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ie ließen ihn länger als zwei Wochen warten. Er wurde immer unruhiger, überlegte, ob er abgehängt werden sollte oder ob Retzlaw verhaftet war. Soll ich den Kontakt suchen? Wenn ja, wo kann ich einen finden, dem ich trauen kann? Aber es wäre gegen die Regeln der Konspiration. Er schlief schlecht und lief in der Wohnung umher. Auch wenn es ihn drängte, er fürchtete sich, nach draußen zu gehen, wo er jederzeit einer Streife in die Hände fallen konnte. Bisher hast du Glück gehabt, fordere es nicht heraus.
Er betrachtete die Bilder in seinem Zimmer und die Bücher seiner Jugend. Er blätterte im Neuen Deutschen Jugendfreund von Franz Hoffmann, fand Hefte wieder, in denen er Ereignisse notiert hatte, die er damals wichtig fand. Darunter ein paar Sätze aus einem Vortrag von Rosa Luxemburg auf einer Wahlkreisversammlung. Ihr Verteidiger Paul Levi über Soldatenmisshandlungen im Vorwärts. Vormittags las er Zeitungen, die er in der Wohnung fand. Vieles hatte er nicht gewusst. Er begriff, die Spartakisten waren noch unbedeutender, als er gefürchtet hatte. Er las in Vaters Büchern, aber die Anspannung blieb. Dann war er überzeugt, dass er einen anderen Weg suchen musste, um Kontakt mit der Partei aufzunehmen. Er marterte sein Hirn, aber es fiel ihm nichts ein, was nicht zu gefährlich war. Der Zorn packte ihn. Gut, dann eben ohne ihn. Sollen sie sehen, was wird, wenn sie einfach auf einen verzichteten, der wusste, wie es zuging in einer Revolution. Bitte schön, Genossen. Macht, was ihr wollt.
Am Nachmittag des 10. Februar, es war ein Montag, fand er endlich einen Zettel im Briefkasten. Darauf stand in Großbuchstaben »HEUTE ABEND 6 UHR TIERGARTEN HUBERTUSBRUNNEN. WARTEN SIE DORT«. Er zerriss den Zettel, nachdem er sich Ort und Zeit eingeprägt hatte.
Als es Zeit war, fuhr Zacharias mit der Straßenbahn zum Gleisdreieck und stieg um in die U-Bahn, wo die Fahrt in der dritten Klasse zum Bahnhof Zoo zehn Pfennig kostete. Dort setzte er sich wieder in die Straßenbahn. Er stieg oft um und prüfte, ob ihm jemand folgte. In den Wagen sah er viele Krüppel, Menschen fehlten Arme, Beine, Hände, Füße, andere hatten zerstörte Gesichter oder waren blind. Auf den Straßen sah er noch mehr menschliche Ruinen. Sie bettelten oder suchten Arbeit. Ein alter Mann ohne Beine lief auf den Händen über den Bürgersteig. Seine Augen waren leer, er schimpfte unverständlich vor sich hin. Er überquerte die Straße, ohne auf Autos oder Pferdegespanne zu achten, als forderte er den Tod heraus.
Erst als er sicher war, dass ihm niemand folgte, fuhr Zacharias Richtung Tiergarten. Es war längst dunkel, aber er kannte den Weg und war bald am Brunnen. Die Gaslaternen der Brückenallee warfen fahles Licht auf den Hirsch mit dem Goldkreuz zwischen den Geweihstangen. Zacharias lief langsam am Brunnen hin und her und beobachtete die Umgebung. Weit weg hörte er Stimmen, wahrscheinlich Betrunkene. Dann knackte ein Zweig, und ein Mann näherte sich schnell. Er trug einen dunklen Mantel und hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen.
»Sie sind Zacharias?« flüsterte er. Er war bereit, jederzeit zu fliehen.
»Ja.«
»Ist Ihnen jemand gefolgt?«
»Nein.«
»Sicher?«
»Ja.«
»Die erste ökonomische Schrift?«
»Was?«
»Ihre erste ökonomische Schrift?«
»Meine?«
»Rosas.«
Zacharias wollte erst sagen, der Mann solle das Idiotenspiel beenden. Aber dann überlegte er und sagte: »Die industrielle Entwicklung Polens.«
»Name der Katze?«
Zacharias überlegte, dann erinnerte er sich einiger Bemerkungen Rosas in der Parteischule. »Mimi.«
»Gut. Morgen mittag um zwei Uhr warten Sie an der Berolina-Statue auf dem Alex vor dem Warenhaus Tietz, bis jemand Sie fragt, wie es Mimi geht.«
»Da ist doch das Polizeipräsidium?«
»Genau. Einen besseren Treffpunkt gibt es nicht«, sagte der Mann fast tonlos. Dann verschwand er in der Dunkelheit.
Zacharias lief zur Straßenbahnhaltestelle und fuhr ohne Umweg zurück. Als er die Küche zu Hause betrat, stand die Mutter am Herd. Sie schaute ihn fragend an, aber er sagte nichts. Er überlegte, ob er ihr erklären sollte, dass er bald ausziehen würde. Aber dann schimpfte er nur übers Wetter und ahnte, die Mutter wusste, dass er es nur tat, um etwas zu sagen.
»Und Margarete?«
Was sollte er antworten? Dass er sich nicht traute? Dass er sich vorstellte, sie habe längst einen anderen? Wie sonst sollte er es sich erklären, dass sie nicht mehr nach ihm gefragt hatte? »Ich weiß nicht«, sagte er.
»Du weißt nicht?« Sie ließ die Frage nachklingen, dann schüttelte sie den Kopf.
Sie redeten nicht viel beim Abendessen. »Warum erzählst du nichts von Russland?« fragte die Mutter.
»Ich hol’s nach. Manchmal denke ich, es ist besser, du weißt nichts über mich. Vielleicht hätte ich gar nicht herkommen, sondern mir irgendwo in der Stadt ein Zimmer nehmen sollen. Es kann sein, dass ich Ärger kriege. Ich will dich da nicht hineinziehen.«
»Ärger bin ich gewöhnt. Was denkst du, wie oft Vater Streit mit den Behörden hatte in der Kaiserzeit. Er hat ja sogar im Gefängnis gesessen.«
»Das ist heute anders. In Berlin wird man in diesen Tagen auf der Flucht erschossen. Lies mal die Zeitungen.«
Die Mutter schaute ihn traurig an. »Spartakus?« fragte sie.
Er zeigte ihr die Handflächen. »Besser, du weißt nichts.«
»Junge, Junge«, sagte sie. »Aber ich werde dich kaum davon abbringen können, fürchte ich. Du warst schon früher so stur.«
»Nenn es konsequent«, lachte er. »Das habe ich von Vater.«
»Der war auch stur«, sagte sie und lächelte kurz.
Nach dem Essen zog es ihn hinaus. Er gestand sich nicht ein, was ihn zog, aber seine Schritte führten ihn zu dem Haus, in dem Margarete wohnte oder wenigstens früher gewohnt hatte. Zacharias stand eine Weile vor dem Haus und mühte sich, die Angst vor der Wahrheit zu überwinden. Es war doch klar, er hatte sich zu lange nicht gemeldet. Sie war nicht mehr zu seinen Eltern gekommen, um nach ihm zu fragen.
Er ging zur Haustür und drückte die Klinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Drinnen war es stockdunkel. Er hielt die Haustür offen, so dass Licht von der Straßenlaterne in den Flur fiel. Zacharias las die Namen an den Briefkästen. Da stand »Wolkenhauer«, die Eltern wenigstens wohnten noch hier. Er verharrte eine Weile und überlegte, ob er bei Wolkenhauers klopfen sollte. Die Eltern hätten ihn wohl gern als Schwiegersohn angenommen. Aber was dachten sie jetzt?
Er hörte Schritte auf dem nassen Kopfsteinpflaster der Straße. Zacharias erschrak, dann ging er hinaus und schloss die Haustür. Die Schritte kamen näher, dann verstummten sie. Er schaute in die Richtung, aus der er die Schritte gehört hatte. Es war eine Frauengestalt. Sie stand ein paar Meter vor ihm, und er erkannte sie sofort.
Sie stand nur da und schaute ihn mit großen Augen an. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. In ihren Augen las er Freude, dann Wut, dann Trauer. Aber vielleicht spiegelten sie nur die Empfindungen, die sie in seinen Gedanken haben musste. Sie verharrten eine Weile im Nieselregen. Tropfen glänzten im Laternenschein auf ihrem Haar, sie hatte es hinterm Kopf zusammengebunden. Ihr Gesicht war knochig geworden, der Hunger hatte es verändert. Aber die Augen waren noch die, die ihn im Traum verfolgt hatten.
»Du, hier«, sagte sie leise. Es klang in seinen Ohren so wie: Du bist also nicht tot.
»Nein«, sagte er. »Ich lebe.«
Sie blickte ihn an, und ihm schien es, als schüttelte sie den Kopf. »Du hast nicht geschrieben.«
»Doch. Ich habe aber nie einen Brief abgeschickt. Es ging nicht. Die Post ging nicht. Revolution, Bürgerkrieg.«
Eine Träne glitzerte unter ihrem Auge. Sie hob die Schultern und senkte sie wieder.
»Ich wollte dich nicht überfallen«, sagte er. »Tut mir leid.«
»Das ist dir aber nicht gelungen«, sagte sie. Zacharias glaubte, ein Lächeln zu sehen in ihrem Gesicht. Sie erinnerte sich gewiss an seine Vergesslichkeit, daran, dass er früher Verabredungen oft nicht eingehalten hatte. Fast hätte er gesagt, die Bolschewiken hätten ihm das ausgetrieben. Aber dann fiel ihm ein, dass die Bolschewiken sich um Termine auch nicht scherten und damit gerade ihre ausländischen Gäste zur Verzweiflung trieben. Die Tscheka hatte ihm die Unzuverlässigkeit ausgetrieben. Aber das wollte er Margarete nicht sagen.
Sie kam einen Schritt näher. »Und jetzt bist du wieder hier«, sagte sie.
»Ja.«
»Und besuchst mich.«
»Ich kam hier vorbei.«
»Zufällig«, sagte sie. Ihre Augen waren traurig.
»Vielleicht nicht ganz.«
»Vielleicht nicht ganz«, wiederholte sie.
