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A

m Morgen kam Bronski zu ihm. »Wollen Sie hier einziehen?« fragte Zacharias. Sie saßen in der Küche, die Mutter war zur Arbeit.

Bronski schaute ihn böse an. »Ich habe Weisungen vom Genossen Dserschinski. Zuerst aber erwarte ich Ihren Bericht, Genosse Zacharias.«

»Ich kann nicht mehr berichten, als allgemein bekannt ist. Die Revolution ist nicht gesichert, in der Regierung zeigen sich Risse zwischen Liebknecht und den anderen. Liebknecht ist selbstherrlich und glaubt an die Macht seines Willens. Wenn Moskau auf ihn setzt, begibt sich die sowjetische Partei in ein gefährliches Spiel. Liebknecht ist unberechenbar, heute behauptet er dies, und morgen macht er das Gegenteil.« Zacharias hätte nicht in jeder Einzelheit beweisen können, was er behauptete. Aber er war sicher, Liebknecht richtig zu beschreiben. Außerdem durften die Bolschewiki nicht auf Liebknecht setzen, statt dessen mussten sie sich mit Rosa, Haase und den anderen arrangieren.

»Das lassen Sie mal unsere Sorge sein. Ich werde nach Moskau melden, dass Sie Liebknecht nicht sonderlich schätzen.«

»Wenn Sie die Gründe mitlieferten, wäre es hilfreich.«

»Natürlich«, sagte Bronski.

Wenn der so meldete, wie Zacharias es in Sowjetrussland in vielen Fällen erlebt hatte, dann kam in Moskau allerhand an, vor allem aber das, was sich der Genosse Bronski aus irgendwelchen Gründen wünschte. Außerdem geriet in den Zeiten des verschärften Kampfs um die politische Linie jede Meldung zur Munition, ob Treffer, ob Rohrkrepierer.

»Der Genosse Lenin sollte sich mit der Genossin Luxemburg treffen«, sagte Zacharias. »Melden Sie auch diesen Vorschlag nach Moskau.«

»Natürlich«, sagte Bronski, und der Tonfall verhieß nichts Gutes. Wahrscheinlich hielt er Zacharias für übergeschnappt. »Aber jetzt reden wir über die Weisungen. Am wichtigsten ist, dass Sie sich zusammen mit dem Genossen Friesland einsetzen für den Beitritt der KPD zur neuen Internationale. Der Genosse Lenin schlägt vor, deren Sitz nach Berlin zu verlegen, sobald die Revolution in Deutschland gesiegt hat. Was er nicht gesagt hat, aber für selbstverständlich hält, ist, dass dann die deutsche KP die Lehren des Bolschewismus anwendet. Entscheidend ist die Vereinigung der KPD mit der USPD auf bolschewistischer Grundlage …«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Zacharias ungeduldig. »Aber das bedeutet Ärger mit Rosa Luxemburg und einigen anderen.«

»Richtig, aber ist es nicht so, dass in den deutschen Parteien die Mehrheit den Ausschlag gibt? Also müssen Sie helfen, dass die richtige Linie eine Mehrheit findet. Halten Sie sich da genau an den Genossen Friesland. Die Genossin Luxemburg hat sich der Mehrheit gebeugt, als die auf dem Gründungsparteitag die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung ablehnte. Das war grundfalsch, und Luxemburg hatte recht. Aber, wie gesagt, die Mehrheit entscheidet. Wir machen das ganz demokratisch.« Bronski grinste.

»Schön, ich werde also mit dem Genossen Friesland reden.«

»Sie werden nachher abgeholt.«

Zacharias ahnte, wer ihn abholen würde.

Bronski fuhr sich durch die Haare. »Der nächste Punkt: Wir brauchen einen deutschen Geheimdienst, der eng mit der Tscheka zusammenarbeitet. Der Genosse Dserschinski beauftragt Sie, in dieser Frage zu sondieren. Außerdem sollten Sie Ihren Einfluss geltend machen, damit die deutsche Rote Armee bald einem neuen Oberbefehlshaber unterstellt wird.«

»Sie wollen, dass Däumig abgelöst wird.«

»Däumig redet viel und tut wenig.«

»Immerhin hat er Weimar genommen, die Nationalversammlung verjagt und Ebert verhaften lassen.«

»Das waren nicht Däumigs Verdienste, sondern die von Arbeitern vor Ort. Däumig hat keinen Einfluss auf die bewaffneten Kräfte der Revolution, jedenfalls nicht auf die außerhalb Berlins. Wir bieten der Revolutionsregierung an, dass erfahrene Kader der sowjetischen Roten Armee die erforderlichen Strukturen schaffen. Ohne klare Kommandostrukturen und ohne eindeutige ideologische Ausrichtung wird die deutsche Rote Armee scheitern und mit ihr die Revolution.«

Als Bronski gegangen war, saß Zacharias noch lange am Tisch und überlegte. Moskau will die Revolution in Deutschland retten, kein Zweifel. Aber die Genossen glauben, dies gehe nur auf sowjetische Art. Und weil sie dies glauben, wollen sie die deutschen Parteien nach eigenem Vorbild umbauen. Und nicht nur die, sondern auch den Staat. Vielleicht hatte Lenin recht, vielleicht musste er der deutschen Revolution auf seine Weise helfen. Aber Zacharias schauderte es. Musste man überall, wo die Arbeiter aufstanden, eine Tscheka schaffen und den roten Terror ausrufen? War der Preis einer solchen Revolution am Ende nicht zu hoch? Immer wieder gingen ihm diese Fragen durch den Kopf, seit er sich eingelassen hatte auf die Tscheka. Wer eine Revolution will, darf nicht auf halbem Weg stehenbleiben. Wenn die Konterrevolution siegt, wird sie grausam Rache üben. Wer zögert, die Revolution mit allen Mitteln zu Ende zu bringen, trägt eine Mitschuld daran.

Natürlich war es Sonja, die ihn abholte. Es wäre nicht nötig gewesen. Warum sagen die mir nicht einfach die Adresse, und ich gehe hin. Ich kenne mich aus in Berlin, besser als die Russen.

Friesland war schlecht gelaunt. Diesmal bot er Zacharias nichts an. Sonja stand an der Wand im Wohnzimmer einer Wohnung, die offenbar lange nicht benutzt worden war. Wo man hinfasste, stiegen Staubwolken auf. Zacharias hustete.

