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Z

acharias trug den Beutel zur Straßenbahn. Er setzte sich ans Ende eines Wagens, so dass er alle Sitze im Blick hatte. Vorne stritten sich zwei Frauen, vielleicht Mutter und Tochter. Sie kreischten, doch er verstand sie nicht. Sie zeterten noch, als sie an einer Haltestelle ausstiegen.

Im Präsidium fand er nur Lohmeier vor. Die anderen durchsuchten Tibulskis Wohnung. Vielleicht fanden sie Hinweise auf seinen jetzigen Aufenthaltsort. Zacharias befahl Lohmeier, im Präsidium zu bleiben, um Meldungen entgegenzunehmen, und nahm sich einen Wagen zu Tibulskis Wohnung im Wedding. Die lag im vierten Stock eines großen Mietshauses, in dem es nach Bohnerwachs stank. Zacharias hörte Kindergeschrei, das Schimpfen einer Frau, weiter oben wurden Türen geknallt. In Tibulskis Wohnung traf er Gennat und Dunkelbier, der durchwühlte gerade das Wohnzimmer, während der andere die Küche durchsuchte. Bisher hatten sie nichts gefunden, was auf einen Fluchtort hätte hinweisen können.

Zacharias betrachtete die Wohnzimmervitrine. Darin stand sozialistische Literatur, auch Lenins Arbeit über Staat und Revolution in deutscher Übersetzung. Dazu ein paar Schriften von Marx und Engels, auch Rosa Luxemburgs Abrechnung mit Bernstein unter dem Titel Sozialreform oder Revolution? Zacharias nahm die Broschüre in die Hand und blätterte. Viele Stellen waren mit dem Lineal unterstrichen, außerdem Ausrufezeichen dort, wo Tibulski die Polemik gegen den Revisionismus besonders gelungen fand. Mit der Broschüre in der Hand schaute Zacharias in die Küche. Gennat schnaufte, das bisschen körperliche Arbeit strengte ihn an. Er hatte die Schubladen offen gelassen, Besteck und Kochlöffel lagen auf dem Tisch.

Dunkelbier im Wohnzimmer dagegen verrichtete seine Aufgabe fast lautlos. Gerade betastete er das Sofa, vorsichtig und im Bemühen, seine Finger jede Erhebung oder Vertiefung spüren zu lassen. Dabei verzog er das Gesicht, als höre er zu, wo es doch nichts zu hören gab.

Zacharias wandte sich wieder der Vitrine zu. Er schob Gläser hin und her, fand aber nichts, nur die Finger wurden staubig. Unten hatte die Vitrine eine abschließbare Holztür, aber es steckte kein Schlüssel. Zacharias suchte in der Küche nach einem Werkzeug, fand einen Schraubendreher, steckte den zwischen Tür und Rahmen über dem Schloss und zog, bis es knackte. Er drückte den Schraubendreher tiefer in den Spalt und zog wieder, die Tür sprang auf. Im Fach lag nur ein Album. Zacharias zog es heraus und setzte sich aufs Sofa, mit dem Dunkelbier gerade fertig war. Er blätterte und betrachtete die Fotos. Ein alter Mann und eine alte Frau in einem schwarzen Umhang vor einer hellgetünchten Wand, wohl die Großeltern, da auf der nächsten Seite ein jüngeres Paar abgebildet war, demnach Tibulskis Eltern. Er blätterte weiter, bis er ein Foto fand, das eine kleine Gruppe vor einer Gaststätte zeigte. Sie hieß Zum Kaisereck, im Hintergrund war verschwommen ein Bahnübergang zu sehen. Zacharias erkannte die Eltern und Tibulski, der jung aussah, das Foto schien aus der Vorkriegszeit zu stammen. Er nahm es aus den Fotoecken und zeigte es Dunkelbier. »Kennen Sie diese Gaststätte?«

Dunkelbier schüttelte den Kopf.