Die Fragen lagen ihm auf der Zunge. Ob sie einen anderen hatte? Warum sie sich nicht mehr erkundigt hatte nach ihm. Er traute sich nicht. »Wie geht es dir?« Seine Stimme war belegt, und er schalt sich wegen seiner Dummheit.
»Wie es einem so geht in diesen Zeiten«, sagte sie.
»Hast du Arbeit?« fragte er. Dabei hätte er fragen wollen, ob sie ihn noch liebe. Seine Zunge bildete die falschen Wörter.
»Ja. Aber das Geld reicht nicht. Die Inflation.«
»Wir bezahlen jetzt den Krieg«, sagte er und kam sich vor wie ein Schwätzer.
»Wir bezahlen den Krieg, seit er begonnen hat«, erwiderte sie.
»Ich muss jetzt weiter«, sagte er, während er dachte: Hoffentlich bittet sie mich in die Wohnung.
»Du musst jetzt weiter. Wenn das so ist, da kann man nichts machen.«
»Wir müssen reden«, sagte er. Endlich ein wahrer Satz.
»Wenn wir es müssen«, sagte sie. Er glaubte, sie wieder lächeln zu sehen. »Redselig bist du nicht geworden in Russland.« Sie hatte ihn früher oft verspottet als den großen Schweiger. Nur auf Versammlungen und wenn es um Politik ging, ja, da rede er wie ein Wasserfall.
Nein, er mochte nicht daherreden. Doch er beneidete Leute, die es konnten. »Aber vielleicht schaust du mal vorbei, wenn du Zeit hast. Jetzt geht es ja leider nicht.«
»Ja. Ich komme bald wieder.«
Sie sagte nichts. Er wusste, sie schaute ihm nach, als er die Straße hinunterging. Was bist du für ein Feigling, schimpfte er lautlos. Im politischen Streit, da reißt du die Klappe auf, für die Tscheka riskierst du dein Leben, aber vor Margarete kriegst du kein vernünftiges Wort raus. Lächerlich. Du bist eine lächerliche Gestalt.
In der Nacht konnte er kaum einschlafen. Bilder einer glücklichen Vergangenheit zeigten ihm sein Elend. Erinnerungen an den Vater und Renate. Sie waren weit weg. Er gehörte nirgendwohin. Nicht nach Russland, nicht in dieses Deutschland. Nie hätte er vor dem Krieg geglaubt, sich eines Tages eingestehen zu müssen, dass es zu Kaisers Zeiten schön gewesen sei. Berlin sah noch so aus wie vor dem Krieg, die Fassaden waren die gleichen. Aber die Menschen waren niedergeschlagen, manche zerstört. Krüppel auf den Straßen, Bettler, Arbeitslose. Er sah Margaretes Gesicht vor sich. Sie war dünn geworden. So sahen Menschen aus, die hungerten. Solche Gesichter kannte er aus Russland.
*
Die Mutter war zur Arbeit, als Zacharias am Morgen in die Küche kam. Auf dem warmen Herd stand die Blechkanne mit Zichorienkaffee, auf dem Tisch ein Teller mit einer Scheibe Kleiebrot und ein Glas mit Pflaumenmus. Erbärmlich, verglichen mit dem, was sie vor dem Krieg gefrühstückt hatten. Sonntags hatte es sogar für Schrippen gereicht, die sie bei Bäcker Adam holten.
Nach dem Frühstück besorgte Zacharias sich den Vorwärts und die Freiheit und las. Die Unabhängigen lehnten es radikal ab, in die Regierung einzutreten, die Mehrheitssozialdemokraten bildeten daher eine Koalition mit bürgerlichen Parteien. Die Rechte schäumte und fabulierte über Novemberverbrecher, die schuld seien an der Kriegsniederlage und den demütigenden Waffenstillstandsbedingungen, die Deutschland wehrlos machten.
Dann machte er sich auf den Weg zum Alexanderplatz. Die Berolina-Statue glänzte vor Nässe, Zacharias fröstelte. Er war zu früh und spazierte auf dem Platz umher. Hin und wieder schaute er sich unauffällig um. Wahrscheinlich war die Kontaktperson schon da und beobachtete ihn. War es der Mann, der ein paar Meter neben der Statue stand und den Trubel betrachtete? War es der auf Krücken, der seinen Hut auf den nassen Boden gelegt hatte in der Hoffnung, jemand würde ihm Geld hineinwerfen? Den Mann, den er im Tiergarten getroffen hatte, sah er nirgends. Aber vielleicht lauerte er irgendwo?
Um zwei Uhr stellte sich Zacharias nahe an die Statue.
»Wie geht es Mimi?« fragte eine Frauenstimme in seinem Rücken.
Er drehte sich um. Sie trug eine schwarze Mütze auf schwarzen Haaren. Er schluckte, sie gefiel ihm gleich. Sie blickte ihn streng an.
»Gut geht es ihr. Hoffe ich jedenfalls.«
Sie hakte sich bei ihm ein. »Dann fallen wir nicht so auf.« Sie zog ihn in Richtung U-Bahnhof Alexanderplatz. »Ach ja, die arme Mimi ist lange tot.«
»Wohin gehen wir?«
»Wir fahren jetzt ein Stück, dann gehen wir. Und dann erklär ich Ihnen etwas. In dieser Reihenfolge.«
Im Bahnhof lösten sie Fahrscheine für die dritte Klasse, dann setzten sie sich in einen Zug Richtung Gleisdreieck. Dort stiegen sie um in die U-Bahn Richtung Warschauer Brücke. Sie sprachen kein Wort. An der Endhaltestelle stiegen sie aus. Dann sagte sie: »Wir müssen jetzt noch ein Stück laufen.« Sie gingen in Richtung Petersburger Straße, dann rechts hinein in die Boxhagener Straße. Mietshäuser grenzten die Straße ein.
Vor einem Haus zwang die Frau Zacharias, langsam zu laufen. Dann blieben sie vor einem Fenster stehen. Die Frau zog Zacharias an ihre Seite, so dass er zum Fenster schaute. Zacharias glaubte, einen Schemen gesehen zu haben hinter der Scheibe. Nach einigen Sekunden drehte sie sich um, und sie liefen langsam zurück zur Warschauer Straße.
Plötzlich Schritte von hinten. Ein Mann überholte sie, er flüsterte der Frau etwas ins Ohr und verschwand. Die Frau blieb stehen und sagte: »Dann ist ja alles in Ordnung, Genosse Zacharias. Kommen Sie. Ich habe eine Überraschung für Sie.«
Sie führte ihn zum Eingang des Hauses, vor dem sie gestanden hatten. Sie klopfte an die Tür der linken Erdgeschosswohnung, die wurde gleich geöffnet. Ein Mann winkte sie hinein und führte sie in das Wohnzimmer. Zacharias lachte, als er den Mann sah, der auf dem Sofa saß. Der Mann lachte auch. »So sieht man sich wieder«, sagte er.
»Der Genosse Reuter, ich dachte, Sie sind in Russland.«
»Nichts bleibt, wie es ist. Nennen Sie mich Friesland. Ich habe mit Lenin gesprochen, bevor ich abreiste. Und Radek habe ich schon informiert. Sie sollten sich bald mit ihm treffen.«
»Haben Sie neue Instruktionen für mich?«
»Nein, ich bin vor Ihnen abgereist, schon im Dezember. Ich nehme an, Sie wurden danach eingewiesen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich Ihren Auftrag unterstützen werde.«
Zacharias war erleichtert. Endlich jemand, dem er vertraute und der ihm vertraute. Jetzt war es leicht, mit der Führung der Partei in Kontakt zu kommen. Reuter alias Friesland kannte Lenin, Radek, Trotzki, Sinowjew und andere bolschewistische Führer. Er würde eine wichtige Rolle spielen in der deutschen Partei.
»Ich muss Jogiches treffen. Nur wenn der es befürwortet, komme ich näher heran an die Genossin Luxemburg.«
»Das wird schwierig genug. Die Genossin hat nach dem Mordanschlag endlich eingesehen, dass sie ihre Sicherheit ernst nehmen muss. Wir sind irgendwie alle noch Sozialdemokraten, die glauben, dass ihnen nichts Schlimmeres geschehen könne als so etwas wie die Sozialistengesetze. Aber da sind Mörder auf den Straßen, und der Mob will unsere Leichen.«
Reuter-Friesland schüttelte den Kopf. Er sah traurig aus, aber auch entschlossen. »Nur würde ich Jogiches nicht erzählen, dass Sie mit Radek gesprochen haben oder sprechen werden.«
»Ich weiß«, sagte Zacharias, »die Genossen hassen sich. Alte Geschichten.«
»So ist das in der Emigration und in konspirativen Zirkeln. Da wächst das Misstrauen, da treten schlechte Eigenschaften in den Vordergrund. Da werden aus kleinen Dingen Riesengeschichten. Aber vielleicht war Lenin auch nicht gut beraten, ausgerechnet Radek zu seinem Sprachrohr in Deutschland zu machen.«
»Wen sonst?« fragte Zacharias. Dann fiel ihm ein, dass Friesland sich für den besseren Moskauer Emissär halten könnte.
Friesland zuckte die Achseln.
Zacharias schaute sich um. Es war ein deutsches Wohnzimmer, mit einer Vitrine an der Wand, einem verschlissenen braunen Sofa, mit Familienbildern, eines trug einen schwarzen Trauerrand. Es zeigte einen jungen Mann in Uniform. Die Frau saß auf dem Sofa. Sie hatte nichts gesagt, während Friesland und Zacharias gesprochen hatten.
»Das sind gute Genossen, die uns die Wohnung manchmal überlassen für ein paar Stunden«, sagte die Frau.
»Wie heißen Sie, wenn Sie mir das vielleicht verraten würden?« fragte Zacharias.
»Sonja Mandereit.«
»Wo wohnen Sie?« fragte er.