»Wir haben morgen eine Sitzung der Zentrale. Ich werde dort fordern, nach bolschewistischer Art vorzugehen, ohne dieses Wort auszusprechen, da ich weiß, die Genossin Luxemburg würde rot anlaufen wie ein Krebs und einen Schreianfall bekommen.«

»Warum erzählen Sie das mir, ich bin nicht Mitglied der Zentrale.«

»Aber Sie sprechen oft mit der Genossin Luxemburg.«

»Kaum über Politik.«

Friesland schüttelte den Kopf. Er verstand nicht, wie man sich in solchen Zeiten über etwas anderes unterhalten konnte. »Dann sollten Sie schleunigst damit anfangen. Sie waren doch mit bei den Eisenbahnern. Hinterher hörte man, es sei ein Triumph gewesen für Luxemburg. Wie sehen Sie das?«

»Es war einer. Aber es wurde nur ein Brandherd gelöscht, im Reich gibt es Tausende davon.«

»Sieht das auch die Genossin Luxemburg so?«

»Ja.« Zacharias verschwieg, dass er sie zitiert hatte.

»Und was gedenkt sie dagegen zu tun?«

Zacharias zuckte die Achseln.

»Das sollten Sie wissen, weil wir es wissen müssen. Menschenskind, Zacharias, ich habe Sie als zuverlässigen Genossen in Erinnerung, enttäuschen Sie mich nicht.«

Die Klinke der Wohnungstür klapperte, dann öffnete sich die Tür. Schritte in der Diele. Sie starrten auf die offene Wohnzimmertür. Darin stand nun Radek. »Störe ich?« Er lächelte verschmitzt und schaute die Anwesenden der Reihe nach an.

»Sie sollten nicht zusammen mit uns gesehen werden, Genosse Radek«, sagte Friesland. Doch sein Tonfall verriet, dass für Friesland Radek die Autorität in Berlin war.

»Aber wir kennen uns doch alle gut. Die schöne Genossin Sonja und dieser Genosse hier, wie hieß er noch …«

»Zacharias«, sagte Zacharias.

»Ach ja, stimmt. Wir kennen uns aus dem Adlon. Dort hat mich dieser unsägliche Polizist verhaftet. Wie ich erfuhr, sitzt er übrigens im Keller des Polizeipräsidiums. Unser Genosse Eichhorn, Nachfolger seines Nachfolgers als Polizeipräsident, hat es mir erzählt. Aber es lohnt sich nicht, den Herrn Lohmeier zu besuchen. Bei uns in Russland würde man nicht lange überlegen, was man mit diesem Herrn zu tun hat, nicht wahr, Genosse Zacharias?«

Zacharias nickte.

Friesland rieb sich die Augen. »Wir reden gerade über die Genossin Luxemburg.«

Radek lächelte. »Das ist doch ein schönes Thema.«

»Wir müssen sie überzeugen oder zwingen …«

Da lachte Radek. »Zwingen, die? Da ist ein Esel nachgiebiger. Aber natürlich nicht so klug.«

»Diese Regierung braucht vor allem Sicherheitsorgane. Die Rote Armee muss erst eine Armee werden, aber Luxemburg genügt es, wenn die Massen bewaffnet sind. Und einen Geheimdienst will sie gar nicht. Dabei müssen wir den Feind infiltrieren und liquidieren. Dazu brauchen wir einen Geheimdienst mit bewaffneten Einheiten. Wie die Tscheka in Russland.«

»Das werdet ihr der Genossin Luxemburg schwerlich nahebringen können. Ich schon gar nicht. Über die Liebe, die sie mir gegenüber hegt, spottet die kommunistische Welt. Selbst die Genossen in Moskau reißen schon ihre Witze. Also, heiraten wird sie mich, glaube ich, nicht mehr in diesem Leben.«

Friesland starrte ihn unwillig an. Ihm stand nicht der Sinn nach Radeks Späßen, aber Radek war der ranghöchste russische Funktionär in Westeuropa.

»Natürlich brauchen wir in Deutschland eine Tscheka. Am besten wäre es, der Genosse Dserschinski käme ein paar Wochen nach Berlin, um den Genossen hier zu erklären, wie ein sozialistischer Geheimdienst aufgebaut werden muss. Aber die Genossin Luxemburg würde es fertigbringen, den Genossen Dserschinski in das finsterste Verlies Deutschlands zu werfen, obwohl er ein alter Freund ist. Die Polen verstehe einer; vor allem wenn sie Juden sind, gehen sie sich am liebsten gegenseitig an die Kehle. Sperren Sie vier von denen einen Tag lang in einen Keller, am Abend holen Sie fünf Leichen raus.« Er schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er gesagt hatte. »Und ich gehöre auch noch dazu.« Er schlug sich mit der Hand an die Stirn, als wäre er überrascht.

»Na, dann müssen wir den Genossen Däumig bitten, seinen Parteinachrichtendienst, sagen wir, ein wenig aufzuwerten. Den Genossen der USPD kann man ja schlecht verbieten, wachsam zu sein und nicht nur ihre Partei zu beschützen, sondern auch die Regierung. Zumal die USP ja darin sitzt. Genosse Friesland, Sie sollten das Thema in der Sitzung der Zentrale schon ansprechen. Ich werde dort sein und Sie unterstützen. Aber wir sollten bis auf weiteres die Genossin Luxemburg nicht frontal angreifen. Dann hätten wir automatisch die Genossen Liebknecht und Jogiches gegen uns, selbst wenn Liebknecht in der Sache eher unserer Meinung sein dürfte.«

Friesland nickte. »Und der Genosse Zacharias muss es noch lernen, genau zu berichten und die Genossin Luxemburg ein wenig zu beeinflussen. Warum erzählen Sie ihr nicht von der Tscheka und den Erfahrungen, die Sie gemacht haben?«

»Könnte sein, dass sie mich dann loswerden will. Dann gelte ich ihr als russischer Agent. Also als das, was ich bin.«

Radek gackerte wie ein pubertierendes Mädchen. »Schön, dass Sie wissen, was Sie sind. Aber Sie müssen begreifen, was wir tun, ist zum Wohl des deutschen Proletariats und des russischen. Die Interessen der internationalen Arbeiterklasse sind identisch. Was der Sowjetmacht in Russland hilft, hilft auch der Sowjetmacht in Deutschland. Wenn wir nicht völlig einig sind, werden die Engländer, Franzosen und Amerikaner uns schlachten, einen nach dem anderen. Wir können dem Rest der Welt nur widerstehen, wenn kein Jota uns trennt.«

»Unsere Trumpfkarte ist die Hilfe, die die Sowjetmacht uns geben kann.« Friesland warf einen Blick auf Zacharias, als wollte er ihm etwas sagen. Vielleicht, dass die Nahrungsmittel aus der Wolgarepublik nun nach Deutschland geschickt würden und deswegen Moskau noch mehr hungern müsse. »Es wird hart«, sagte Friesland.