Zacharias ging in die Küche und zeigte Gennat das Foto. Der kannte die Gaststätte ebensowenig. »Das dürfte nicht so schwer sein, sofern sie in Berlin oder Umgebung liegt. Gaststätten stehen meistens in Telefonbüchern, viele sogar in Reiseführern.« Er betrachtete das Bild noch einmal genauer. »Nur, was hätten wir davon, wenn wir es rauskriegten?«

Zacharias wusste keine Antwort. Er setzte sich wieder aufs Wohnzimmersofa und blätterte weiter. Ein Bild zeigte Kinder im kleinen Vorgarten eines Hauses, am Rand eine Frau. Zacharias drehte es um. Auf der Rückseite stand »Bei Tante Hille«. Sonst fand er nichts. Er hatte gehofft, Tibulskis Leben blättere sich ihm auf, wenn er das Album betrachtete. Das war nicht geschehen, aber vielleicht wusste Bärmann mehr. »Wenn der Herr Bärmann kommt, fahren Sie ihn bitte ins Präsidium, ich habe noch einige Fragen an ihn.«

Dunkelbier nickte.

»Warten Sie, bis er kommt.«

Zacharias verließ das Mietshaus, irgendwo stritten sich Leute, Kinder kreischten. Er erschrak, als eine Tür zugeschlagen wurde.

In der Straßenbahn blätterte er noch einmal im Fotoalbum, eine alte Frau, die ihm gegenübersaß, beobachtete ihn neugierig. Auf der Straße führten Milizionäre zwei Männer und eine Frau ab zu einem Lastwagen, der mit geöffneter Heckklappe wartete. »Es sind schreckliche Zeiten«, sagte die Frau. »Da werden unschuldige Menschen eingesperrt, einfach so, weil sie verdächtigt werden, gegen die neue Regierung zu arbeiten. Und man sieht sie nie wieder.«

»Woher wissen Sie das, dass sie unschuldig sind und nie wiederkommen?«

»Das hört man überall. Haben Sie das noch nicht gehört?«

Zacharias schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, wie die Menschen auf der Straße dachten. Was sie sich erhofften, was sie fürchteten. Er lebte weit weg von ihnen, wie auf einer kleinen Insel im großen Meer.

Im Präsidium traf er wieder Lohmeier, und da Zacharias schlecht gelaunt war, spielte er mit dem Gedanken, Lohmeier doch einzusperren und aburteilen zu lassen. Wer weiß, was dieser Kerl noch auf dem Kerbholz hatte. Statt dessen legte er das Foto aus Tante Hilles Garten auf den Tisch und fragte Lohmeier, ob er damit etwas anfangen könne.

Lohmeier verzog keine Miene und betrachtete das Bild genau, auch die Rückseite. »Inwiefern soll uns das Foto helfen?«

»Ich weiß noch nicht«, sagte Zacharias. »Aber stellen Sie sich vor, Tibulski muss untertauchen. Wo kann er das am besten tun? Eher doch nicht bei seinen Kumpels, dort suchen wir zuerst, das weiß er. Also besucht er eine Tante, einen Schulfreund, Leute jedenfalls, die mit ihm politisch nicht in einen Zusammenhang gebracht werden. Aber er geht nicht weit weg von Berlin, womöglich wird er ja bald wieder gebraucht.«

Zacharias setzte sich in seinem Dienstzimmer hinter den Schreibtisch, faltete die Hände auf der Tischplatte und starrte an die Wand. Ein heller rechteckiger Fleck zeigte, dass dort noch bis vor kurzem ein Bild gehangen hatte. Ein Porträt des Kaisers womöglich. Er bedachte noch einmal, was Radek ihm erklärt hatte. Es war ein Durcheinander. Wer konnte das seltsame Attentat beauftragt haben? Friesland? Bronski oder Sinowjew selbst? Dserschinski? Oder Liebknecht, dem solche Verrücktheiten auch zuzutrauen waren. Welche Wirkung sollte das Attentat erzeugen? Sollte es vielleicht doch zeigen, dass der Feind sogar in die Reichskanzlei eindringen konnte, weil die Regierung ihn nicht richtig bekämpfte? Die Wirkung war verpufft. Was würdest du tun, wenn der Plan nicht aufging? Er kratzte mit den Fingernägeln über die Tischplatte. Was würdest du tun?

Es klopfte, Dunkelbier trat ein, gefolgt von Bärmann. Zacharias stand auf und reichte Bärmann die Hand. Er bot ihm einen Platz an und bedankte sich, dass er gleich gekommen war. »Das ist keine Vorladung, sondern eine Bitte«, sagte er, um Bärmann zu beruhigen. Er bat Dunkelbier, das Zimmer zu verlassen, dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch, Bärmann gegenüber.