Sie lächelte. »Sie sind vielleicht ein wenig zu neugierig. Besser, Sie wissen es nicht.«
Friesland erhob sich vom Sessel. Er bewegte sich langsam, war erschöpft. »Genosse Zacharias, Sie gehen nach Hause und warten auf Nachricht. Die Genossin Mandereit wird sich bei Ihnen melden. Wahrscheinlich morgen mittag.«
Das Leben eines Revolutionärs besteht aus Warten, dachte Zacharias. Er wollte etwas tun, das Herumlungern erzeugte nur trübe Gedanken. Aber immerhin, er würde Sonja bald wiedersehen. Auf dem Rückweg musste er über sich lachen. Gestern hatte er Margarete getroffen, und er war zu feige gewesen, sich mit ihr auszusprechen. Heute traf er eine fremde Frau, die ihm gefiel, und er freute sich, sie wiederzusehen. Ich bin ein Mensch, der sich nicht entscheiden kann, in privaten Dingen jedenfalls. Weil sich entscheiden verzichten heißt? Nein. Aber was nutzt es, wenn ich mich entscheide, und Margarete will etwas anderes? Ich fürchte die Wahrheit, laufe vor ihr weg. Bestimmt hat sie einen neuen Freund gefunden. So ein Mädchen bleibt nicht lang allein. Es sei denn, sie will es. Wollte sie es?
Nüchtern betrachtet, war Zacharias für sie so gut wie tot gewesen. Warum sollte sie auf einen Toten warten? Er fühlte sich, als hätte er keinen Boden unter den Füßen. Es ging alles zu schnell. Im Kopf war er noch halb in Russland. Die letzte Nacht hatte er wieder von Erschießungen geträumt, auch von den Prügeln für Bauern, die verdächtigt wurden, Getreide zu verstecken.
Der Hauptfeind der Revolution ist der Hunger, sagte er sich. Mochten die Bauern schuld sein, das Volk forderte Essen von der Regierung. Arbeiter streikten, und die Tscheka bekämpfte sie. Es gab Gründe für den Terror, gewiss. Aber der Terror war abscheulich. Und wenn sie in Deutschland siegten, dann würde es auch hier ohne Terror nicht gehen. Es würde Streit in der Partei geben. Aber noch waren sie zu schwach, um an den Sieg zu denken und die Qualen, die er ihnen bereiten würde. Das hatte Zacharias in Russland gelernt, die Revolution war nicht der Kladderadatsch, dem das Paradies auf Erden folgte, wie Bebel es beschworen hatte. Die Revolution ist zuerst Gewalt, oft auch gegen die, denen die Revolution dient. In seinem Kopf lief alles durcheinander, Margarete, der Terror und die Schuld, die er auf sich geladen hatte. Und morgen würde ihn Sonja abholen.
Radek wartete auf ihn. Zacharias hatte ihn einmal gesehen auf einer Sitzung im Smolny in Petrograd. Wie eine Furie war er über linke Sozialrevolutionäre hergefallen, der kleine Mann mit den wirren Haaren, schlecht oder gar nicht rasiert, auf der Nase eine Brille mit dicken Gläsern, die die Augen stieren ließen. Er war witzig und demagogisch, gebildet und derb, brillant, verhasst bei vielen, geliebt von wenigen. Aber alle wussten, Lenin schätzte Radek. Der war in Deutschland gewesen, auf dem radikalen linken Flügel der SPD, ein vorzüglicher Journalist, der sich in seiner zweiten Heimat so gut auskannte wie kaum ein Deutscher. Radek war wieder in Deutschland, und wo er war, da war auch Lenin.
Zacharias verunsicherte die Vorstellung, Radek könnte auch über ihn herfallen. Was sollte er tun, wenn Radek etwas von ihm verlangte, was nicht zu seinem Auftrag gehörte?
Du denkst zu weit. Warte es ab. Hatte Lenin nicht gesagt, Radek dürfe Zacharias keine Befehle geben? Doch die Unruhe ließ ihn nicht los. Er ahnte den Streit voraus zwischen Radek und Rosa Luxemburg, deren Feindschaft die Beziehung der Spartakisten zu den Bolschewiki von vornherein belasten musste. Luxemburgs Vertrauen in die Massen gegen Lenins Organisationseifer, der sich die deutsche Reichspost zum Vorbild gewählt hatte. Es passte nicht zusammen. Das spürte er, und dies war die eigentliche Ursache seiner Unruhe. Er fürchtete, zwischen die Mahlsteine zu geraten. Und er fürchtete, die eigene Zerrissenheit zu offenbaren. Ein Revolutionär zweifelt nicht. Wie soll einer sein Leben einsetzen für eine Sache, an der er zweifelt?
*
Am Abend beobachtete er die Mutter. Sie stellte das karge Essen auf den Tisch. Sie bewegte sich langsam und gleichförmig, fast schlurfte sie. Er erinnerte sich, wie ihre Augen früher leuchten konnten, wenn sie sich freute. Sie konnte sich an einer Kleinigkeit erfreuen, an der ersten Blume im Frühling wie an der ersten Schneeflocke im Winter. Sie versuchte ihren Mann und die Kinder anzustecken mit ihrer Freude, manchmal gelang es ihr bei den Kindern. Den Vater verunsicherte aller Überschwang. Er war von norddeutschem Gemüt, zurückhaltend, selten laut, bedächtig. Ein wenig davon hatte Zacharias geerbt, der auch nur redete, wenn er es für sinnvoll hielt. Und der andere nicht teilhaben ließ an seinem Innenleben.
Die Augen der Mutter waren stumpf. Sie sprach wenig, wollte aber etwas wissen über die Erlebnisse ihres Sohns in Russland. Aber der antwortete nicht. Sie löffelten schweigend die dünne Suppe, in der diesmal ein paar blau angelaufene Kartoffeln schwammen. Zacharias fragte nicht, wo die Mutter sie besorgt hatte und was sie dafür hatte hergeben müssen.
Nach dem Essen räumte die Mutter die Teller vom Tisch und wusch ab. Ab und zu hörte Zacharias sie atmen. Es klang fast wie ein Seufzen. Bestimmt wollte sie erfahren, wie es mit ihm weitergehe, aber sie fragte nicht. Als die Küche aufgeräumt war, ging die Mutter zu Bett. Zacharias saß allein und überlegte, wie es früher gewesen war. Da wurde nach dem Essen noch geredet und gescherzt, manchmal brachten sie sogar den Vater zum Lachen. Die Mutter hatte hell gelacht, und Renate war eingefallen. Dabei gab sie der Heiterkeit oft den Grund, wenn sie andere Leute nachäffte, einen Nachbarn, einen Verkäufer oder eine Freundin.
Zacharias musste schlucken. Er spürte den Hass, der in ihm tobte. Die den Krieg verschuldeten, hatten sein Glück zerstört. Sie hatten Millionen das Leben zerstört. Und waren die nicht die Übelsten, die die Internationale verraten hatten? Die für den Krieg eintraten, nachdem sie Tage zuvor noch die Arbeiter zu Demonstrationen für den Frieden auf die Straßen gerufen hatten? Die die Lüge, Russland habe Deutschland angegriffen, begierig glauben wollten, obwohl sie es besser wissen mussten?
Die Revolution war die Rache der Toten. Nicht diese schlappe Revolution im November, sondern die Revolution, die kommen würde. Eine nach Lenins Muster, die aufräumte mit den Reaktionären und ihren sozialdemokratischen Stiefelleckern. Zacharias genoss den Hass in sich, er verschaffte Gewissheit.
Erst wollte er schlafen gehen, dann entschied er sich, eine Kneipe aufzusuchen. Er musste unter Menschen kommen, verstehen, wie sie dachten. Er war so lange weg gewesen. Zacharias erinnerte sich an den Goldenen Anker. Draußen zog er den Schal enger, feuchte Kälte kroch trotzdem unter den Mantel. Seine Schritte klatschten in der Nässe, er wich Pfützen aus, in denen sich das fahle Licht der Gaslaternen spiegelte. Weit vor ihm lief ein Paar in die Nacht, bald war es in einer Seitenstraße verschwunden.
Die Kneipe gab es noch, und sie war geöffnet. Am Tresen standen vier Männer, vor ihnen Biergläser ohne Schaum. Zacharias versuchte sich zu erinnern, wie Bier schmeckte. Er hatte es als Kind probiert, wenn er dem Vater sonntags mit der Blechkanne Bier holte. Kurz vorm Krieg hatte er sich gewöhnt an den Geschmack. Aber in Russland hatte er kein Bier getrunken. In der Sozialdemokratie war es verpönt gewesen, regelmäßig Alkohol zu trinken. Nicht einmal in Russland hatte sich Zacharias das Trinken angewöhnt. Viele Bolschewiken ertränkten in Wodka, was sie plagte.
Zacharias setzte sich an den Tisch neben der Tür. Er betrachtete den Schankraum, Bilder von Soldaten an der Wand.
»Meine Kompanie«, sagte der Wirt. Ihm fehlte ein Arm, und er humpelte. »Die meisten sind tot, ich hatte Glück. Chemin-des-Dames.« Er sagte: »Schömän de Dams.« Dort hatten die Franzosen ihre Soldaten verheizt, die Poilus, Welle auf Welle.
»Ich glaube, ich kenne Sie«, sagte der Wirt. »Sie waren früher öfter hier. Haben Bier geholt.«
»Ja«, sagte Zacharias. »Bringen Sie eines.«
Der Wirt humpelte hinter den Tresen und hielt ein Glas unter den Zapfhahn. Die Männer vorm Tresen hatten Zacharias eine Weile beobachtet. Jetzt drehten sie sich weg und unterhielten sich über den Krieg, schimpften auf die Regierung und den Hunger. Dann sagte einer: »Die Spartakisten sollte man alle an die Wand stellen, angefangen mit Liebknecht und der Judenhure.«
»Kannst dich ja bei nem Freikorps melden, die suchen solche Helden wie dich«, sagte ein anderer. Er trug eine speckige Lederkappe.
»Die nehmen doch nur Offiziere und Unteroffiziere«, widersprach der erste.
»Stimmt nicht, manche nehmen jeden. Zum Beispiel diese Republiktruppe.«
»Schlappschwänze sind das. Schon immer gewesen. Wenn es die nicht gegeben hätte, dann hätten wir Tommies und Froschfresser ins Meer gejagt.«
Der Wirt humpelte mit einem Glas Bier zu Zacharias. »Ist dünner als früher«, sagte er entschuldigend. Er blieb einen Augenblick stehen, als erwarte er eine Antwort. Als Zacharias weiter schwieg, ging der Wirt zurück hinter den Tresen.