»Die russischen Werktätigen werden dieses Opfer gern bringen«, sagte Radek. Er schien es zu glauben.

Frag die Leute, die verhungern, weil die deutschen Proletarier gefüttert werden. Zacharias hätte es fast laut gesagt. Er schaute auf Sonja, aber die war im Geist woanders. Ihre Augen starrten an die Wand.

 

*

 

Am nächsten Morgen trafen sich die Mitglieder der Zentrale, sie saßen an einem ovalen Tisch. Liebknecht leitete die Sitzung. Zacharias setzte sich hinter Rosa Luxemburg und hoffte, nicht des Saales verwiesen zu werden.

Nach der Eröffnung bat Radek um das Wort. Er richtete pathetisch Grüße von Lenin aus, als würde er jeden Abend mit ihm telefonieren. Dann kündigte er die Nahrungsmittelhilfe für Deutschland an. Am Schluss bat er um Verständnis, wenn er eine Meinung äußere, die die Genossen nicht als Einmischung verstehen dürften. Schließlich sei er schon viele Jahre auch in der deutschen Arbeiterbewegung tätig. In Russland habe man die Erfahrung gemacht, dass der Klassenfeind alle Mittel einsetze, um die Sowjetmacht zu unterhöhlen. »Sie schicken bewaffnete Kräfte gegen uns, verbreiten Lügen und Hass in Zeitungen und Büchern, verstecken Lebensmittel, nutzen die Religionshörigkeit rückständiger Volksgruppen aus, vergiften Wasser und Nahrung, begehen Morde an Sowjetfunktionären, konspirieren mit Agenturen der internationalen Bourgeoisie, zerstören Verkehrswege und Lokomotiven und anderes mehr. Unsere Antwort darauf heißt Tscheka, das ist die Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution. Die Tscheka kämpft an allen Fronten, an denen die Rote Armee nicht kämpfen kann. Sie ist der Revolution treu ergeben und steht unter Leitung von Feliks Dserschinski, den manche hier im Raum als vorbildlichen Genossen kennengelernt haben.«

Er schaute erst Luxemburg, dann Jogiches an. Der Blick sagte: Das ist doch euer alter Genosse, der das macht. Warum soll das in Deutschland nicht nötig sein? »Ich habe mir überlegt, vielleicht den Genossen Dserschinski zu bitten, einmal in Deutschland über seine Erfahrungen zu berichten, sollte er für eine Zeit abkömmlich sein in Russland.«

»Der Genosse Radek schlägt uns hier nicht weniger vor, als den roten Terror auszurufen«, warf Rosa ein.

»Ja, und wenn es so ist? Was wäre daran falsch?« fragte Pieck.

»Falsch ist daran nicht zuletzt, dass der rote Terror sich keineswegs nur gegen den Klassenfeind richtet, sondern auch gegen Strömungen der russischen Sozialdemokratie.«

»Die sich auf die Seite des Klassenfeindes gestellt haben«, sagte Radek.

»Das ist doch Unsinn«, widersprach Luxemburg. »Das mögen Sie gutgläubigen Nachwuchskommunisten erzählen. Martow und seine Genossen von den Menschewiki fordern Meinungsfreiheit für Sozialisten. Was ist daran konterrevolutionär? Anscheinend gilt als richtig nur das, was der Genosse Lenin oder das bolschewistische Zentralkomitee verkündet, alles andere dient per se dem Klassenfeind. Wenn wir in Deutschland so vorgingen, müssten wir die Genossen der USP verhaften und die Genossen der USP uns.«

Gelächter im Kreis. Auch Radek lachte mit, nicht aber Pieck und Friesland.

»Die Genossin Luxemburg hat recht, man kann die Lage in Russland nicht mit der Lage in Deutschland gleichsetzen«, sagte Radek.

Zacharias bewunderte Radeks rhetorischen Kniff.

»Aber es gibt Fragen, vor denen die Arbeiterklasse jedes Landes steht, wenn sie die Macht ergreifen will. Die wichtigste Frage ist, wie man den unausweichlichen Widerstand des Klassenfeindes bricht.«

»Das ist doch Gequatsche.« Jogiches saß Radek gegenüber. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Radek muss uns doch nicht belehren, dass es einen Klassenfeind gibt. Hier geht es um die Frage, ob wir andere sozialistische Strömungen verfolgen sollen, so, wie es in Russland geschieht. Die linken Menschewiki führen keinen bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht, bisher jedenfalls nicht. Sie kritisieren die Parteidiktatur, und die kritisieren wir auch. Da sind wir Martow näher als Lenin.«

»Und was ist mit der deutschen Sozialdemokratie, was ist mit Ebert und Scheidemann?« fragte Radek. »Sind das auch Genossen, mit denen wir, sagen wir mal, ein paar Meinungsverschiedenheiten haben, die wir in der Debatte austragen?«

»Sie sind ein Demagoge, Radek!« rief ein langer, dünner Mann.

Das musste Paul Levi sein, Luxemburgs Anwalt, auch Mitglied der Zentrale und Redakteur der Roten Fahne. Komisch, dass Zacharias den jetzt zum ersten Mal richtig wahrnahm. Genauso komisch, dass er ihn gleich erkannt hatte. Vielleicht weil er vor dem Krieg so viel gelesen hatte über ihn.