»Das ist doch ein tapferer Mann, dieser Tibulski, nicht wahr?«

Bärmann nickte. Sein Blick wanderte durch den Raum, als wollte er sichergehen, dass nirgendwo eine Gefahr lauerte.

»Sie haben ja nun einiges gehört von diesem komischen Anschlag. Haben Sie eine Meinung dazu?«

»Verrückt.«

»So sehe ich es auch, einfach nur verrückt. Es gibt hier welche, die glauben, es handle sich um einen Anschlag auf die Genossin Luxemburg.«

Bärmann zuckte die Achseln. Er schloss die Augen, wie um sich zu konzentrieren, dann schaute er Zacharias an. »Wie ich hörte, standen Tibulski und Genossen vor der Genossin Luxemburg und haben sie nicht erschossen. Es wäre doch ein Leichtes gewesen.«

»Genau, es war nie leichter, sie zu erschießen. Meine Großmutter hätte das geschafft, wenn sie da gestanden und es gewollt hätte.«

Bärmann grinste.

»Hatte Tibulski Besucher?« Langsam steuerte Zacharias das Gespräch dorthin, wo es für ihn vielleicht etwas ergab.

Bärmann nickte.

»Und Sie haben die natürlich gesehen. Schließlich leben Sie in einer Wohnung mit dem Genossen Tibulski.«

Bärmann nickte.

»Können Sie die Besucher beschreiben?«

»Nur die, die ich gesehen habe. Gustav hat sich auch außerhalb der Wohnung mit Leuten getroffen. Ich habe ihn nicht gefragt, geht mich ja nichts an. Es ist besser, man weiß nicht alles.«

Zacharias lehnte sich zurück. Die mysteriösen Auslassungen Bronskis fielen ihm ein. Ob es nicht besser wäre, Rosa wäre tot? Ermordet vom Feind. Eine Welle der Empörung würde durchs Land gehen, die Arbeiter würden sich endlich zusammenschließen und nicht nur warten, bis die Konterrevolution zuschlug. War Sonja doch eine Verräterin? War es Zufall, dass Rosas Quartier überfallen wurde, von dem eigentlich nur Sonja wissen konnte? Und Pieck, der geheime Wohnungen verwaltete und zuteilte.

Zacharias beschrieb Sonja eher flüchtig. So viele Frauen dürften in Tibulskis Wohnung nicht ein und aus gegangen sein.

Bärmann schüttelte den Kopf. »An eine Frau kann ich mich nicht erinnern.«

»Sie kennen den Genossen Pieck?«

»Natürlich, aber in der Wohnung habe ich den nie gesehen.«

»Beschreiben Sie, wen Sie gesehen haben.«

Es zeigte sich schnell, Bärmann war kaum fähig, andere Menschen zu beschreiben. Sosehr er sich mühte, niemand kam Zacharias bekannt vor.

»Ach, was ich Sie noch fragen wollte: Welcher Partei gehört der Genosse Tibulski an?«

»Er ist Mitglied bei den Unabhängigen, schon lange.«

»Hatten Sie Besuch von führenden Funktionären der USP? Oder wissen Sie, dass der Genosse Tibulski zum Vorstand der USP gerufen wurde?«

»Ich weiß davon nichts.«

Wie es aussah, sagte er die Wahrheit. Zacharias ermahnte Bärmann, ihn sofort zu unterrichten, sollte der Genosse Tibulski auftauchen. Der sei offenbar hereingelegt worden, und es könnte ohne Strafe abgehen, wenn er auspacke.

Dann setzte er noch einmal an: »Hatte Tibulski Freunde, Verwandte, bei denen er sich jetzt aufhalten könnte?«

Bärmann hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Gewiss, aber ich kenne sie nicht.«

Zacharias nahm das Fotoalbum und holte das Foto heraus, das Kinder und eine Tante Hille zeigte. Er schob das Foto Bärmann zu. »Sagt Ihnen das etwas?«

Der schaute das Foto an.

»Drehen Sie es um.«

Bärmann las schweigend. Er schaute, dann schüttelte er kaum sichtbar den Kopf. »Nein, kenne ich nicht, sagt mir nichts. Stammt das aus der Vorkriegszeit?«

»Vermutlich.«

»Da kannte ich Tibulski noch nicht. Und über sich selbst hat er wenig erzählt. War im Krieg, wer war das nicht? Ist wohl ein-, zweimal verletzt worden in Belgien. Über die Zeit vor dem Krieg hat er nie was gesagt. Wenn ich darüber nachdenke, dann ist das komisch, dass viele nichts sagen über die Zeit vor dem Krieg.«

Am Abend ging Zacharias in die Reichskanzlei, wo sich Rosa aufhielt. Sie ließ ihn gleich ins Zimmer bringen, die Männer in der Schlange vor der Tür murrten.