»Und du, warst du im Krieg?« rief der mit der Speckkappe zu Zacharias hinüber.
»Ja«, sagte Zacharias.
»An der Westfront?«
»Kurz«, sagte Zacharias.
»Russland?«
Zacharias nickte.
»Wir hätten das zu Ende bringen müssen. Moskau niederbrennen, Petersburg auch. Das Bolschewistenpack fertigmachen. Dann hätten wir heute unsere Ruhe. Die Spartakisten gäbe es gar nicht ohne diesen Lenin und das Gesocks!«
Zacharias sagte nichts. Es hatte keinen Sinn, sich mit Angetrunkenen zu streiten.
»Du redest nicht mit jedem?«
»Stimmt«, sagte Zacharias. »Manchmal will ich einfach in Ruhe sitzen und ein Bier trinken.«
Der mit der Kappe ging einen Schritt auf Zacharias’ Tisch zu. »Lass ihn«, sagte der vierte Mann, der bisher geschwiegen hatte. Der mit der Kappe zögerte, dann drehte er Zacharias wieder den Rücken zu.
Zacharias roch das billige Kraut, das die Männer rauchten. Es kratzte im Hals. Früher hatte es hier sonntags nach Zigarren gerochen. Da saßen die Männer an den Tischen und diskutierten über das Dreiklassenwahlrecht in Preußen, Bebel, die Kolonien, den großkotzigen Kaiser und seine wahnwitzigen Flottenpläne. Heute stehen sie am Tresen und wollen morden, dachte Zacharias. Der Krieg hat den Leuten den Anstand geraubt. Es tötet sich leichter nach dem großen Sterben im Graben. Ein Menschenleben ist weniger wert als früher. Auch du hast Leute getötet, viele. Du bist nicht anders als die Männer am Tresen. Du hast alles für die Revolution getan, damit die Bolschewiki an der Macht bleiben. Menschen töten, damit andere Menschen an die Macht kommen und an der Macht bleiben. Ebert lässt auf Arbeiter schießen. Es ist eine Klassenfrage, entweder die oder wir. Du darfst dich nicht verwirren lassen, dass auch Arbeiter fehlgeleitet sind, dass sie noch zu Arbeiterfeinden halten und Spartakisten töten wollen. Das ist nur die Oberfläche. Das Eigentliche liegt darunter. Das ist der Kampf der Klassen, der nie in Reinform ausgetragen wird.
Es war wie immer, einen Augenblick gelang es ihm, sich selbst zu überzeugen, aber bald meldeten sich wieder die schrecklichen Bilder und mit ihnen die Zweifel. Nur wer nichts tut, macht keine Fehler, sagte er sich. Aber es beruhigte ihn nicht. Wie wird es sein, wenn in Deutschland die Revolution siegte? Würden sie auch töten müssen? Gewiss, entweder die oder wir, das galt auch hier. Und solche Leute, wie sie am Tresen stehen? Wenn sie dann nicht für uns sind, sind sie gegen uns.
Er schaute die Männer an, die ihm den Rücken zuwandten. Sie schimpften auf die Regierung und die Arbeitslosigkeit. »Aber besser Ebert als die polnische Judenhure.« Über dem Tresen an der Wand standen Pokale vor Wandtellern aus Zinn.
Die Tür öffnete sich, kalte Luft strömte in den Raum. Ein Mann schlug in die Hände. Die Männer am Tresen begrüßten ihn lautstark. »Na, hat die Alte dich doch laufen lassen?« Der Mann lachte. Er warf einen Blick zu Zacharias, dann wandte er sich ab.
Zacharias hob die Hand, als der Wirt in seine Richtung blickte. Der Wirt kam, und Zacharias bezahlte. Grußlos verließ er die Kneipe. Die Erfahrung mit diesen Männern bedrückte ihn. Aber gewiss waren andere anders. Es war nicht denkbar, dass es keine klassenbewussten Arbeiter mehr geben sollte. In Berlin, früher Zentrum der weltweiten Arbeiterbewegung.
Bedrückt lief er zurück nach Hause. Die schwarzen Gedanken hinderten ihn lange Stunden zu schlafen.
*
Zerschlagen wachte er am Morgen auf. Die Mutter war schon gegangen. Er hatte das Schlurfen ihrer Schritte noch im Ohr. Mittags klopfte es an der Wohnungstür, er ließ Sonja herein. Sie war gekleidet wie eine bürgerliche Dame, ein schwarzer Hut mit breiter Krempe verdeckte die Augen. Er gestand sich ein, die Kleidung stand ihr gut.
»Nun werden sich die lieben Nachbarn fragen, was es mit diesem Damenbesuch auf sich hat.« Sie lachte. »Sollen sie rätseln. Wir werden heute Radek besuchen, dann Jogiches. Wenn alles gut geht, bringt Jogiches uns zur Genossin Luxemburg. Heute also ist der Tag mit den Berühmtheiten der Weltrevolution. Das können Sie später Ihren Kindern berichten, wenn am 1. Mai die Arbeiter der Sowjethauptstadt Berlin an den Führern der Internationale vorbeidefilieren. Lenin, Trotzki, Liebknecht und Luxemburg werden auf dem Podium am Brandenburger Tor stehen und winken. Die kenne ich persönlich, erzählen Sie dann. Und die Kinder werden es kaum glauben und dann mit stolzgeschwellter Brust im sozialistischen Kindergarten mit ihrem Papa angeben.« Der Hut wippte heftig, als sie lachte. »Nun schauen Sie nicht so finster.«
Warum sollte er ihr von seinen Nöten berichten? Ich bin wahrscheinlich der einzige, den das Gewissen plagt, obwohl doch alles richtig ist, was wir tun.
»Haben Sie einen vernünftigen Anzug oder wenigstens einen besseren Mantel?«
Er blickte sie neugierig an.
»Wir fahren ins Hotel Adlon, da gibt es nur feine Herrschaften. Und dort trinkt heute nachmittag der Genosse Radek Tee. Wir sind eingeladen.«
»In der Zeitung steht, auf seinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt.«
»Ja, von einem Klub mit dem hübschen Namen Vereinigung zur Bekämpfung des Bolschewismus. Die glauben, Radek sei der Kopf einer Verschwörung mit dem Ziel, Sowjetdeutschland zu gründen. Wenn es doch nur so einfach wäre.«
Wie kann man so fröhlich sein angesichts der Verfolgung und der Morde an so vielen Genossen? Zacharias staunte über Sonja. Vielleicht war es ihre Tarnung. Wenn ja, dann war die Tarnung gut. Wer würde in einer etwas exaltierten Dame einen Kurier der KPD vermuten? Sie spielte mit den Vorurteilen der bürgerlichen Welt. Und es schien ihr Spaß zu bereiten.
Zacharias ging in sein Zimmer und fand im Kleiderschrank weder einen Anzug noch einen Mantel. Da lagen und hingen Hosen, Hemden und Pullover aus der Vorkriegszeit. Er hatte die Kleidung bisher kaum beachtet. Er überlegte kurz, dann ging er ins Schlafzimmer der Mutter. Es war nichts verändert. Das Doppelbett mit zwei Kissen und zwei Decken, zwei Nachttische, gegenüber dem Fußende des Betts der große Kleiderschrank, in dem die Mutter auch die Bettwäsche aufbewahrte. Zacharias zögerte, dann öffnete er den Kleiderschrank. Er sah den Anzug gleich. Er war schwarz und sauber. Der Vater hatte ihn geerbt von seinem Bruder, den die Kinder Onkel Eduard nannten und der durch Heirat zu einem kleinen Vermögen gekommen war. Das half ihm wenig, er starb mit zweiundvierzig Jahren an Lungenkrebs. Der Vater hatte den Anzug vielleicht zwei- oder dreimal getragen.
Zacharias hielt sich den Anzug an, er schien zu passen. Er fand im Schrank einen weißen Kragen, eine Krawatte und schwarze Schuhe. Er nahm die Kleidung mit in sein Zimmer und zog sich um. Die Schuhe drückten. Als er in die Küche kam, klatschte Sonja leise Beifall. »Kleider machen Leute. So nehme ich Sie mit«, sagte sie.
Sie fuhren mit der Stadtbahn zur Friedrichstraße, den Rest des Wegs gingen sie zu Fuß. »Standesgemäß wäre jetzt natürlich eine Droschke«, sagte Sonja. »Na ja, nach der Revolution, man muss warten können.«
Sie betraten durch die große Drehtür das Adlon, Sonja hakte sich bei Zacharias ein und führte ihn im Empfangssaal umher, bis sie flüsterte: »Da ist er.«
Jetzt sah ihn auch Zacharias. Unter dem Berliner Lokal-Anzeiger schauten Hosenbeine hervor, die viel zu weit und viel zu lang waren. Eine Qualmwolke nebelte Radek ein. Zacharias erinnerte sich an Radeks Auftritt im Smolny, wo der sich immer wieder die Hose hochgezogen hatte, während er über die Gegner herfiel. Radek mochte einem lächerlich erscheinen, aber Zacharias wusste, er war mit allen Wassern gewaschen. Und vor allem war er Lenins Mann in Berlin.
Radek linste über den Rand des Lokal-Anzeigers. Er hatte sich bemüht, seine Locken zu bändigen, und war sogar rasiert. Und doch schien es Zacharias, dass Radek sein Aussehen nicht verändern konnte, sosehr er es auch versuchte. Radek stand auf und gab Sonja die Hand, er deutete einen Handkuss an. Dann musterte er Zacharias, lächelte kurz und sagte: »Ich habe ein Nebenzimmer gebucht. Gehen wir dorthin.«
Sie folgten ihm in ein Zimmer, in dem ein Tisch mit fünf Stühlen stand, an der Wand eine Kommode, darauf eine Karaffe mit Wasser und einige Gläser. Darüber hing das Porträt des Kronprinzen. Radek deutete grinsend darauf und sagte: »Da hängt er nun.«
Zacharias musste lachen, aber eher, um seine Anspannung zu lösen. Sonja zeigte keine Regung. Radek schaute Zacharias an durch dicke Brillengläser, die seine Pupillen starren ließen. Eine Haarlocke fiel ihm in die Stirn. Er zeigte auf die Stühle, und sie setzten sich.
