sie für einen Spartakisten halten. Sie fragen nicht lange. Ich hoffe, du weißt, auf was du dich einlässt.«

Er staunte, die Mutter ahnte die Gefahren, die auf ihn lauerten. Er würde umziehen müssen in ein Versteck, er durfte die Mutter nicht gefährden. Aber wohin?

Nach dem Essen legte er sich aufs Bett und dachte nach, wie er den Kontakt zur Partei aufnehmen konnte, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen. Dserschinski hatte gesagt, er solle Karl Retzlaw aufsuchen. Zacharias war sicher, Retzlaw wurde überwacht, wenn er nicht einsaß oder schon tot war. Was dann? Er drängte den Gedanken weg. Wenn sich herausstellte, dass Retzlaw tot oder nicht aufzufinden war, würde er nachdenken, was dann zu tun sei. Auf jeden Fall wäre es falsch, Genossen von früher zu suchen. Er wusste nicht, ob sie zu den Kommunisten übergetreten waren. Und wenn nicht, ob sie ihn verrieten.

Wenn Retzlaws Wohnung überwacht wurde, was dann? Wie konnte er sich herausreden? Und würden sie ihm glauben? Eher nicht. Was war besser, mit Soldbuch hingehen oder ohne? Er dachte an die Streife, die ihn überprüft hatte. Es hätte auch schiefgehen können. Aber ohne Papiere würden sie ihn mitnehmen. Also doch das Soldbuch. Verdammt, er war Kriegsgefangener gewesen wie viele andere auch. Und er war im russischen Chaos hängengeblieben. Er habe für die Weißgardisten gekämpft, die Konterrevolution, das würde er sagen. Sie sollten doch den Admiral Koltschak fragen, für den habe er gekämpft, um die Roten aus Moskau und Petrograd zu verjagen. Retzlaw? Den kenne er nicht, er habe im Haus nach einem alten Schulkameraden gesucht. Die Ausrede war dürftig, vielleicht fiel ihm auf dem Weg noch etwas Besseres ein. Er hatte keine Wahl, er musste es darauf ankommen lassen.

Zacharias fuhr mit der Straßenbahn zum Gesundbrunnen. Er hätte früher aussteigen müssen, fuhr aber absichtlich zu weit, um sich der Strelitzer Straße vorsichtig zu Fuß zu nähern. Dort in der Nähe lag das große Werk der AEG in der Voltastraße. Er fand das große Mietshaus gleich, die Eingangstür war nicht abgeschlossen. Er schaute sich um, sah aber niemanden, der ihn beobachtete. Er musste in das dritte Hinterhaus der Mietskaserne. An den Wänden des Hinterhofs sah er ein Schild: »Das Spielen der Kinder auf dem Hofe ist verboten!« Dann stand er vor einer braun gestrichenen Wohnungstür, auf einem handgemalten Holzschild las er »Retzlaw«. Er klopfte an die Tür. Nichts. Er klopfte noch einmal. Zacharias wartete, aber niemand öffnete. Er fluchte leise. Sollte er weiter warten? Es würde auffallen. Dann klopfte er an der Wohnungstür gegenüber. War das vernünftig? Schritte näherten sich der Tür, dann hörte er, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Die Tür öffnete sich einen Spalt weit, eine alte Frau schaute Zacharias an, neugierig und vielleicht ein wenig ängstlich. »Ich suche Frau Retzlaw«, sagte Zacharias.

Die Frau ließ den Blick an ihm hinunter- und wieder hochstreifen. »Woher soll ich wissen, wo die ist? Sie sind bestimmt von der Polizei. Also, ich habe mit diesen Leuten nichts zu tun. Gar nichts.«

»Vielen Dank«, sagte Zacharias. »Auf Wiedersehen.«

Die Frau erwiderte den Gruß nicht und schloss die Tür.