»Sie scheren alles über einen Leisten. Die deutsche Arbeiterbewegung hat eine demokratische Tradition, die russische nicht. Das werfe ich Ihnen nicht vor, daran sind Sie und Lenin und Trotzki natürlich unschuldig. Aber ersparen Sie uns Ihren Konspiratismus. Sie haben so freundlich darum gebeten, dass die Broschüre der Genossin Luxemburg über die russische Revolution nicht veröffentlicht wird. Solidarität, sagen Sie. Dabei geht es Ihnen in Wahrheit doch nur darum, dass wir Ihre Methoden übernehmen. Sie wollen aus uns Bolschewisten machen. Das sind wir aber nicht. Wir bekämpfen den Klassenfeind auf unsere Weise. Wo er zur Waffe greift, antworten wir mit der Waffe. Wo er zu Argumenten greift, antworten wir mit Argumenten.«

Friesland warf ein: »Sie sind ein Träumer, Genosse Levi!«

»Meinetwegen«, sagte Levi. »Ich träume in der Tat, dass wir ohne Terror auskommen, wie gut er auch immer begründet scheint. Und ich glaube, dass dieser Traum Wirklichkeit wird.«

Radek hörte sich alles lächelnd an. »Wenn Sie die Bourgeoisie und ihre Helfer nicht unterdrücken, und ich sage, mit der Waffe unterdrücken, mit der Tscheka unterdrücken, dann werden sie eines Tages der Revolution das Genick brechen. Sie werden sich sammeln, sie werden Bündnispartner finden, auch in der Arbeiterbewegung, denken Sie doch nur an die Millionen von Arbeitern, die bis vor kurzem noch auf Ebert schworen und von denen es gewiss manche heute noch tun. Die Gewerkschaftsführer, die sich bedroht fühlen, die Leiter der Konsumgenossenschaften, die Vorsitzenden von Vereinen.«

»Sagen Sie es doch klipp und klar, Sie wollen, dass wir festlegen, wer unsere Feinde sind, und dass wir die so gefundenen Feinde dann ins Gefängnis sperren oder an die Wand stellen. Stimmt das, Genosse Radek?« Rosa blieb ruhig, aber Schärfe lag in ihrer Stimme.

»Nicht umsonst habe ich vorgeschlagen, den Genossen Dserschinski nach Deutschland einzuladen. Er kann berichten, wie wir das in Russland machen. Wenn wir warten, bis der Feind uns angreift, haben wir schon verloren. Also müssen wir den Feind zuerst angreifen. Unsere marxistische Analyse zeigt unwiderlegbar, wo der Feind sitzt.«

»Da irren Sie sich, Genosse Radek, unsere marxistische Analyse zeigt uns allerlei, aber sie lässt uns nicht in die Köpfe von Menschen schauen. Also dorthin, wo die Feindschaft sitzt, aber auch die Freundschaft. Sie machen den gleichen Fehler wie der geschätzte Genosse Lenin …«

Gelächter.

»Sie irren, Genossen, ich schätze Lenin wirklich, das ist kein Scherz. Dieser Genosse hat sein Leben der Revolution gewidmet und sie organisiert. In diesem Punkt ist er uns voraus, und wir müssen natürlich genau analysieren, was Lenin und unsere russischen Genossen ausprobieren, und wenn es nur darum geht, Fehler nicht zweimal zu machen. Aber wir werden nicht sklavisch übernehmen, was in Russland getan wird.«

»Das Sein bestimmt das Bewusstsein!« rief Pieck.

»Da haben Sie gut aufgepasst in der Parteischule. Aber nicht gut genug. Das ist eine grundsätzliche, philosophische Aussage, also eine ganz allgemeine Deutung. Manchmal bestimmt das Bewusstsein auch das Sein, wie wäre sonst eine Revolution möglich? Ich will Ihnen keinen Vortrag halten über Sein und Bewusstsein, nur soviel vielleicht: Dieser Satz gilt auf höchster Ebene der Abstraktion, wenn man beides gegeneinander stellt. In der Wirklichkeit aber verflechten sich beide dialektisch, und es nutzt einem bei der Analyse herzlich wenig, herauszuposaunen, das Sein bestimmt das Bewusstsein, wenn man nicht genau betrachtet, ob in diesem Augenblick nicht gerade andersherum gilt, dass das Bewusstsein ein neues Sein schafft. Nicht wahr, Genosse Pieck?«

»Vielen Dank für die wie immer nützliche Belehrung«, sagte Friesland, »der Genosse Pieck wird sie gewiss künftig berücksichtigen. Und doch glaube ich, dass uns diese eher abstrakten Erörterungen nicht weiterhelfen. Radek hat in einem Punkt recht, wir müssen die Konterrevolution bekämpfen, weil wir sonst eher früher als später scheitern.«

Liebknecht hatte bisher die Wortmeldungen notiert und zugehört. Er spielte mit seinem Füller, kritzelte immer wieder etwas aufs Papier, zeigte seine Unruhe. Vielleicht sitzt er in der Zwickmühle, weil er denkt wie Friesland, aber den Schulterschluss mit Rosa nicht aufgeben will. Sie haben zu viel erlebt zusammen, und Liebknecht bewunderte Rosa als Theoretikerin, wenn er sich auch gleichzeitig in Konkurrenz mit ihr sah. Zacharias beobachtete, wie Liebknecht sich wand, ohne etwas zu sagen. Aber dann drängte es ihn doch: »Wir brauchen eine eigene Polizei, nennen wir sie meinetwegen Miliz, wie es sich schon eingebürgert hat, schließlich heißt die Regierung ja auch Rat der Volkskommissare. Wir müssen uns auf die Heimtücke des Feindes einstellen. Aber noch wichtiger ist, dass aus vielen Räterepubliken eine Räterepublik wird. Hamburg, Bremen, Köln, Essen, Dortmund und andere Städte haben inzwischen unsere Regierung anerkannt, sogar einige Landkreise. Aber das sind eher Solidaritätsadressen als ein wirklicher Fortschritt. Wir brauchen Verwaltungsorgane, die einheitlich aufgebaut sind und einer zentralen Leitung unterstehen. Wir brauchen vor allem eine Armee, die der Regierung gehorcht und nicht einen Bürgerkrieg auf eigene Rechnung führt. Wo der Feind sich stellt, muss er geschlagen werden, ohne militärische Leitung wird er uns nicht nur zuvorkommen, sondern uns am Ende auch die Luft abdrücken.«

»Däumig versagt auf ganzer Linie«, sagte Friesland. »Er hält große Reden und vertraut darauf, dass alles werden wird, wie es werden soll.«

»Dann werde ich Däumig ablösen«, sagte Liebknecht.