Statt einer Begrüßung sagte sie: »Die rennen mir die Bude ein. Jeder will etwas anderes. Meistens, was ich nicht geben kann.«

Zacharias berichtete, er sei keinen Schritt weitergekommen bei den Ermittlungen. Wahrscheinlich sei es das Beste, die Kommission aufzulösen. Der einzige, der das Rätsel aufklären könne, sei verschwunden. Und ob er etwas sagen würde, wenn sie ihn ergriffen, sei ziemlich unwahrscheinlich. Während er berichtete, spürte er zum ersten Mal die Enttäuschung über sein Versagen.

»Immerhin haben Sie herausbekommen, dass der Anschlag gar nicht mir galt.«

Er nickte, aber es tröstete ihn nicht.

Die andere Tür des Zimmers ging auf, und Jogiches trat ein. »Erinnerst du dich an die letzte Regierungssitzung, als Liebknecht plötzlich auf Däumig losging und den Anschlag als Beweis nutzte dafür, dass die Sicherheitsmaßnahmen nichts taugten, dass die gesamte Regierung von einer Handvoll Bewaffneter über den Haufen geschossen werden könnte?«

»Du meinst, es ist eine Intrige gegen Däumig?«

»Warum nicht? Vielen geht er auf die Nerven. Er redet und redet, aber er tut nichts. Friesland und Kameraden fordern, dass wir eine große Armee zusammenbringen, um die Konterrevolution anzugreifen. Bayern ist fast ganz in feindlicher Hand. Im Osten stehen Freikorps Gewehr bei Fuß, und selbst die Mehrheitssozialdemokraten stecken Leute in Uniformen. In Dortmund hat es gerade Schießereien gegeben, in Bremen auch. Das einzige, was mich erstaunt, ist, dass sie noch nicht angegriffen haben.«

Zacharias dachte, es wäre sinnvoll, die Kommission so schnell wie möglich aufzulösen. Dann könnte er Rosa wieder beschützen, das erschien ihm sinnvoll, gerade nach Bronskis Drohung. Er würde sie gegen alle verteidigen, die ihr etwas antun wollten.

Wenn er nur herausbekäme, wie die Verwicklungen aufzulösen waren. Sollte er von Bronskis Überlegungen berichten? Nein, Spekulationen brachten nichts, zumal Zacharias nicht wusste, wer der tatsächliche Urheber der Mordgedanken war. Und wenn er Radek richtig verstanden hatte, wusste der es auch nicht. Vieles deutete auf Sinowjew hin, aber bewiesen war es nicht.

»In dem Punkt hat Karl ja recht. Nur, erklär das mal den Unabhängigen. Die wollen die Kommandogewalt über die Rote Armee nicht verlieren. Lieber riskieren sie es, dass dieser ungeordnete Haufen vernichtet wird in der ersten Schlacht. Däumig und Genossen fürchten, wenn sie auch nur einen Teil des Oberbefehls aus der Hand gäben, würde unsere Partei sie bald an die Wand drücken. Die wissen, wie die Mehrheitsverhältnisse in unserer Zentrale sind.«

»Der letzte Dienst, den uns die Genossin Luxemburg erweisen kann, ist, im richtigen Augenblick durch die richtige Kugel zu sterben«, sagte Zacharias.

Rosa und Jogiches starrten ihn an. Rosa verengte die Augen, als könnte sie ihn nur unscharf sehen.

»Es gibt Leute, die denken das. Und es sind keine Konterrevolutionäre, sondern Genossen. Ich traf einen Genossen Bronski aus Moskau, der hat mit diesem Gedanken gespielt. Im wahrsten Sinn des Wortes gespielt. Vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis aus dem Spiel Ernst wird. Und ich erhalte den Mordauftrag.«

»Von wem?« fragte Jogiches scharf.