Zacharias ging zurück in den Hof. Ihm kam eine ältere Frau entgegen, Taschen in beiden Händen. Sie atmete schwer. Zacharias blieb stehen. Die Frau erschrak, als sie ihn sah.

»Sind Sie Frau Retzlaw?«

Die Frau musterte ihn. »Wer sind Sie?«

»Sebastian Zacharias. Ich suche Karl Retzlaw.«

»Das tun zur Zeit viele.«

»Ich bin nicht von der Polizei«, sagte Zacharias. Er schaute betont nach oben. »Hier können wir uns nicht ungestört unterhalten.«

»Bleibt mir ja nichts anderes übrig, als Sie in die Wohnung zu lassen.«

»Geben Sie mir die Taschen.«

Sie überlegte kurz, dann sagte sie: »Hat es wenigstens einen Nutzen.« Sie gab ihm die Taschen, die waren schwer. Sie führte ihn in die Küche, bot ihm aber keinen Platz an. Die Taschen stellte er vor dem Küchenschrank auf den Boden.

»Und?«

»Ich heiße Sebastian Zacharias. Ich komme von Lenin und will der Partei helfen.«

Ihre Augen zeigten Misstrauen. »Von Lenin? Kleiner geht es wohl nicht?« Sie schüttelte den Kopf.

»Ich war Kriegsgefangener.« Zacharias berichtete kurz von seinem Lebensweg. Dass er für die Tscheka arbeitete, erwähnte er nicht. »Rosa Luxemburg kennt mich. Sie war meine Lehrerin auf der Parteischule 1909. Der Genosse Retzlaw kann sie nach mir fragen.« Er überlegte, ob sie sich an ihn erinnern würde, sie hatte viele Schüler gehabt.

»Rosa Luxemburg«, sagte sie. »Soso.« Sie zeigte auf einen Stuhl. »Die Spartakisten werden gejagt. Von der Polizei, von den Freikorpsbanden, die Ebert und Scheidemann an der Macht halten. Und da kommen Sie zu mir und wollen mitmachen. Soso.«

Zacharias nickte.

»Falls ich meinen Sohn zufällig treffe, werde ich ihm sagen, dass Sie hier waren.«

»Wann kann ich wieder herkommen?«

»Überhaupt nicht. Sehen Sie lieber zu, dass Sie heil nach Hause kommen. Das Haus wird beobachtet, sie warten auf meinen Sohn. Geben Sie mir Ihre Anschrift und warten Sie, vielleicht erhalten Sie eine Nachricht.«

Sie stand auf, er sollte gehen.

Zacharias nannte ihr die Anschrift. Sie schrieb nicht mit. Dann hielt er ihr die Hand hin. Frau Retzlaw übersah sie. Sie schaute ihm nach im Flur, bis er die Wohnungstür von außen geschlossen hatte. Er ging zum zweiten Hinterhaus und klopfte im ersten Stock an eine Tür, ein Messingschild verriet den Namen: »Ebenbein«. Er hörte ein Pochen, es wurde lauter. Schließlich öffnete sich die Tür, ein Mann auf Krücken stand im Eingang, ihm fehlte das linke Unterbein. Zacharias sagte: »Entschuldigen Sie bitte die Störung. Hier hat vor einigen Jahren ein Schulfreund von mir gewohnt. Er hieß Klaus Miletzke. Oder habe ich mich im Haus vertan?«

Der Mann schaute ihn neugierig an. »Miletzke, nie gehört. Wir wohnen hier schon seit elf Jahren. Oder sind es zwölf? Nein, da müssen Sie sich vertan haben. Das hier ist die Strelitzer Straße 11. Sie sind sicher, Ihr Freund wohnte hier?«

»Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Ist lange her, und dann der Krieg.«