»Sie haben mit Wladimir Iljitsch gesprochen, er hat Ihnen Ihren Auftrag genannt. Meine Aufgabe ist es, Sie kurz einzuweisen in die Lage und unsere Ziele. Sie können sich künftig, wenn Sie Rat brauchen, jederzeit an mich wenden. Fragen Sie die Genossin Sonja, sie weiß, wo ich mich aufhalte.«
Zacharias erinnerte sich an Lenins Worte, Weisungen erhalte er nur von Dserschinski. Er fürchtete, dass Radek sich nicht darum scheren würde. Und konnte Zacharias dann einfach nein sagen? Radek war nicht irgendwer.
»Unsere Aufgabe ist klar: Wir müssen die Macht erobern. Allerdings ist die Partei, deren Daseinszweck das ist, ein Trümmerhaufen.«
Sonja schnaufte.
»Doch, doch«, sagte Radek. »Dieser Aufstand letzten Monat, das waren zwar nicht die Kommunisten, obwohl alle es behaupten. Aber Liebknecht ist aus dem Ruder gelaufen, hat ein Revolutionskomitee gegründet, hat auf die Beschlüsse der Partei gepfiffen. Und wenn die Arbeiter auf die Straße gehen, wenn sie sich bewaffnen, dann dürfen natürlich die Kommunisten nicht dozieren: Es ist zu früh, wir sind zu wenige, es ist nichts geplant, der Feind ist zu stark. Nein, dann müssen wir die Niederlage zu einer Lehrstunde machen. Die Niederlage haben wir uns redlich erkämpft, aber eine Lehrstunde war es nicht. Die Partei ist verboten, ihre Presse sowieso. Und wenn die Arbeiter nicht die Rote Fahne lesen können, was sollen sie dann lernen? Nichts.«
Radek stand auf und ging ein paar Schritte. Draußen knatterte ein Automobil vorbei, die Doppelfenster dämpften den Krach. »Vielleicht ist das gut so, dass die Rote Fahne nur illegal und sporadisch erscheint. Seit es sie gibt, kennt sie nur die höchsten Töne. Immer am Anschlag, ohne Möglichkeit, sich noch zu steigern. Wie sagte die Genossin Luxemburg?« Er kratzte sich am Kopf. »Das Proletariat piepst nicht, es brüllt.« Er kratzte sich wieder am Kopf. »Das Proletariat piepst nicht.« Er lachte. »Wenn es denn nur das Proletariat wäre. Ach, die Genossin Luxemburg …« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Es gibt kaum eine klügere Genossin als unsere Rosa. Aber leider auch keine schwierigere. Das ist das Privileg der Außergewöhnlichen. Wir armen Erdenbürger müssen uns damit abfinden.« Er grinste. »Sie kennen die Genossin Luxemburg.«
»Sie war meine Lehrerin.«
»In gewisser Hinsicht ist sie unser aller Lehrerin. Und sie hat für uns im Gefängnis gesessen.«
Zacharias lachte kurz, während er sich Rosa mit geschultertem Kreuz vorstellte.
»Doch, doch«, sagte Radek mit hartem Akzent. Er zündete eine Zigarette an. »In Berlin verfügt die Kommunistische Partei gerade über eine Handvoll Mitglieder, sagen wir dreißig oder vierzig.« Er schaute Sonja an.
Die sagte: »Vielleicht fünfzig.«
»Meinetwegen. Und der Genosse Friesland soll unseren Bezirksverband hier aufbauen. Selbst bei seinen unbestritten großen Fähigkeiten wird das seine Zeit dauern. Die revolutionäre Sozialdemokratie Bebels hatte Hunderttausende von Mitgliedern und Millionen von Wählern. Und doch hat es nicht gereicht. Als die Macht auf der Straße lag, hat Ebert sie der Bourgeoisie geschenkt. Die Bolschewiki waren immerhin ein paar zehntausend, vor allem aber waren sie straff organisiert, eine Kampfpartei. Und was ist Spartakus? Ein Haufen von Krakeelern mit einer genialen Führung. Auf dem Parteitag am Jahreswechsel haben sich die Ultraradikalen durchgesetzt, Leute, die in den letzten Monaten zur Bewegung gestoßen sind und jetzt alles kurz und klein schlagen wollen. Die geniale Führung hat es nicht einmal verstanden, die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung durchzusetzen.« Er kratzte sich am Kopf, setzte die Brille ab, seine Augen schweiften in die Ferne. »Vielleicht war das gut so.«
Er setzte die Brille wieder auf. »Hätten wir uns beteiligt, wir hätten kein Prozent der Stimmen gekriegt. Auf dem Rätekongress im Dezember, da durften Liebknecht und Luxemburg nicht mal als Gäste reden. Aber dann mit ein paar Wirrköpfen ein Revolutionskomitee gründen, weil ein paar Arbeiter auf die Straße gehen. Unter uns, Genosse Zacharias, Liebknecht ist ein schwieriger Fall. Fühlt sich als der deutsche Lenin. Entscheidet einfach, was zu tun ist, berät sich bestenfalls mit der Genossin Luxemburg, auf andere hört er nicht. Er braust auf, wenn jemand widerspricht. Ich hatte einige unerfreuliche Begegnungen mit ihm. Sie haben es erlebt, Wladimir Iljitsch wird nicht geliebt, weil er ein Genie ist. Dafür bewundern ihn die Proletarier. Geliebt wird er, weil er zuhört, weil er sich nicht für unfehlbar hält, weil er Fehler zugibt. Sogar solche, die andere machen. Wladimir Iljitsch unterwirft sich selbstverständlich der Mehrheit des Zentralkomitees, wenn er sich nicht durchsetzen kann, auch wenn er sicher ist, im Recht zu sein. Denken Sie an den Streit um den Brester Vertrag.« Er schnaufte. »Aber Liebknecht, das ist ein Albtraum. Der beschließt, was zu tun ist, da kann die eigene Partei sagen, was sie will. Das ist ein selbstverliebter Anarchist. Von Marx hat er auch keine Ahnung. Liebknecht wollte im Gefängnis unsere Geschichtsauffassung neu erfinden, man stelle sich das nur vor!«
Zacharias schaute Sonja an. Sie hörte zu, schien Radeks Vorlesung zu genießen. »Mein Auftrag ist Ihnen bekannt, Genosse Radek?«
Radek schaute ihn erstaunt an. Er wollte etwas erwidern, aber dann sagte er doch nichts. Nur: »Natürlich.« Er ging fünf Schritte zwischen Fenster und Tisch, immer hin und her. »Und mein Auftrag ist es, Ihnen die Lage zu schildern. Ich habe die Genossen Spartakisten immer wieder gewarnt, die Wirklichkeit nicht zu verlassen. Aber sie schweben irgendwo im Himmel. Reden von einem revolutionären Proletariat, das es nicht gibt. Die Massen folgen nicht uns, sondern Ebert, wenigstens in ihrer Mehrheit. Eine starke Minderheit folgt den Unabhängigen. Mag sein, dass die USPD stärker wird, je deutlicher der Verrat der Mehrheitssozialdemokratie sich zeigt. Aber machen Sie mit Haase, Dittmann und Genossen mal eine Revolution. Das ist lächerlich. In ihren Phrasen sind sie die größten Revolutionäre, aber sie tun nichts. Wenn es uns gelänge, die Unabhängigen mitzureißen, dann sähe die Lage anders aus. Dann könnten wir die Anhänger von der Führung trennen. Ich glaube aber, Liebknecht und Luxemburg finden es viel revolutionärer, die Unabhängigen als Waschlappen zu verprügeln. Und der Genosse Friesland gewiss auch.« Er starrte Sonja durch seine dicken Brillengläser an.
Sie nickte.
»Sie müssen zu Jogiches, um Kontakt mit Rosa zu bekommen. Seit diese Bürgerwehr sie verhaftet hat, sieht sie wenigstens ein, dass sie zur Zeit abgeschirmt werden muss. Nur Jogiches und Pieck wissen, wo sie ist. Pieck ist ein junger Genosse, der es noch weit bringen wird. Wenn er überlebt. Ein Organisationstalent. Ist ein Schüler des Genossen Jogiches. Jogiches ist ein Revolutionär der alten russischen Schule. Arbeitet konspirativ. War früher Rosas Lehrer und ein bisschen mehr. Heute ist er der Organisator des Spartakusbunds, tritt aber nie an die Öffentlichkeit. Kommt aus Litauen, hat im zaristischen Gefängnis gesessen und hasst den Genossen Radek.« Er grinste. »Das kann man sich ja nicht vorstellen, dass einer den Genossen Radek nicht liebt. Nicht wahr, Sonja?«
Sonja lachte kurz auf.
»Er versucht, mir alte Geschichten anzuhängen, die heute so unwahr sind, wie sie es immer waren. Ein Revolutionär steht über solchen Dingen.« Er reckte sein Kreuz gerade und kicherte. »Leider hat Lenin ausgerechnet mich hierher geschickt. Ausgerechnet den Radek, so ein Pech.« Er lachte, es steckte Genugtuung darin. »Der Genosse Radek vertritt den ersten sozialistischen Staat der Welt, so ist das nun mal. Und der Genosse Radek, das ist niemand anderes als ich.« Er lachte.
»Ich habe die Genossen Luxemburg und Jogiches unterstützt auf ihrem Gründungsparteitag vor ein paar Wochen. Und als Jogiches die Flinte ins Korn werfen wollte, weil die Mehrheit gegen die Beteiligung an der Wahl zur Nationalversammlung war, da hab ich ihn beruhigt. Das sind Kinderkrankheiten. Besser revolutionäre Kinderkrankheiten als der gereifte Opportunismus der Scheidemänner. Aber gedankt hat mir die Hilfe niemand. Ich muss ja froh sein, dass sie nicht über mich herfallen. Ich bin Pole, Luxemburg ist Polin, und Jogiches gehört ja irgendwie auch dazu. Und wir kommen aus jüdischen Häusern. Und schlagen uns die Köppe ein, wie der Berliner sagt.«
Radek setzte sich hin und zündete sich eine weitere Zigarette an. Das Nikotin hatte ihm die Zähne gebräunt. »Warum erzähle ich Ihnen das?«
Zacharias antwortete nicht.