»Von Dserschinski, Lenin …«

»Das glauben Sie doch selbst nicht«, zischte Rosa. »Bei allem Streit, wir bringen uns doch nicht gegenseitig um.«

»Wenn es die Revolution rettet«, sagte Zacharias. »Für die Revolution oder das, was sie darunter verstehen, tun manche alles. Sie ordnen alles diesem Ziel unter. Es gibt für sie keine Moral außer der, dass richtig ist, was der eigenen Sache nutzt.«

Jogiches stampfte einmal auf. Er sagte leise: »So denken sie, die Leninisten. Da hat der Genosse Zacharias recht. Nur, es gibt doch eine Grenze, das menschliche Leben. Jedenfalls das von Revolutionären.«

»Es gibt für Bolschewisten nichts Schlimmeres als Revolutionäre, die anders denken und handeln als sie. Denken Sie nur an das Schicksal der Menschewiki. Im Gefängnis, erschossen, im Exil, in der Verbannung«, sagte Zacharias.

»Das stimmt. Ich habe längst kritisiert, wie die mit ihren Leuten umgehen, aber ich habe es noch nicht veröffentlicht.«

»Aber es hat sich herumgesprochen, und die wollen auf jeden Fall verhindern, dass Sie das veröffentlichen. Rosa Luxemburg kritisiert die russische Revolution, das wäre eine Niederlage für die Bolschewiki.« War das der Anknüpfungspunkt? Gleich verwarf er den Gedanken wieder, denn mit Rosas Tod war die Gefahr nicht gebannt, dass ihr Buch herauskam. Vielleicht machte ihr Tod es um so wahrscheinlicher. Womöglich hatten die – wer immer sie auch waren – Rosa bislang nicht getötet, weil sie Angst hatten, das Buch würde unter großem Aufsehen postum verlegt.

»Nein, in meinem Buch kritisiere ich zwar die Bolschewiki, aber vor allem lobe ich sie, weil sie als erste den Schritt gewagt haben. Und angesichts der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Russland haben sie es richtig gemacht. Die Massen können sich kaum selbst organisieren, wenn sie wenig politische Erfahrungen haben. Und doch bin ich gegen die Diktatur einer Partei oder sogar eines Zentralkomitees und gegen die Entmachtung der Arbeiterräte. Vor allem bin ich aber gegen den Terror.«

»Trotzdem, unsere gemeinsamen Feinde werden die kritischen Stellen ausschlachten – Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Sie werden sie gegen uns wenden, wie man eine Lanze umdreht, um sie dem Feind in den Körper zu rammen.« Jogiches sprach langsam. »Du weißt, ich halte weniger von Lenin als die meisten Genossen hier. Er macht Fehler. Aber wir machen sie auch. Unsere Revolution ist wie ein reißender Strom, der sich seinen Weg bahnt und sich dann zerteilt in Hunderte von Bächen, deren Lauf niemand vorhersehen kann. Da ist keiner, der das zu lenken versucht. Die Unabhängigen nicht, weil sie keine Ideen haben und keinen Mut, wir nicht, weil wir innerlich zerrissen sind, viel stärker, als wir es uns selbst zugeben. Rosa, wir laufen gegen die Wand. Die Uneinigkeit der Konterrevolution oder was immer sie dazu veranlasst, uns nicht anzugreifen außerhalb von Bayern, hat uns bislang das Leben gerettet. Und dass die Entente noch nicht einmarschiert ist, verschafft uns eine Gnadenfrist. Aber vielleicht muss sie gar nicht eingreifen, sondern spekuliert darauf, dass wir uns selbst zugrunde richten. Dass wir im Kampf um den richtigen Weg im Sumpf enden.«

»Du meinst, ich habe unrecht? Warum gehst du dann nicht zu Friesland?«

»Bleib ernst. Wir müssen uns der Wirklichkeit stellen. Vielleicht sehe ich sie ja zu pessimistisch, aber auch diese Sicht kann uns weiterbringen.« Er wandte sich Zacharias zu. »Für wen arbeiten Sie?«

»Für die Genossin Luxemburg.«

»Ach, reden Sie doch keinen Unsinn. Halten Sie mich nicht für dumm.«

Zacharias schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Für Ihren Genossen Dserschinski.« Er glaubte, eine kluge Antwort gewählt zu haben. Es war die Wahrheit und die Erinnerung an einen Freund von Jogiches und Rosa.

»Also für die Tscheka.«

Rosa stöhnte.