»Ja, der Krieg.« Er schaute hinunter auf seinen Stummel. »Mich hat er zum Krüppel gemacht. Verdun. Und was ist der Dank des Vaterlands?« Seine Hand wart Unsichtbares weg. »Erst verheizt, dann beschissen. Und die neue Regierung, das sind doch die Stiefelputzer des Kaisers. Ebert, wenn ich den schon höre. Als die Truppen von der Westfront nach Berlin marschierten, da quatschte er: ›Kein Feind hat euch überwunden.‹ So ein Blödsinn. Waren Sie an der Front?«

»Im Osten, die meiste Zeit.«

»Da ging es ja wohl noch. Aber im Westen haben wir nach den grandiosen Ludendorff-Offensiven nur noch Dresche gekriegt. Die anderen wurden immer mehr, ich sag nur, die Amerikaner, und wir immer weniger. Das einzig Vernünftige, was die Oberste Heeresleitung zustande gebracht hat, war die Bitte um Waffenstillstand. Wenn es den nicht gegeben hätte, die hätten uns zu Klump gehauen, ich sag es dir, Kamerad. In wenigen Wochen. ›Kein Feind hat euch überwunden.‹« Er lachte wie eine Ziege. »Wollen Sie auf einen Klaren reinkommen? Es gibt ja niemanden mehr, mit dem man vernünftig reden kann.«

Zacharias nahm die Einladung an. Sie setzten sich in die Küche. Es stank, und es war schmutzig. Zacharias sah eine Kakerlake, die eilig unter dem Küchenschrank verschwand. Der Mann öffnete die Tür des Schranks und nahm eine halb leere Flasche heraus. Er wusch zwei Schnapsgläser mit kaltem Wasser ab und stellte sie auf den Tisch. Dann schenkte er beide Gläser voll. »Im Osten waren Sie«, sagte er. »Da regieren ja nun die Bolschewisten. Ich hab nichts gegen die, das sag ich Ihnen gleich. Dagegen sind unsere Spartakisten Witzfiguren, kriegen nicht mal ’nen kleinen Aufstand hin. Aber der Liebknecht, das ist ein richtiger Kerl, kommt ganz nach seinem Vater. An dem liegt es nicht, dass es mit dem Sozialismus nichts wird in Deutschland. Der hat sich nichts vormachen lassen. Wissen Sie, ich war immer Sozialdemokrat, solange ich denken kann. Eingetreten bin ich nie, aber gewählt hab ich immer die SPD. Und bei der Nationalversammlung, da hab ich den Unabhängigen meine Stimme gegeben. Vielleicht hätt ich auch die Spartakisten gewählt, wegen dem Liebknecht, aber die waren sich ja zu fein, zu kandidieren.«

Zacharias ließ den Wortschwall des Krüppels über sich ergehen. Er durfte nicht zu früh gehen. Dieser Mann gab ihm einen Grund, in diesem Haus zu sein. Der Mann hob sein Glas. »Vorkriegskorn. Auf Liebknecht!« sagte er.

Zacharias stieß mit ihm an und trank einen Schluck. Der Korn war stark.

»Dieser elende Krieg, dieser elende Kaiser«, sagte der Mann leise. »Die haben alles kaputtgemacht. Alles.« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Manchmal träume ich vom alten Deutschland. Es war ja einiges nicht in Ordnung, aber so schlimm, wie es heute ist, so schlimm, das hätte sich damals keiner vorstellen können. So schlimm.« Der Mann schaute Zacharias an. »Sie sagen ja gar nichts.« Es klang nicht nach einem Vorwurf.

»Ich bin froh, dass ich nur eine gute Woche im Westen war. Da ging es noch vorwärts, Richtung Paris. Die glaubten wohl, der Krieg im Westen sei schon entschieden, und haben meine Einheit an die Ostfront verlegt.« Zacharias hatte keine Lust, vom Krieg zu erzählen, aber er musste Zeit gewinnen. Und der Mann war ein Zeuge, auch wenn er das nicht wusste.