Radek stierte auf das Bild des Kronprinzen. »Weil es verrückt ist, aber auch wichtig. Sie werden früher oder später in diese lächerlichen Streitereien hineingezogen, wenn es Ihnen gelingt, Ihren Auftrag zu erfüllen. Je näher Sie der Genossin Luxemburg sind, desto mehr verwickeln Sie sich in diesen Unsinn. Erst der Sturm der Revolution wird alles wegblasen, die Eifersüchteleien, die Gehässigkeiten, das Getratsche, die Kränkungen.«
Nun sah Zacharias, wie erschöpft Radek war. An Lenins Mann in Berlin hing viel. Wenn die Revolution in Deutschland der russischen nicht half, dann war Radek schuld, jedenfalls in den Augen führender Bolschewiki wie Sinowjew und seines Freundes Kamenew. Wenn die deutsche Partei sich in eine weitere Niederlage putschte, dann war Radek schuld, auch wenn er davor gewarnt hatte. Sollte die deutsche Partei aber siegen, dann lag das Verdienst in Moskau.
Als hätte Radek Zacharias’ Gedanken gelesen, sagte er: »Der Genosse Sinowjew wird demnächst eine große Rolle spielen. Sie wissen, wir gründen die neue Kommunistische Internationale, und der großartige Grigori Jewsejewitsch wird ihr Leiter sein. Darauf würde ich jedenfalls Jogiches’ unversiegbares Vermögen setzen.« Er kicherte. »Lenin ist ohnehin zu stark belastet, und seine Gesundheit, Sie wissen ja. Trotzki ist unser oberster Kriegsherr, Dserschinski wacht über unsere Sicherheit, Swerdlow ist Lenins rechte Hand und muss es bleiben, Bucharin ist zu jung und wäre ein großartiger Chefredakteur, wenn er sich die ultralinken Flausen abgewöhnen könnte. Über diesen stumpfen Schweiger mit dem kindischen Namen Stalin müssen wir nicht reden. Also Sinowjew. Wenn es nach dem gegangen wäre, gäbe es keine Revolution. Er hat im Zentralkomitee dagegen gestimmt, er hat sowieso viel zu oft gegen Lenin gestimmt. Warum …« Er vollendete den Gedanken nicht.
Warum vertraute Lenin Sinowjew die neue Internationale an, der sich alle revolutionären Parteien unterordnen sollten? dachte Zacharias. Das war es, was Radek nicht begriff. Die Internationale war die Weltpartei, und Sinowjew würde ihr Führer sein.
»Wir sollten öfter miteinander reden. Sie erfahren Neues aus der Heimat und über die deutsche Partei. Das kann Ihnen helfen bei Ihrem Auftrag. Sie müssen ja nicht den Genossen Emissären aus Moskau auf die Nase binden, dass wir, sagen wir mal, kooperieren.«
Zacharias stutzte. Er überlegte, was Radek bezweckte. Er wollte Zacharias beeinflussen, dirigieren für die eigenen Ziele, die er mit der deutschen Partei hatte. Mit seiner Offenheit wollte Radek Zacharias’ Vertrauen gewinnen. Ich schenke dir Vertrauen und berichte aus dem bolschewistischen Nähkästchen, dafür schenkst du mir Vertrauen und berichtest mir, was du erfährst. Nicht umsonst hatte Lenin Zacharias gewarnt, nur auf Dserschinskis Weisungen zu hören. Aber was konnte es schaden, mit Radek zu sprechen? Zacharias musste selbst herausfinden, wie er seinen Auftrag am besten erfüllen konnte.
Sonja schaute vom einen auf den anderen. Vielleicht erschrak sie über Radeks Offenheit. Aber dann ließ sie es sich nicht anmerken.
»Gerne«, sagte Zacharias. »Wir müssen nur zusehen, wie wir in Kontakt bleiben. Ich werde bald abtauchen müssen. Und Sie leben auch gefährlich.«
Radek nickte. »Sie werden noch heute nachmittag mit Jogiches zusammenkommen. Sagen Sie ihm, Sie hätten mit mir gesprochen, er erfährt es doch.«
Sonja wollte etwas einwerfen, aber sie schüttelte nur den Kopf. Ihre Wangen röteten sich leicht.
»Sagen Sie ihm, ich wäre ein hässlicher Zwerg mit noch hässlicheren Gedanken, der aus der Geschichte der Revolution schleunigst getilgt werden müsse. Aus unerfindlichen Gründen aber habe Lenin mich beauftragt, den deutschen Genossen alle mögliche Hilfe anzubieten: Ideen, Geld, Waffen und demnächst hoffentlich ein paar Divisionen der Roten Armee. Wenn Sie kräftig über mich schimpfen, Genosse Zacharias, werden Sie das Herz von Leo Jogiches gewinnen. Und wenn Sie dessen Herz gewonnen haben, dann haben Sie fast auch schon das Herz der Genossin Luxemburg erobert.« Er lachte laut. »Wussten Sie, dass Jogiches Lenin die Führung der Bolschewiki abkaufen wollte, damals, als wir in Zürich in der Emigration saßen? Stellen Sie sich vor, Lenin hätte sich drauf eingelassen!« Er lachte schrill.
An der Tür klopfte es, dann öffnete sie sich. Ein Hotelbediensteter fragte, ob sie etwas bestellen wollten. »Bringen Sie russischen Wodka, wenn Sie so etwas haben«, sagte Radek.
Der Kellner nickte würdig und ging.
Zacharias schaute Radek streng an. Der lachte. »Sie finden mich leichtsinnig, nicht wahr?«
Zacharias nickte.
»Das ist meine Art der Konspiration. Hin und wieder Dinge tun, die einer im Untergrund nicht tut. Wenn man sich nur so verhält wie ein Konspirativer, wird man früher oder später für einen Konspirativen gehalten. Dass ein Bolschewik im Adlon russischen Wodka bestellt, das glaubt nicht einmal ein deutscher Kriminalkommissar.«
Die Tür öffnete sich wieder, und der Kellner erschien. Er trug ein Tablett mit einer Flasche und drei Schnapsgläsern. Er stellte vor jeden ein Glas und goss dann ein.
»Die Flasche lassen Sie bitte auf dem Tisch stehen«, sagte Radek.
Der Kellner verzog keine Miene. »Natürlich, mein Herr«, sagte er und verließ den Raum.
»Auf die Weltrevolution!« sagte Radek. »Und auf die deutsche, die die zweite Etappe sein wird.« Er trank das Glas in einem Zug aus. Zacharias tat es ihm nach, Sonja nippte.
Die Tür wurde aufgestoßen. Es waren ein Zivilist und vier Schupos. Sie richteten Pistolen auf die drei. Zacharias ließ das Glas fallen vor Schreck. Der dicke Teppich verhinderte, dass es zerbrach. Zacharias schaute den Zivilisten an, der war klein und fett, und er grinste.
»Guten Tag, die Dame und die Herren!« Lohmeier lachte. »Das ist ja eine nette Runde.« Er nahm die Flasche in die Hand und betrachtete das Etikett. »Fein, fein. Wenn ihr nicht Leute umbringt, sauft ihr. So ein Bolschewist hat ein einfaches, schönes Leben. Saufen oder morden.«
Zacharias überlegte, ob Lohmeier ihm und Sonja gefolgt sein konnte.
»Wenn Sie fertig sind mit Ihren klugen Überlegungen, Herr Kommissar, dann würde ich Ihnen vorschlagen, Sie beschäftigen sich einmal mit der Tatsache, dass Sie hier einen bevollmächtigten Vertreter der russischen Regierung vor sich haben, der in Kürze Kontakt mit Ihrer Regierung aufnehmen wird. Sie können natürlich versuchen, ein bisschen Geschichte zu spielen. Ich weiß nur nicht, ob das Ihrer Laufbahn bekommen wird.« Radek war die Ruhe selbst. Es schien, er hatte sich auf eine solche Lage vorbereitet. Tatsächlich hörte der Kommissar auf zu grinsen.
»Und diese Dame und diesen Herrn habe ich zufällig getroffen. Für die bin ich ein finnischer Pelzhändler. Wir kamen ins Gespräch, und dann habe ich sie auf einen Wodka eingeladen. Ist das verboten im Deutschen Reich unter der Regierung der Sozialdemokraten?«
Lohmeier schaute ihn böse an. Aber dann zeigte sich Entschlossenheit in seinem Gesicht. »Abführen!« Darin schwang Triumph.
Sie legten den Gefangenen Handschellen an. Bevor sie die Drehtür erreichten, stellte sich der Kellner in den Weg. »Die Herrschaften haben noch nicht bezahlt.«
Lohmeier schnaubte. Er ließ Radek die Handschellen abnehmen. Der zückte eine Brieftasche und gab dem Kellner einen Zwanzigmarkschein. »Stimmt so.« Der Kellner wollte etwas sagen, ließ es dann aber. Es war viel zu viel Geld. Sie legten Radek die Handschellen wieder an.
Vor der Tür wartete eine Grüne Minna. Die Gefangenen wurden hineingeführt, drei Schupos setzten sich zwischen sie. »Keinen Mucks!« sagte einer.
Der Wagen fuhr an. Es waren nur wenige Minuten bis zum Polizeipräsidium. Sie wurden in den Keller geführt und einzeln in Zellen eingeschlossen. Vorher tippte der Kommissar Zacharias auf die Schulter. »Wieder reiner Zufall, nicht wahr?« Dann lachte er hämisch. »Wir kriegen euch alle.«
Es musste der Ton des Lachens gewesen sein, Zacharias spürte plötzlich Angst. Und wenn einer in die Zelle kam und ihn tötete? Auf der Flucht erschossen? Da gab es viele in dieser Zeit. Wenn ein Soldat oder Polizist hinter einem stand und man Spartakist war, hatte man schnell eine Kugel im Rücken. Und der Staatsanwalt freute sich, Angeklagter tot, Akte geschlossen.