»Und was ist Ihr Auftrag?«

»Rosa Luxemburg zu schützen und über ihre Haltung zu berichten.«

»Aber das passt doch nicht zum Mordauftrag, von dem Sie fabuliert haben!«

Zacharias gab gerafft wieder, was Radek berichtet hatte über die Streitereien in Moskau. »Dieser Bronski ist ein Sinowjew-Mann. Er beruft sich auf meinen Auftrag, der aber nicht von Sinowjew stammt. Wahrscheinlich erfindet er einen Befehl von Dserschinski oder sogar Lenin.«

»Glaube ich nicht«, sagte Jogiches. »Vielleicht war es so: Die verschiedenen Gremien von Partei, Regierung und Internationale haben ihre Positionen aufeinander abgestimmt, und Sinowjew, wir kennen diesen Hitzkopf doch, hat daraus Schlussfolgerungen gezogen, von denen er glauben mag, sie entsprächen der gemeinsamen Haltung dieser Gremien. Vielleicht mit dem Vorsatz, die Internationale müsse vorangehen, gewissermaßen immer radikaler sein als die Regierung und die Partei, die diese Regierung stellt.«

»Wenn das stimmt, bleibt als Tatsache, dass Bronski einen Auftrag von Dserschinski vortäuscht«, sagte Zacharias. »Und das tut er, weil er weiß, dass ich anderer Leute Aufträge nicht ausführen würde und es auch nicht darf. Das kann nur den Grund haben, dass die Komintern noch nicht genug Agenten in Berlin hat, vor allem nicht solche, die direkten Zugang haben zur Genossin Luxemburg.«

»Oder die Tscheka ist auf Sinowjews Linie eingeschwenkt«, sagte Jogiches.

»Das glaube ich nicht«, warf Rosa ein. »Feliks und Sinowjew, das passt nicht zusammen. Ich kenne beide, vor allem Feliks. Der würde mir doch keinen Mörder auf den Hals schicken.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Jogiches. »Wenn die Revolution es verlangt, tut der gute Feliks alles.«

»Fast alles, nur ermorden würde er mich nicht.«

Jogiches schaute sie fragend an. Dann lächelte er und war gleich wieder ernst. »Und nun?«

»Ich sollte weiter so tun, als würde ich Bronski folgen. Allerdings verlange ich einen schriftlichen Beweis, dass er für die Tscheka arbeitet. Bringt er den nicht, dann ist der Fall klar. Bringt er ihn, dann sehen wir weiter.«

»Sie haben viele Leute getötet, stimmt doch?« Rosa sprach leise und langsam.

»Ja.«

»Und war das nötig?«

»Vielleicht.«

»Und wenn es sich als falsch herausstellt?«

Zacharias hob die Unterarme und ließ sie wieder sinken. Dann sollte ich mir die Kugel geben, dachte er. Wenn ich dazu den Mut hätte.

»Und müssen wir das auch tun?« Sie sprach mehr mit sich selbst.

Zum ersten Mal erlebte er, dass Rosa sich nicht sicher war.

»Wenn der Feind auf uns schießt, müssen wir zurückschießen.«

»Das ist mir zu einfach. Natürlich, auf die Freikorpsleute würde ich selbst schießen, wenn ich es denn könnte. Aber all die anderen, die Sozialdemokraten, die Abtrünnigen in den eigenen Reihen. Manche fürchten den Bürgerkrieg im Bürgerkrieg, wir gegen die USP. Sie glauben es vielleicht nicht, aber ich kann nachts kaum schlafen, weil ich solche Angst vor den Träumen habe, blutigen Träumen. Ich kann dem nicht ausweichen. Wenn man Revolution macht, dann muss man bereit sein, die Feinde zu töten, sonst wird man getötet. In München haben die Freikorps ein Blutbad angerichtet unter unseren Leuten und denen, die sie dafür hielten. Es ist doch so, dass wir Gewalt anwenden müssen, wenn wir überleben wollen. In diese Lage haben wir uns nun hineingebracht. Es gibt daraus kein Entkommen.«

»Was sagt der Genosse Däumig über die militärische Lage?« fragte Zacharias.