Der Krüppel erzählte noch viel vom Krieg, und Zacharias sagte hin und wieder etwas, um nicht unhöflich zu wirken. Als Zacharias sein Glas Korn ausgetrunken hatte, wollte der Mann nachschenken. Aber Zacharias wehrte ab. Er stand auf, verabschiedete sich mit Handschlag und ging.

Als er die Treppe hinunterstieg, ahnte er, was geschehen würde. Er ging auf die Straße. Ein paar feine Schneeflocken tanzten hinunter, der Wind hatte nachgelassen. Zacharias schlug den Mantelkragen hoch. Nachdem er ein paar Meter gelaufen war, hörte er Schritte hinter sich. Und ihm kamen zwei Männer entgegen, die irgendwie aussahen wie Polizisten in Zivil. Sie stellten sich Zacharias in den Weg. Hinter ihm stand der dritte, ein langer knochiger Mann mit Glatze, dessen Schritte er gehört hatte. Dieser hatte die rechte Hand unter dem Mantel. Ein kleiner Fetter sagte: »Polizei, weisen Sie sich aus.« Er hatte eine gequetschte Stimme.

Zacharias zog langsam sein Soldbuch aus der Innentasche des Jacketts. Er reichte es dem Fettsack. Der blätterte darin, manche Seiten las er. »Russland«, quetschte er heraus. »Da waren Sie ja mitten im Arbeiterparadies. Meinen Glückwunsch! Na, dann kommen Sie mal mit.« Sie gingen zur nächsten Seitenstraße, dort stand ein schwarzer Priamus. Sie zwangen Zacharias, sich auf die Rückbank hinter den Fahrer zu setzen. Der Glatzkopf rutschte neben ihn und versuchte seine Beine unterzubringen. Wie er sie auch verrenkte, sie stießen immer an die Lehne des Beifahrersitzes, auf dem der Fettsack saß. Sie brachten Zacharias zum Polizeipräsidium am Alex. Dort setzten sie ihn in ein Zimmer, in dem nur ein Tisch und drei Stühle standen. Ein Schupo bewachte ihn, die drei Beamten, die ihn mitgenommen hatten, verschwanden mit seinem Soldbuch. Wahrscheinlich suchten sie in Karteien, ob sie etwas über Zacharias fanden. Er saß eine gute halbe Stunde in dem Raum, der Uniformierte stand an der Tür.

»Ist Ihnen nicht langweilig?« fragte Zacharias.

Der Polizist antwortete nicht.

Endlich kam der Dicke. »Ich bin Kriminalkommissar Lohmeier. Ich bin für solche Figuren wie Sie zuständig. Aufrührer, Umstürzler und alles, was dazu gehört. Mir können Sie nichts vormachen. Die Bolschewisten haben Ihnen was ins Gehör geblasen, damit hier der gleiche Wahnsinn geschieht wie in Russland.« Der Dicke umrundete mit hektischen Schritten den Tisch.

Zacharias erwiderte nichts. Er mühte sich, dem Kommissar ein Grinsen zu zeigen.

»Aha, ein Witzbold«, quetschte Lohmeier heraus. »Das kann ja lustig werden.« Er stierte Zacharias an, aber der zeigte keine Bewegung »Ich muss auf die Toilette«, sagte Zacharias.

»Das müssen wir alle hin und wieder«, sagte der Fettsack.

Zacharias erhob sich. Gleich war der Fettsack hinter ihm und drückte ihn zurück auf den Stuhl. »Verkneifen Sie sich’s. Sagen Sie uns was, dann dürfen Sie auf die Toilette.«

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

»Dann fang ich mal an. Sie haben diesen Retzlaw gesucht.«

»Wen?«

»Stellen Sie sich nicht dumm. Sie kennen Retzlaw. Und Sie wissen, was der ist. Ein Spartakist. Sie werden doch wissen, was ein Spartakist ist? Ich sag es Ihnen: Ein Spartakist ist einer, der am liebsten jeden anständigen Deutschen an die Wand stellen würde. So, wie es die Bolschewisten in Russland machen. Tüchtige Männer mit vaterländischer Gesinnung werden umgebracht, und der Mob und die Juden greifen nach der Macht.«