»Wenn Sie das tun, springt womöglich die USP ab. Eine Regierungskrise ist das letzte, was wir uns leisten können.« Rosa überlegte, dann sagte sie: »Wissen wir denn überhaupt, wo der Feind steht?«

Pieck schüttelte den Kopf. »Wir haben zahlreiche Meldungen über feindliche Truppenbewegungen, aber diese Meldungen sind nur im Ausnahmefall bestätigt, vor allem werden sie nicht ausgewertet.«

»Dann sollten wir dem Genossen Däumig dabei helfen.« Sie drehte sich um zu Zacharias. »Wollen Sie nicht in seine Dienste treten?«

Zacharias schüttelte den Kopf. »Noch sind Sie nicht sicher, überall lauern Mörder. Denken Sie an Eisner, der als bayerischer Ministerpräsident erschossen wurde, obwohl er gerade zurücktreten wollte.«

»Nein«, sagte Liebknecht. »Er muss dich begleiten. Die Genossin Luxemburg hat zahlreiche Einladungen erhalten, dort zu sprechen, wo unsere Genossen die Macht ergriffen haben. Die Reisen sind gefährlich, wir sollten ihr nicht nur den Genossen Zacharias mitgeben, sondern einige weitere bewaffnete Genossen.«

»Gut«, sagte Luxemburg, »dann muss ein anderer Däumig helfen.«

»Ich werde das veranlassen«, sagte Liebknecht. »Wenn niemand Einwände hat, möchte ich die Sitzung schließen. Es wartet viel Arbeit auf uns.«

»Da sind aber einige Fragen nicht geklärt.«

»Die Wirklichkeit wird sie beantworten!« rief Rosa fröhlich.

»Dem kann ich zustimmen«, knurrte Friesland. Er warf seine Unterlagen in eine abgewetzte Lederaktentasche und verließ den Raum mit schnellen Schritten und Pieck als Anhang.

Zacharias sah ihnen nach. Die Sowjetfraktion, eigentlich gehöre ich doch dazu. Aber irgendwo auch wieder nicht. Bin ich zu dumm, meinen Auftrag zu verstehen? Berichten wie ein Agent, beeinflussen. Letzteres ist lächerlich: Zacharias steuert Luxemburg. Wie kann Dserschinski sich einen solchen Unsinn ausdenken? Wer mochte in der Führung der KPD noch alles für Moskau arbeiten? Pieck und Friesland, das war eindeutig. Sonja auch, aber die gehörte nicht zur Führung.

Rosa stellte sich vor ihn. »Na, Genosse Zacharias, im Traum weit weg?« Sie lächelte.

»Nein, nein«, stotterte er und ärgerte sich, dass sie ihn überrascht hatte.

»Ach, das können Sie doch zugeben, das ist nichts Verwerfliches. Bitte stellen Sie bis morgen früh eine Begleitmannschaft zusammen. Der Genosse Däumig soll Ihnen ein paar gute Genossen ausleihen, damit mir auch bloß nichts passiert.« Es amüsierte sie, mit einer Eskorte zu reisen. »Ich glaube ja, wenn ich allein oder nur mit Ihnen führe, würden wir weniger auffallen, als wenn wir mit Tross und Thron ausziehen wie weiland der Kaiser. Aber Liebknecht besteht darauf, dann wollen wir ihm den Gefallen tun.« Sie klang erschöpft, aber gut gelaunt. »Und unterwegs erzählen Sie mir ein bisschen mehr über Russland, ja, Genosse Zacharias?«

 

*

 

Am nächsten Morgen fuhren sie in einer Kolonne von drei Fahrzeugen Richtung Hamburg. Vorne schützte ein gepanzerter Lastwagen mit acht Soldaten den Zug, hinten folgte ein weiterer Lastwagen gleicher Bauart und mit ebenso starker Besatzung. Ein Priamus hielt sich in der Mitte, auf der Rückbank saßen Luxemburg und Zacharias, vorne der Fahrer und neben ihm Jogiches. Zacharias verstand nicht, warum Jogiches sie begleitete, die Partei brauchte ihn doch in Berlin. Aber er fragte nicht, es ging ihn nichts an.

»Sie haben die Diskussion gehört in der Sitzung der Zentrale. Was ist Ihre Meinung, Genosse Zacharias?« fragte Rosa.

»Ich glaube, Radek hat recht.«

»Auch ein Moskowiter«, brummte Jogiches.

»Wenn man den Feind nicht bekämpft, kann man ihn nicht besiegen«, erwiderte Zacharias. »Und immerhin scheinen die Bolschewiki ihre Feinde zu besiegen. Jedenfalls sind sie noch nicht gestürzt.«

»Ich hoffe, die Bolschewiki halten sich an der Macht. Auch wenn ich ihre Methoden ablehne. Aber alles andere wäre schlimmer, ein Rückfall in die Barbarei. Doch wir können in Deutschland keine Parteidiktatur errichten. Die Arbeiter würden uns hinwegfegen, wenn wir es versuchten. Die Russen sind es seit Jahrhunderten gewohnt, sich vor Zaren zu ducken. Vielleicht hilft es Lenin, wenn er den Sowjetzar spielt. Nur hat das wenig zu tun mit dem Sozialismus, der die Menschen doch befreien soll, nicht knechten.«

»Ausgerechnet Dserschinski«, warf Jogiches ein, ohne sich umzudrehen.

»Ja, dass er die Geheimpolizei leitet, hätte ich nicht geglaubt, wenn es mir einer vor kurzem erzählt hätte.«

»Vielleicht zeigt es, dass die Bolschewiki tatsächlich nicht ohne Terror überleben?« sagte Zacharias.

»Hat es einen Sinn, an der Macht zu bleiben, wenn man das nur mit Terror schafft?« erwiderte Rosa.

»Kann man das vorher wissen? Wie stark der Terror sein muss? In Wahrheit ist es eine Steigerung. Am Anfang schlägt man hier und dort zu, weil Feinde auftreten. Dann treten mehr Feinde auf …«

»Und man schafft sich Feinde durch Terror, Genosse Zacharias. Die Menschewiki, wenigstens deren linker Flügel, hätten gewonnen werden können. Aber die Rechthaberei und der Terror, die ja die gleichen Wurzeln haben, haben die Bolschewiki einsam werden lassen. Die Linken Sozialrevolutionäre werden auch noch dran glauben müssen, spätestens dann, wenn die Kollektivierung ansteht. Die Bolschewiki gaben den Bauern Land, das hat ihnen viel Sympathie eingebracht. Wenn sie es ihnen wieder wegnehmen, gibt es einen Aufstand und also noch mehr Terror. Noch mehr Terror schafft noch mehr Feinde. Am Ende werden Abweichler in der Partei unterdrückt, und es gibt ein Diskussionsverbot, weil die genialen Führer immer recht haben.«

Welch düstere Prophezeiung. Zacharias wusste nicht, was er antworten sollte. Sie kannte die Lage in Russland erstaunlich gut, als wäre sie dort gewesen. Und sie ahnte wenigstens Lenins Pläne. Rosa konnte sich in das Denken der bolschewistischen Führer hineinversetzen. Wenn sie recht hatte, bewegte sich die Sowjetmacht auf einen Abgrund zu. Und wenn sie gestürzt wurde? Schlagt die Bolschewisten und die Juden tot! Für die Weißen waren Bolschewisten und Juden das gleiche. An die Stelle der Sowjetmacht träte ein weißes Mordregime.