Jogiches schüttelte den Kopf, Rosa sagte nur: »Däumig ist eine Fehlbesetzung. Er hat keine Autorität; sofern er eine hatte, hat er sie verloren. Das ist doch die Krux, dass Friesland und Kumpane nicht in allen Punkten unrecht haben. Das macht unsere Lage um so verzweifelter. Man muss mich gar nicht ermorden, bald buhen sie mich aus wie bei einer missratenen Uraufführung.«

 

*

 

In der Wohnung brannte kein Licht, die Fenster waren schwarz. Er schloss auf und ging hinein. Es war nur ein leichter Geruch, aber der war fremd. Er zündete die Lampe in der Küche an, da sah er Bronski. Der saß am Küchentisch und grinste.

»Wie kommen Sie herein?«

»Durch die Tür, Ihre Frau hat mich eingelassen.«

»Und wo ist sie?«

»Dann ist sie gegangen.«

»Was haben Sie ihr erzählt, dass sie ging?«

»Nichts Besonderes.«

»Was?« brüllte Zacharias.

»Nur die Wahrheit.«

Zacharias holte aus und schlug zu. Aber Bronski hob den Arm und wehrte den Schlag ab. Dann packte er Zacharias an den Schultern und zwang ihn, sich auf einen Stuhl zu setzen. Er zog einen Revolver aus der Tasche und legte ihn vor sich auf den Tisch.

»Was haben Sie Margarete erzählt?«

»Nichts Besonderes, ich sagte es bereits. Die Wahrheit ist doch nichts Besonderes, oder?«

Zacharias schwieg. Er mühte sich, seinen Hass zu bändigen. Reiß dich zusammen, nur dann hast du eine Chance.

»Was ich ihr nicht gesagt habe, und das ist gewiss in Ihrem Interesse, werter Genosse, also ich habe Ihren Auftrag verschwiegen. Den Auftrag, den ich Ihnen jetzt übermittle. Sie töten Rosa Luxemburg, weil sie eine erklärte Feindin unserer Revolution ist. Sie tun dies so, dass der Verdacht auf die Reaktion fällt. Sie erledigen diesen Auftrag so schnell wie möglich, spätestens in zwei Wochen.«

Es überraschte Zacharias nicht, nun hatte sich die taktische Spekulation verwirklicht in einem Mordauftrag. An ihn. Beherrsche dich, du musst mitspielen. Was würde einer fragen, der mitspielen will, aber doch zweifelt?

»Wer ist der Auftraggeber?«

»Feliks Edmundowitsch Dserschinski.«

»Haben Sie das schriftlich?«

Bronski lachte.

Zacharias tat so, als überlegte er. »Gut«, sagte er dann. »In spätestens zwei Wochen.«

»Sie hat mich gesehen«, sagte Bronski.

»Wer hat Sie gesehen?«

»Die Frau, die mir die Tür geöffnet hat. Und ich habe sie auch gesehen. Wenn ich Sie nicht kriege, weiß ich ja, an wen ich mich halten kann. Es liegt in Ihrer Hand, Genosse. Und Zeugen mag ich nicht. Was heißt, dass Sie der Frau nichts sagen. Überhaupt niemandem.«

Er zwang sich zu warten, als Bronski gegangen war. Der hatte seinen Geruch in der Küche gelassen. Als eine Zeit vergangen war, trat Zacharias auf die Straße. Er schaute sich um, Bronski war nirgendwo zu sehen. Zwei Männer auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig unterhielten sich lautstark über ihre Frauen und den Hunger. »Den Strick sollte man sich nehmen, den Strick«, schimpfte der eine.

»Gibt’s Stricke überhaupt noch?« schimpfte der andere zurück. »Nichts gibt es mehr.«

Zacharias musste sich beherrschen, um nicht zu rennen. Als er vor dem Haus angekommen war, warf er Steinchen gegen die Scheibe. Dahinter funzelte flackernd Licht. Das Fenster öffnete sich, Margarete schaute heraus. Sie betrachtete ihn und sagte kein Wort.

»Komm zurück«, sagte er.

»Damit dieser Wahnsinnige mich wieder heimsucht?« schrie sie. »Er hat mich bedroht und beschimpft. Er hat sich in die Wohnung gedrängt und von mir verlangt, dass ich gehe.« Sie hatte geweint, er hörte es an ihrer Stimme. Sie schloss das Fenster, dann erlosch das Licht. Kurz darauf kam sie auf die Straße. Sie hakte sich bei ihm ein, und sie gingen zurück zu seiner Wohnung.