»Ich war bei Herrn Ebenbein.«

Der Fettsack starrte ihn an. »Und was wollten Sie von ihm?«

»Ich überlege mir gerade, ob Sie das etwas angeht.«

Der Fettsack schlug Zacharias blitzschnell ins Gesicht. Der Schlag brannte. Zacharias spürte den Drang zurückzuschlagen. Reiß dich zusammen, lass dich nicht provozieren.

»Ich suche einen ehemaligen Klassenkameraden, Klaus Miletzke.« Die Wange schmerzte.

»Na, das ist doch eine Auskunft«, sagte der Fettsack. Dann lachte er. »Und der wohnt in der Strelitzer Straße 11?«

»Nein, ich dachte es.«

»Ah!« Lohmeier streckte einen Zeigefinger hoch. »Sie haben es gedacht.«

»Ja. Ich dachte, er wohnt da, aber das tut er nicht. Und da habe ich bei Herrn Ebenbein geklopft, um ihn nach Miletzke zu fragen.«

»Soso. Da haben Sie bei diesem Herrn Ebenbein geklopft. Einfach so. Das haben wir gleich.« Er ging hinaus. Zacharias hörte ihn draußen rufen. Offenbar sollte seine Aussage unverzüglich überprüft werden.

Er nahm die Angst erst wahr, als sie schwächer wurde. Allmählich erkannte er die Gefahr, in der er sich befand. Diese Polizisten konnten ihn einfach verschwinden lassen. Oder auf der Flucht erschießen. Dann ginge er drauf, bevor er den Kontakt zur Partei herstellen konnte. Aber Ebenbein würde bestätigen, was er gesagt hatte. Dann würde ihn der Fettsack nach Miletzke fragen. Klaus Miletzke war ein kleiner rothaariger Schulkamerad gewesen, der in derselben Gegend gewohnt hatte wie Ebenbein und Retzlaw. Wo genau, wusste Zacharias nicht mehr. Aber das würde seine Aussage nur stützen.

Ein uniformierter Polizist trat ein und sagte: »Mitkommen!« Er führte Zacharias zur Herrentoilette und wartete vor der Kabinentür, die Zacharias nicht verriegeln durfte. Dann kehrten sie zurück ins Vernehmungszimmer. Zacharias setzte sich und kippelte auf den hinteren Stuhlbeinen. Sie würden Ebenbein befragen, der würde seine Aussage bestätigen. Sie würden wohl auch Frau Retzlaw fragen, aber die würde schweigen. Und es würde den Polizisten nicht gelingen, sie einzuschüchtern.

Zacharias wartete lange. Draußen im Gang immer wieder Schritte und Stimmen. Er versuchte etwas zu verstehen, aber die Tür dämpfte stark. Der Bewacher lehnte sich an die Wand neben der Tür. Er schien müde zu sein.

Je mehr die Angst schwand, um so mehr wuchs Zacharias’ Zorn. Der Fettsack hatte ihn geschlagen. Zacharias überlegte, wie er sich revanchieren könnte, fand aber keine Möglichkeit, die seine Lage nicht verschlechtert hatte.

Endlich öffnete sich die Tür. Nicht Lohmeier erschien, sondern der Glatzkopf. »Hau ab«, sagte er. »Wenn wir dich noch einmal in der Nähe einer Spartakistenhöhle finden, geht’s dir an den Kragen.« Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle.

Zacharias sah ihm die Enttäuschung an, dass sie ihn gehen lassen mussten. Er zwang sich, das Präsidium fast schlendernd zu verlassen. Er malte sich aus, wie es wäre, Lohmeier allein in einer dunklen Gasse zu treffen. Ein gutes Gefühl.