Zacharias schaute sich um. Die Zelle war ockerfarben gestrichen, da stand eine Pritsche mit einer grauen Decke darauf. An der anderen Wand ein Tisch und ein Stuhl. In der Ecke neben der Tür ein Kübel mit Deckel. Das vergitterte Fenster führte auf den Innenhof, es war jedenfalls kein Verkehrslärm zu hören. Das Fenster war dicht unter der Decke, wenn er sich auf den Stuhl stellte, konnte er hinausschauen. Aber er setzte sich auf den Stuhl und versuchte sich zu beruhigen. Tausende von Revolutionären waren schon verhaftet worden, und sie hatten die Nerven behalten. Du musst dich dem Schicksal stellen. Er war froh, dass Lohmeier diesen Augenblick der Schwäche nicht nutzte. Zacharias empfand es als seinen ersten Sieg gegen den Staat, als er merkte, wie die Unruhe nachließ. Du darfst keine Schwäche zeigen, keine Angst, auch wenn du dir fast in die Hose machst. Er betrachtete seine Hände. Hör auf zu zittern, hör auf.
Auf dem Gang Schritte. Eine andere Tür wurde geöffnet, erst klackte das Schloss, dann quietschte der Riegel. Zacharias hörte gedämpft Stimmen. Ob sie Radek holten? Oder Sonja? Die Schritte entfernten sich. Zacharias versuchte seine Gedanken zu ordnen. Was können sie dir vorwerfen? Nichts. Halte dich an Radeks Sprachregelung, auch Sonja weiß, was sie zu sagen hat. Das ist zwar nicht sonderlich glaubwürdig, aber auch nicht zu widerlegen.
Wieder Schritte, dann drehte sich ein Schlüssel im Schloss, der Riegel ratschte, die Tür öffnete sich. Ein Schupo kam herein. »Hände vor!«
Zacharias streckte die Hände vor. Der Schupo legte ihm Handschellen an.
»Mitkommen!« Der Schupo griff Zacharias am Arm und führte ihn die Treppen hoch. Im Erdgeschoss gingen sie einen langen Flur entlang, bis der Schupo vor einer Tür hielt. Er klopfte, es tönte: »Herein!« Der Schupo öffnete die Tür und schob Zacharias in das Zimmer. Zigarettenrauch schlug ihm entgegen.
Lohmeier saß hinter einem mächtigen Schreibtisch und las in einer Akte. Ohne den Kopf zu heben, befahl er: »Setzen!« Der Schupo drückte Zacharias in den Stuhl vor dem Schreibtisch. Dann stellte er sich an die Tür. Lohmeier las weiter, dann legte er die Akte weg und schaute Zacharias kalt an. »Sie sind also der Genosse Zacharias!«
»Ich bin Herr Zacharias.«
Lohmeier grinste kurz. »Genossen sind keine Herren. Schon gar nicht solche, die aus Russland kommen, um den Bolschewismus auch hier an die Macht zu bringen. Hunger, Mord und Totschlag, das wollen Sie.«
»Ich war in Russland in Kriegsgefangenschaft.«
»Und wann sind Sie zurückgekommen in die Heimat?«
»Vor drei Wochen etwa.«
»Vor drei Wochen etwa!« Lohmeier tat erstaunt.
Zacharias überlegte, ob er besser gelogen hätte. Aber die Grenzer hatten seine Einreise gewiss notiert. Nein, lieber so lange, wie es möglich war, bei der Wahrheit bleiben. Keine Widersprüche. Zacharias nickte.
»Wissen Sie, wie lange der Krieg zu Ende ist? Heute ist der 12. Februar 1919, rechnen Sie mal.«
»Die haben vergessen, das Kriegsgefangenenlager aufzulösen. Oder sie haben es nicht vergessen. Jedenfalls mussten wir arbeiten.«
»Das ist doch Quatsch. Deine Bolschewistenfreunde haben sich im Brester Vertrag verpflichtet, die Kriegsgefangenen zu entlassen. Dieser Vertrag wurde im März 1918 unterzeichnet. Du hast dich fast ein Jahr in Russland rumgetrieben. Du hast deine vaterländische Pflicht vernachlässigt. Du hättest heimkommen müssen, um an der Westfront zu kämpfen. Selbst wenn wir einrechnen, dass du dazu zu feige warst, spätestens nach dem Waffenstillstand im Westen hättest du hier auftauchen müssen. Kriegsgefangenenlager! Vergessen aufzulösen! Ich lach mich tot.«
»Sie sollten mir besser mitteilen, was Sie mir vorwerfen. Wodka trinken im Adlon. Ist das inzwischen eine Straftat?«
»Sie Schlaumeier.« Lohmeier stand auf, ging um den Schreibtisch herum und näherte sich Zacharias von der Seite. Zacharias roch seinen stinkenden Atem. »Halt mich nicht für blöd«, zischte Lohmeier. Er trat ein Stück zurück und schlug Zacharias ansatzlos ins Gesicht.
Der Schlag überraschte Zacharias nicht, es brannte an der Schläfe. Etwas in ihm sagte: Bleib sitzen! Nicht zurückschlagen. Keine Reaktion zeigen. Beim letzten Mal hast du dich auch nicht provozieren lassen.
Es fielen ihm die Menschen ein, die er verfolgt und geschlagen hatte. Aber das war etwas anderes, oder nicht? Es war eine Klassenfrage. Wenn ein Bolschewik einen Feind schlug, mochte es richtig sein. Wenn ein Bolschewik geschlagen wurde, dann war es falsch. Bist du für die Revolution, oder bist du gegen Revolution? Das war nicht gleichwertig, sondern der Unterschied zwischen Mensch und Abschaum. Menschen darf man nicht schlagen, Abschaum muss man vernichten. Richtig ist, was dem Proletariat nutzt, falsch ist, was ihm schadet.
»Was hast du mit diesem Bolschewistenanführer im Adlon besprochen?«
»Seit wann duzen wir uns?«
Lohmeier lachte. »Seit wann legt ihr Wert auf Manieren? Ihr seid Dreck. Solltet froh sein, dass überhaupt ein anständiger Deutscher mit euch redet. Auch wenn es nur im Verhör ist.«
»Sie haben gar keine Angst?« fragte Zacharias.
Die Frage überraschte Lohmeier. Er sagte nichts, schaute Zacharias böse an.
»Stellen Sie sich vor, die Bolschewisten kommen an die Macht. Wenn ich wäre, was Sie glauben, dann hätten Sie nicht mehr lange zu leben.«
»Willst du mir drohen?«
»Nein, ich bin ja kein Bolschewist.«
»Du bist ein dreckiger Lügner.«
»Sie beleidigen einen Kriegsteilnehmer. Wo waren Sie denn, als das Vaterland rief?« Zacharias fühlte sich nun sicherer. Dieser Kommissar war zu aggressiv, er begann die Kontrolle über das Verhör zu verlieren. Gegen einen Tschekisten kommst du nicht an.
Der Kommissar lehnte sich zurück auf seinem Stuhl. »Sie waren bei Retzlaw und nun bei Radek-Sobelsohn, diesem Stück Mist aus der jüdischen Jauchegrube.«
»Dass ich nicht bei diesem Rutzlow war, sagte ich Ihnen bereits. Es lässt sich sogar beweisen, wenn Sie sich denn die Mühe machten. Und was den Herrn im Adlon betrifft, er hat nicht unangenehm gerochen. Und über Religion konnten wir nicht sprechen. Sie haben uns ja unterbrochen, Herr Kommissar. Wie hieß dieser Herr noch?«
»Diese Dame in Ihrer Begleitung hat es längst zugegeben.«
»Was?«
»Die Wahrheit.«
»Dann ist es ja gut«, sagte Zacharias. »Dann kann ich ja gehen.« Er tat so, als wollte er aufstehen.
»Sitzenbleiben!« brüllte Lohmeier. »Die Dame hat gestanden, dass Radek und Sie ein Komplott planen gegen die deutsche Regierung.«
Zacharias überlegte. Er spürte, wie er immer ruhiger wurde. Dieser Wicht konnte ihn nicht beeindrucken. »Gegen die Reichsregierung? Gegen die ganze Welt, mindestens, mit Kleinigkeiten beschäftige ich mich gar nicht erst.«
Lohmeier schaute ihn wütend an. »Sie wollen mich wohl verarschen!«
»Jetzt habe ich ein Geständnis abgelegt, und es ist Ihnen auch nicht recht. Sagen Sie, was Sie hören wollen.«
Die Tür ging auf. Ein großer, hagerer Mann trat ein. Lohmeier sprang auf. »Herr Kriminalpolizeirat!«
»Machen Sie weiter!« sagte der Mann. Er nahm sich einen der Stühle, die an der Wand standen, und setzte sich an die Seite von Lohmeiers Schreibtisch, so dass er beide im Auge hatte.
»Sie sollten jetzt gestehen, dass Sie sich mit diesem Radek-Sobelsohn gegen die Reichsregierung verschworen haben. Das ist Hochverrat! Alle Beweise sprechen gegen Sie!«
Es war eine erbärmliche Inszenierung. »Würden Sie mir wohl freundlicherweise nur einen Ihrer Beweise nennen.« Zacharias mühte sich, höflich zu sein.
»Ich habe Sie in flagranti mit dem weltweit bekannten Bolschewistenführer Radek-Sobelsohn ertappt. Sie hatten sich in einem Besprechungszimmer des Adlon versteckt, um ungestört Ihre hochverräterischen Pläne zu schmieden.«
Es klang lächerlich. Zacharias ahnte, Lohmeier setzte sich weniger mit ihm auseinander als mit dem Kriminalpolizeirat, der auf seinem Stuhl saß und sie beobachtete, ohne eine Miene zu verziehen.
»Haben Sie für diesen schrecklichen Vorwurf einen einzigen Beweis? Ein Dokument vielleicht? Ein Lauschprotokoll? Sie haben doch bestimmt Ihr Ohr an die Tür gedrückt, um zu erfahren, was wir zu besprechen hatten.«
»Mir genügt, dass ich Sie zusammen überrascht habe.«
Zacharias freute sich. Der Mann hatte im Übereifer zugegriffen, ohne zu versuchen, sie zu belauschen. Dann wäre es eng geworden. Zacharias wusste, so viel Glück würde er nie mehr haben. Er schielte zum Kriminalpolizeirat und glaubte, Zorn in dessen Augen zu lesen, auch wenn die Mimik nichts verriet. Der Kriminalpolizeirat setzte seine Brille ab, wischte sich über die Augen und setzte die Brille wieder auf. Lohmeiers Blicke folgten jeder Bewegung. Was für ein Würstchen!