»Aber du musst versprechen, dass der Mann nicht mehr kommt.«

»Das kann ich nicht. Ich weiß nicht, wo ich ihn finden sollte, um es ihm zu verbieten.«

»Dann such ihn.«

Er antwortete nicht. Zorn arbeitete in ihm. Sie hatte recht, sie waren diesem Finsterling ausgeliefert. Er fror, als eine kalte Bö die Straße entlangstrich. Sie trug Papierfetzen mit sich. Er musste herausbekommen, von wem der Mordauftrag stammte. Sollte er in die Sowjetbotschaft gehen und Dserschinski ein Telegramm schicken? Niemals würde der Tschekaleiter einen solchen Auftrag auch nur andeutungsweise bestätigen. Nein, die Botschaft konnte ihm nicht helfen. Das einzige, was sichere Ergebnisse versprach, war eine Reise nach Moskau. Unter vier Augen würde Dserschinski den Auftrag bestätigen oder abstreiten.

Und Sinowjew, die Internationale? War nicht Bronski Sinowjews Mann, soweit man das aus der Ferne beurteilen konnte? Aber konnte es sein, dass Bronski oder Dserschinski Rosa Luxemburg ermorden ließen, ohne dass das Zentralkomitee der Bolschewiki das beschlossen hatte? Wenn es diesen Auftrag gab, dann mochten Friesland und andere eingeweiht sein durch Kuriere aus Moskau. Zumindest mussten sie eine Direktive haben, was sie tun sollten, wenn Rosa getötet war. Wenigstens das.

»Warum sagst du nichts?« Margarete drückte ihn leicht am Arm.

Das bedeutete, er musste herausbekommen, ob es eine solche Direktive gab. Wenn es sie gab, dann war der Fall klar. Wenn es sie nicht gab, dann mochte der Anschlag trotzdem angeordnet worden sein, aber die Wahrscheinlichkeit war gering. Bei allen Eifersüchteleien und Eitelkeiten gerade Sinowjews: Die Bolschewiki überließen wenig dem Zufall, sie organisierten alles bis in jede denkbare Einzelheit, wissend, dass genug Unwägbarkeit übrigblieb.

»Ich überlege, wie wir uns künftig Besuche dieses Herrn ersparen können.«

»Weißt du es schon?«

»Nein, noch nicht.« Sie ist in Gefahr, noch nicht heute, aber in zwei Wochen, wenn ich den Auftrag nicht ausführe. Das ist gewiss. Genauso, dass sie einen anderen Attentäter schicken werden. Rosa und Margarete waren in Gefahr. Wohin konnte er Margarete schicken? Wie sollte er Rosa schützen, wo der Mörder aus den eigenen Reihen kam?

Und wenn er begann, ihnen auf die Füße zu treten und nach der Direktive zu suchen, dann wussten sie bald, dass er sich widersetzte, und sie würden ihn auch jagen.

»Kennst du jemanden außerhalb von Berlin, am besten irgendwo auf dem Land, wo du eine Weile unterkommen könntest?«

»Ist es so gefährlich?«

»Wahrscheinlich. Jedenfalls traue ich diesem Bronski alles zu.« Er hätte hinzufügen können, dass er auch Friesland, Pieck und Sonja alles zutraute. Allerdings hatte er sich seinen Verdacht aus lauen Anhaltspunkten und Spekulationen zusammengereimt, ohne ihn beweisen zu können. Und wenn alles anders war? Dann war Rosa womöglich in noch größerer Gefahr, und sei es nur aus dem Grund, dass er nicht wusste, woher die Gefahr kam.

»Ja, ich habe eine Tante in Königs Wusterhausen. Soll ich dorthin fahren?«

»Das ist zwar immer noch nah an Berlin, aber besser, als hier zu bleiben, ist es. Besorg jemanden, der für deine Eltern sorgt. Hattet ihr nicht so einen hilfsbereiten Nachbarn?«

»Dieser Bronski hat gedroht, nicht wahr?«

»Ja.«

»Er bringt dich um, wenn du nicht gehorchst, was immer er dir aufgetragen hat.«

»Ja.«

»Und mich auch.«

Er blieb stehen, schaute ihr in die Augen und glaubte, darin etwas von der Margarete zu erkennen, die er früher geliebt hatte. In ihrem Blick entdeckte er die Verletzlichkeit, die Sanftheit und Zärtlichkeit, die sie nicht mehr zu kennen schien. Nein, Bronski würde sie nicht töten. Und ihn auch nicht.