Sie fuhren durch Spandau. Auf dem Bürgersteig erkannte Zacharias eine Milizstreife, der Anblick beruhigte ihn. Am Ortsausgang stießen sie auf eine Straßensperre, aber die Rotarmisten erkannten schnell, wer in der Kolonne fuhr, und ließen Rosa und die Revolution hochleben.

»Vielleicht ist es falsch, dass ich diese Reise mache. Die Moskowiter in der Zentrale warten doch nur darauf, dass sie eine Zufallsmehrheit bekommen. Die fehlen nie auf Sitzungen. Genosse Zacharias, unter uns, sind Sie auch ein Moskowiter?«

Zacharias hoffte, dass sie seinen Schreck nicht merkte. »Nein«, sagte er. Aber verriet ihn nicht der Tonfall?

Sie schaute ihn an, wiegte leicht ihren Kopf. »Ich glaube, Sie sind einer.« Dann lachte sie. »Sei’s drum, der Genosse Lenin kann alles wissen, was ich tue.«

Zacharias spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Hoffentlich sieht sie es nicht. Wie konnte sie mich entlarven? Oder rät sie? Gewiss hat sie erfahren, dass ich Friesland kenne.

»Unser Genosse Friesland war ja sogar Volkskommissar in Sowjetrussland. Der kann gar nicht verheimlichen, dass er immer noch Bolschewik ist.«

»Ich war kein Volkskommissar«, sagte Zacharias.

»Irgendwas werden Sie schon gewesen sein. Aber das macht nichts. Sie glauben nicht, wie sehr ich mich danach sehne, dass die Revolution in Russland doch siegt. Wenn sie verliert, werden die Engländer und die Franzosen und das andere Pack uns wegwischen wie einen Krümel auf dem Küchentisch. Meine Kritik an Lenin und Trotzki ist eine Kritik an Lenin und Trotzki, nicht an der russischen Revolution. Und bei aller Kritik erkenne ich an, dass Lenin und Trotzki diese Revolution leiten. Nun sollten wir uns doch der Internationale anschließen unter der Bedingung, dass sie ihren Sitz nach Berlin verlegt und alle Parteien gleichberechtigt sind und keine Befehlsempfänger einer allwissenden Zentrale werden.«

»Die Bolschewiki wollen verhindern, dass die neue Internationale wird wie die alte.«

»Das will ich auch, Verbindlichkeit der Beschlüsse. Aber das kann nicht heißen, dass wir eine Stelle einrichten, die Befehle erteilt. Ich sage offen, dass viele befürchten, eine Internationale, in der die Bolschewiki herrschen, wird ein militärisch organisierter Revoluzzerklub mit einem Maximum an Konspiration und einem Minimum an Demokratie. Wenn Sie jemand fragt, Genosse Zacharias, was die Meinung der Genossin Luxemburg dazu sei, Sie dürfen mich zitieren.« Sie lächelte und lehnte sich zurück. Die Erschöpfung hatte ihr Gesicht grau gefärbt.

Der Fahrer machte eine Vollbremsung. Dann waren Schüsse zu hören. Sie standen auf einem freien Stück Landstraße. Zacharias sprang aus dem Wagen und zog die Mauser. Die Soldaten auf den Lastwagen waren abgesprungen und suchten Deckung. Zacharias ließ sich von einem Soldaten einen Feldstecher geben und suchte die Umgebung ab. Es war nichts Auffälliges zu sehen. Weit im Hintergrund eine schwache Rauchfahne, dort mochte ein Haus stehen.

Rosa stellte sich neben Zacharias, er hatte nicht bemerkt, dass sie ausgestiegen war. »Was gibt’s?« fragte sie.

»Weiß ich nicht. Irgendwo sind Schüsse gefallen. Zu sehen ist aber nichts.«

»Lassen Sie uns weiterfahren. Wir kommen sowieso zu spät.«

»Meine Aufgabe ist nicht, Sie pünktlich nach Hamburg zu bringen, sondern unverletzt.«

Sie lachte. »Ist ja gut, Sie strenger Genosse. Aber ich möchte jetzt weiterfahren.«

Zacharias gab den Soldaten einen Wink. Die saßen wieder auf, dann setzte sich die Kolonne in Bewegung. Zacharias fiel ein, es wäre besser gewesen, er hätte sich in den vorn fahrenden Lastwagen begeben, aber nun war es zu spät. Sie fuhren in hohem Tempo durch Ludwigslust.

Kurz vor Hamburg gerieten sie in eine Straßensperre, die mit roten Fahnen geschmückt war. Die Sperre wurde von bewaffneten Zivilisten bewacht, die rote Armbinden trugen. Als sie Rosa erkannten, ließen sie sie hochleben. Sie war vor dem Krieg auf vielen Veranstaltungen gewesen und traf immer wieder Menschen, die sie als Rednerin erlebt hatten.

In der Stadt sahen sie Plakate, die Rosas Rede für den 12. März ankündigten. Als sie das Gewerkschaftshaus erreichten, war der große Saal schon überfüllt. Vor der Tür standen Massen, die Beifall klatschten, als sie bemerkten, dass Rosa eingetroffen war. Die Führer des Hamburger Arbeiter-und-Soldaten-Rats begrüßten Rosa und ihre Begleiter überschwenglich am Eingang. Zacharias verstand kaum die Namen, da die Menschen auf dem Platz vor dem Gewerkschaftshaus immer wieder in Hochrufe ausbrachen, auf Rosa, auf Liebknecht, auf die russische Revolution, auf Lenin und Trotzki. Er hielt sich in Rosas Nähe und mühte sich, nicht abgedrängt zu werden.

Bevor sie sprach, bat sie um einen Raum, in dem sie ungestört telefonieren könne, falls eine Verbindung nach Berlin möglich sei. Ein Mann mit Glatze und rotem Vollbart brachte sie in ein Zimmer, das offenbar einem Gewerkschaftsfunktionär gehört hatte. Rosa setzte sich an den Schreibtisch, Jogiches ihr gegenüber, Zacharias stellte sich an die Tür, der Vollbart stand draußen und achtete darauf, dass niemand hereinkam. Rosa erreichte die Vermittlung, und die schaffte es erstaunlicherweise, ein Gespräch zum Reichstag durchzustellen. Sie erwischte Haase.

»Dritte Internationale, Lenin übertreibt … Wie hat sich Eberlein verhalten? … Stimmenthaltung? Hat er denn nicht gegen die Gründung protestiert? … Er wollte nicht unsolidarisch sein? … Ganz schön flau, der Genosse. Aber Hauptsache, die Revolution schreitet voran. Wie sieht es in München aus? … Großartig, hoffentlich können sie sich halten … Ja, ich habe einiges von ihm gehört, auf den Genossen Leviné können wir uns verlassen.«

Sie legte auf und strahlte. »In München haben die Arbeiter die Macht.« Dann lachte sie. »Und Lenin hat tatsächlich seine Internationale gegründet, dieser Sturkopf. Eberlein hat sich enthalten, ein bisschen mau, aber sei’s drum. Es geht voran, Genossen.«

Das Grau war aus ihrem Gesicht gewichen. Fast beschwingt verließ sie das Zimmer, der Vollbart brachte sie und ihre Begleiter zu einer Tür, die zur Bühne des Versammlungssaals führte. Rosa ging auf die Bühne, die anderen blieben an der Tür stehen.

Ein Beifallssturm ertönte, als die Menschen Rosa sahen. Das ist der Lohn des Revolutionärs, der seiner Sache treu geblieben ist, dachte Zacharias. Jetzt, wo die Arbeiter und Soldaten Rosa sehen, glauben sie an die Revolution.

Der Versammlungsleiter bat Rosa gleich ans Rednerpult. Bevor sie sprechen konnte, mühte sie sich, den Beifall zu beenden. Dann berichtete sie von der Revolution in München und den anderen Ereignissen, die sie aus Berlin erfahren hatte. Wieder Beifall, den sie mit ausgebreiteten Armen zu dämpfen suchte. Als es ihr gelungen war, erstickte sie die Freude, indem sie an die Aufgaben der Revolution erinnerte. Die Sozialisierung sei nur der erste Schritt zur sozialistischen Wirtschaft, und der sei noch nicht getan. Und wo die Arbeiter Fabriken unter ihre Kontrolle gebracht hätten, liege die Produktion darnieder, mangele es an Arbeitsdisziplin. Auch weil viele Arbeiter glaubten, im Besitz der politischen Macht könnten sie sich damit beschäftigen, während der Arbeitszeit durch die Dörfer zu ziehen, um Brot, Eier und Milch einzutauschen. Wenn dies so weitergehe, werde die Revolution binnen weniger Wochen an sich selbst zugrunde gehen.

»Wenn wir nicht produzieren, können wir die Menschen noch schlechter ernähren als heute schon. Und jenen, die sich auf die angekündigte russische Hilfe herausreden, denen sage ich, man kann nur das Korn mahlen, das man hat. Und wenn man es hat, dann kann man es nur einmal mahlen. Wenn wir den Bauern keine Landmaschinen verkaufen können, weil wir keine herstellen, dann werden die Bauern uns keine Nahrungsmittel verkaufen. Wenn die Werftarbeiter keine Schiffe bauen, dann werden wir auf dem Weltmarkt keinen Zucker, keinen Kaffee, kein Getreide kaufen können. Und wenn die Eisenbahner streiken, dann werden sie mit uns allen hungern, weil nicht einmal die Russenhilfe nach Deutschland kommt.«

Dann sprach sie über den Produktionsplan, den der Rat der Volkskommissare mit den Arbeiter-und-Soldaten-Räten entwickeln müsse. So ein Plan sei ein ungeheuer komplizierter Mechanismus, aber ohne ihn verfalle das Land der Anarchie.

»Wir lassen uns nicht mehr gängeln!« Ein erster Zwischenruf, weitere folgten. An die Stelle der Freude trat der Zweifel. Die Begeisterung flaute ab, auch wenn einige sich bemühten, Rosa zu unterstützen.

»Ich kann das verstehen. Da erobert man die Fabriken und Werften, und dann kommt jemand aus Berlin und will einem vorschreiben, was man damit zu tun hat. Aber so ist es nicht, Genossen. Es handelt sich vielmehr um einen Prozess der Abstimmung zwischen der Zentrale und diesem unendlich fein verzweigten Netz, das sich Wirtschaft nennt. Eine Befehlswirtschaft lehne ich ab, aber die Zentrale muss den Bedarf erfassen und diesen in einen Planvorschlag umsetzen, der wiederum den Betrieben zur Diskussion vorgelegt wird.«

Wenig Beifall. Auch als sie ihre Rede beendete, war der Applaus schwächer als am Anfang. Nun meldeten sich zahlreiche Versammlungsteilnehmer zu Wort.

Der erste wandte ein, die Genossin Luxemburg habe kein Wort über die Konterrevolution verloren. Auch keines darüber, wie die Regierung mit den Augustverbrechern abrechnen wolle. »Und überhaupt, wenn ich schon von einer Regierung spreche. Wir in Hamburg haben die Revolution selbst gemacht. Sogar zweimal, nachdem beim ersten Mal Noske die Hamburger Arbeiterklasse zusammengeschossen hat. Wir entscheiden selbst, was richtig ist und was falsch, da lassen wir uns nicht hineinreden.«

Der nächste Redner widersprach. Wenn die Revolutionäre nicht zusammenarbeiteten, werde die Reaktion am Ende wieder siegen.

Rosa hörte zu und verzog kaum eine Miene. Eine gute Stunde nur lag zwischen Euphorie und Ernüchterung. Vielleicht hatte sie es geahnt. Zacharias hörte kaum zu, was die Redner sagten. Ihm drängte sich ein Bild auf von einem Deutschland, das in Teile zerfiel. In solche, wo die Revolution siegte, solche, in denen die Reaktion sich hielt, solche, in denen Revolutionäre sich Berlin unterordneten, solche, in denen die Anarchisten die Oberhand gewannen. Und wenn die Katastrophe vollständig werden sollte, dann kamen Gebiete hinzu, die Franzosen oder Polen besetzten. Er beobachtete Rosa und bildete sich ein, dass sie Ähnliches fürchtete. Wenn das Land zerfiel, zerfiel auch die Revolution.

Kaum einer der Redner stellte sich als Mitglied der KP vor, fast alle waren Anhänger der USP. Sofern Arbeiter zur Mehrheitssozialdemokratie gehörten, verschwiegen sie es. Aber ihre Argumente verrieten sie. Schließlich sei die Nationalversammlung demokratisch gewählt, und es sei undemokratisch, sie auseinanderzujagen und die gewählte Regierung zu verfolgen. Lautes Gejohle der Mehrheit im Saal war die Antwort.

Rosa hörte zu, und Zacharias sah, dass der Einwand sie berührte. Plötzlich stand sie auf und trat ans Rednerpult. In Revolutionen könne man nicht abstimmen. Aber sie könnten nicht siegen, wenn nicht die große Mehrheit der Arbeiter sie unterstütze. Wären heute Wahlen zur Nationalversammlung, so würden die Parteien der Reaktion viel weniger Stimmen erhalten als im Januar. »Heute würden die Parteien des revolutionären Proletariats die Mehrheit der Stimmen bekommen. Wenn die Wogen hochschlagen, dann ändert sich die Stimmung jeden Tag. Es ist die Aufgabe der revolutionären Parteien, die Arbeiterklasse für ihr Programm zu gewinnen. Gelingt es ihnen, werden sie siegen. Misslingt es, werden sie untergehen und mit ihnen das Proletariat. Aber wenn es gelingt, dann gilt die Maxime: dem Feind das Knie auf die Brust. Das ist unsere Demokratie, die Diktatur des Proletariats.«

Nun erhob sich doch starker Beifall.

Nach der Versammlung saßen sie zusammen mit einigen Harnburger USP- und KP-Funktionären in einem kleinen Sitzungsraum um einen Tisch. Die Wände waren holzvertäfelt, es stank nach Zigarettenrauch. Auf einer Vitrine standen versilberte Teller, Statuetten und Holzkästchen, wohl Gastgeschenke auswärtiger Gewerkschaftsdelegationen. An der Wand Porträts von August Bebel, Wilhelm Liebknecht und Ferdinand Lassalle. Ein Bild zeigte eine Maidemonstration aus der Vorkriegszeit. Das war nur ein paar Jahre her und doch wie vor unendlich langer Zeit. Aber manche Jahre zählen mehrfach, die des Kriegs und der Revolution allemal. Doch fühlte Zacharias Sehnsucht nach dieser Zeit, als die Arbeiter so stark schienen und der Sieg so nahe. Es war die Zeit der Gewissheit, dass eines nicht fernen Tages der Sozialismus auf den Ruinen der Ausbeutergesellschaft auferstehen würde in aller Reinheit und Klarheit. Nun ist die Revolution da, aber nichts ist klar und rein schon gar nicht.

Rosa war erschöpft, und doch redeten Hamburger Funktionäre auf sie ein, wollten alles wissen und verstanden eher zu wenig als genug. Zacharias hatte Mitleid mit ihr, doch hatte sie diesen Zustand nicht herbeigesehnt? Vor ein paar Monaten noch hatte sie im Gefängnis gesessen, weitab im Osten, wo sie hungerte und fror.

Er schaute die Gruppe an, die mit Rosa diskutierte, während Jogiches schweigend das Gespräch verfolgte. Unter den Hamburger Funktionären war ein kräftig gebauter junger Mann, dessen Haare an der Stirn sich schon lichteten. Zacharias hörte, wie dieser immer wieder schärfste Maßnahmen gegen die Konterrevolution forderte und eine Miliz, die im Zweifel schoss. »Besser als einen Schuldigen entwischen zu lassen«, dröhnte der Mann.

Rosa erkundigte sich nach seinem Namen.

»Ernst Thälmann«, antwortete er. »Ich bin in der USP, aber wir arbeiten für die Einheit der Arbeiterparteien. Und dafür, die Bourgeoisie zu vernichten.«

Jemand tippte Zacharias an die Schulter, er war eingeschlafen. Er öffnete die Augen, Rosa stand vor ihm, müde, aber sie lächelte ihn an. »Die Genossen haben ein Quartier für uns.« Jogiches stand hinter ihr, sein Gesicht zeigte nichts.

Drei bewaffnete Hamburger Kommunisten begleiteten sie zu einer Wohnung in der vierten Etage eines Mietshauses in Barmbek.

Dort empfing sie eine junge Frau mit altem Gesicht, deren Willkommenslächeln bitter aussah. Doch zeigte sie sich geehrt, den Volkskommissar Luxemburg beherbergen zu dürfen. Zacharias fragte sich, ob die Frau die Begrüßung geübt hatte.

Als Rosa, Jogiches und Zacharias allein in der guten Stube saßen und die Frau in der Küche etwas zu essen bereitete, sagte Jogiches: »Das ist kein Sozialismus, das ist Anarchie. Jeder will etwas anderes. Die Betriebe produzieren, oder sie produzieren nicht. Die Nahrungsmittelversorgung ist zusammengebrochen, und die Arbeiter ziehen übers Land, um nicht zu verhungern. Vorhin hat mir ein Genosse erzählt, es habe in manchen Dörfern schon Schießereien gegeben. Arbeiter fordern was zu essen, aber die Bauern rücken nichts heraus. Sie nehmen kein Geld, wissen nicht, was sie damit anfangen sollen. Die Reichsmark ist jeden Tag weniger wert. Wer kann, flüchtet in Golddollar.« Er zündete sich eine Zigarette an und stieß den Rauch hastig aus. »Und wie war das in Russland, Genosse Zacharias? Wir haben Schlimmes gehört, aber stimmt das auch?«

Zacharias nickte. »In Russland ist das Durcheinander mindestens genauso groß. Die Leute haben nichts zu essen und keine Kohle oder Brennholz. Dabei gibt es Nahrungsmittel, aber die geben die Bauern nur heraus, wenn die Sowjetmacht Gewalt anwendet. Der Sozialismus dort ist nicht zu retten durch Appelle. Ohne Rote Armee und Tscheka gäbe es ihn schon lang nicht mehr. Und das nicht wegen Koltschak, dem weißen Admiral, oder anderen Aufständischen, sondern wegen des Hungers und der Kälte.«

Rosa hatte zugehört. »Wenn es in Deutschland so weitergeht mit der Revolution, dann werden wir scheitern, nicht einmal grandios, sondern jämmerlich. Wenn wir Gewalt anwenden, bleiben wir vielleicht an der Macht. Aber ist das dann Sozialismus?«