»Und wenn Sie für uns arbeiten«, sagte der Kriminalpolizeirat. Er hatte eine tiefe, ruhige Stimme. »Gegen gute Bezahlung natürlich. Sie könnten dem Vaterland einen Dienst erweisen. Schlimmer noch als die Niederlage im Krieg wäre ein Sieg der Bolschewisten. Die Niederlage kann man auswetzen, eine Revolution eher nicht. Sie würde unsere Zivilisation zerstören und mehr Not über unser Volk bringen als der Krieg. Sie waren doch in Russland, Sie wissen es besser als ich.«
Zacharias überlegte. Dann sagte er: »Was könnte ich Ihnen nutzen? Ich versuche schon die ganze Zeit, dem Kommissar zu erklären, dass ich kein Spartakist oder Bolschewist bin. Ich bin ein Kriegsheimkehrer, der sich nichts mehr wünscht, als eine anständige Arbeit zu bekommen.«
»Die ich Ihnen biete.« Der Kriminalpolizeirat betrachtete Zacharias aufmerksam. »Ich kann es doch verstehen, dass man sich ansteckt mit dem Revolutionsbazillus. Das hat was Mitreißendes. Und der Zarismus war Mittelalter, Kerenski eine Flasche, Spielball der Entente. Die Bolschewisten haben das verstanden und die Kriegsmüdigkeit ausgenutzt. Sehr klug haben die das gemacht. Aber sie hätten es nicht tun können, wenn nicht Ludendorff Lenin und Konsorten nach Russland hätte reisen lassen. Und Geld haben die Genossen auch bekommen. Diese Oktoberrevolution war deutsche Auftragsarbeit, die wurde vorbildlich erledigt. Allerdings, ich gebe es zu, sind wir über die jetzigen Zustände in Russland weniger erfreut.«
»Das ist die Sache mit dem Flaschengeist«, sagte Zacharias. Dieser Kriminalpolizeirat hatte Niveau, mit dem konnte man reden.
»So kann man es sehen«, sagte der Kriminalpolizeirat. »Was tut man nicht alles im Krieg.«
»Ludendorff hätte ihn vielleicht doch gewonnen, wenn er nicht so gierig gewesen wäre und immer mehr russisches Land erobern wollte.«
»Erwägenswert«, sagte der Kriminalpolizeirat. »Ich habe nie geglaubt an diesen Unsinn, die Heimat sei der Front in den Rücken gefallen und habe der Obersten Heeresleitung den Sieg aus der Hand geschlagen. Hindenburg und Ludendorff hatten sich verrechnet und nicht den Mut, es einzugestehen. Aber kommen wir zur Sache. Herr Zacharias, überlegen Sie es sich, ob Sie nicht für uns arbeiten wollen. Sie könnten versuchen, in die Spartakistenkreise einzudringen, und uns unterrichten, was die planen.«
»Ich denke keine Sekunde darüber nach, wenn ich nicht freigelassen werde. Und die Dame auch.« War es feige, nicht auch Radeks Freilassung zu fordern? Nein, es hätte ihn verraten und Radek nicht genutzt.
»Und Radek?« fragte Lohmeier.
Zacharias zuckte die Achseln. »Ich hielt ihn für einen finnischen Pelzhändler. Wenn er das ist, was Sie behaupten, hat er Pech gehabt.«
Lohmeier wechselte Blicke mit dem Kriminalpolizeirat. Dann verließen beide das Zimmer, ein Schupo bewachte Zacharias.
Nach wenigen Minuten erschienen die beiden Kriminalbeamten wieder. »Nun gut«, sagte Lohmeier. »Sie dürfen nach Hause, die Dame auch. Aber wir melden uns wieder bei Ihnen. Sie werden für uns arbeiten, nicht wahr?«
Zacharias zuckte die Achseln. Du brauchst eine versteckte Wohnung, ganz schnell. Und du darfst diesem Lohmeier nicht mehr in die Hände fallen. Beim nächsten Mal bringt er dich um.
Schweigend verließ er das Zimmer und ging ruhigen Schritts die Treppe hinunter. Aber in seinem Kopf arbeitete es. Er hatte ein zweites Mal Glück gehabt. Nun hatten sie ihn auf dem Kieker.
Draußen wartete Sonja. Sie stand an einer Litfaßsäule, um sich gegen den kalten Wind zu schützen. Sie fror trotzdem. Er legte den Arm um ihre Schulter und drückte sie kurz an sich. Sie lächelte ihn an. »Ist doch alles gut«, sagte sie mit leiser Stimme, in der die Angst nachklang.
»Nichts ist gut. Sie haben Radek, und uns werden sie sicher beobachten.«
Sonja schaute sich um.
Zacharias lachte gequetscht. »Sie wissen, dass wir nun auch im Hinterkopf Augen haben. Sie werden Spitzel auf mich ansetzen. Für die war ich zu lange in Russland. Und wer von dort kommt, ist besonders gefährlich.« Er fletschte die Zähne.
Sie lachte gequält. »Kein Wunder, so, wie du aussiehst.« Sie hakte sich ein bei ihm. »Wir gehen jetzt zu Jogiches.« Trotz lag in ihrer Stimme.
Sie fuhren mit der Straßenbahn, der Stadtbahn und der Hochbahn und stiegen öfter um, als es nötig gewesen wäre. Ab und zu blieben sie abrupt stehen und sahen sich um. Sie nutzten Schaufenster als Spiegel, und in Unterführungen achteten sie auf Schrittgeräusche. Erst als sie sicher waren, dass ihnen niemand folgte, nahmen sie die Hochbahn vom Wittenbergplatz zum Thielplatz. Es fuhren nicht viele Menschen mit. Ausgemergelte graue Gesichter. Eine alte Frau kaute Luft. Als sie die Station Podbielskiallee verließen, stand Sonja auf und ging zur Tür. Er stellte sich neben sie. In Dahlem-Dorf stiegen sie aus. Sie blieben eine Weile stehen, um zu beobachten, wer noch ausstieg. Nur die alte Frau, die immer noch Luft kaute. Sie ging langsam an ihnen vorbei, beachtete sie nicht. Als sie verschwunden war aus ihrem Blick, gingen Zacharias und Sonja zur Treppe. Sie schauten hinunter, es war niemand zu sehen oder zu hören.
»Gut«, sagte Sonja und führte ihn eingehakt hinaus. Sie kannte den Weg gut. Sie durchquerten villengesäumte Straßen mit Kopfsteinpflaster. Zacharias merkte, dass Sonja sich dem Ziel nicht auf direktem Weg näherte. Aber endlich blieb sie vor einer weißen Villa stehen, öffnete ein schmiedeeisernes Tor und sagte: »Komm!« Sie nahm ihn an der Hand und ging den Weg hinauf. Dann ließ sie ihn los und zog viermal an einem Klingelzug neben der Eichentür, in die eine in der Mitte geteilte Milchglasscheibe eingelassen war. Nach einer Pause zog sie noch zweimal. Zacharias hörte schnelle Schritte, dann öffnete sich die Tür. Ein Mann nahm sie in Augenschein. Dann sagte er: »Kommen Sie rein, schnell!«
In der saalgroßen Diele hingen Familienbilder. Dicke Teppiche dämpften die Schritte. Es führten zwei Wandtreppen nach oben. Der Mann führte sie die rechte Treppe hoch. Als er sich umdrehte, blitzte der Griff einer Pistole, die im Gürtel steckte. Im ersten Stock führte die Treppe in einen langen Gang mit Holzfußboden, darauf ein Läufer. Der Gang machte einen Knick, so dass sein Ende nicht zu erkennen war. An der Wand auch hier Ölschinken mit Porträts oder Jagdszenen. Auf einem glaubte Zacharias die Löwengruppe im Tiergarten zu erkennen.
Ihr Führer klopfte an eine Tür. Die wurde einen Spalt geöffnet, ein Auge war zu erkennen. Der Führer flüsterte etwas in den Spalt hinein, dann wurde die Tür ganz geöffnet. Der Begleiter eilte an ihnen vorbei, wohl zurück in die Nähe der Haustür, die er bewachen musste. Ein kleiner, dünner Mann mit roten Haaren sagte: »Kommen Sie mit!« Er klopfte an eine andere Tür, auch die wurde nur einen Spalt geöffnet, und auch der Rothaarige flüsterte etwas.
»Lass sie rein!« hörte Zacharias eine kräftige Stimme. Der Rothaarige winkte sie hinein.
Auf einem Stuhl an einem Schreibtisch saß ein mittelgroßer Mann, gut gekleidet, mit exaktem Haarschnitt, bartlos und mit schwarzen klugen Augen. In der Hand qualmte eine Zigarette. Der Gestank verriet, es war nicht die erste, die er rauchte. Am anderen Ende eine weitere Tür, sie war angelehnt. »Nun, Sonja, wen bringst du uns da?«
»Genosse Jogiches, das ist der Genosse Zacharias, er kommt aus Russland …« Sie klang verunsichert.
»Ich weiß«, sagte Jogiches ruhig. Er wies auf eine Sitzecke mit Sofa, Tisch und einem Sessel. Zacharias und Sonja setzten sich auf das Sofa.
»Radek ist verhaftet!« stieß sie heraus.
Jogiches sagte nichts, er zog die Stirn in Falten. Er kratzte sich an der Augenbraue, bedachte die Folgen, die Radeks Verhaftung haben könnte. Die Stirn glättete sich wieder. Offenbar wusste Radek nicht, wo sich Jogiches verbarg. »Sie werden Radek nicht umbringen«, sagte er bedächtig. »Sie werden ihn eine Weile einsperren und ihn gut behandeln. Immerhin ist er so etwas wie der Vertreter Sowjetrusslands.« Er musterte Zacharias eine Weile, dann sagte er: »Sie wollen bei uns mitmachen.«
»Ja«, sagte Zacharias.
»Aha«, sagte Jogiches.
»Ich kenne die Genossin Luxemburg von der Parteischule. Ich war immer auf dem linken Flügel, dort, wo die Genossin Luxemburg heute steht.« Er fand sich pathetisch, aber es war die Wahrheit.
»Aha«, sagte Jogiches. »Immer auf dem linken Flügel.« Er zündete sich eine weitere Zigarette an. »Und die Bolschewiki, wie finden Sie die?«
»Sie haben eine Revolution gemacht. Sie sind die ersten. Das ist doch was.«
»Das ist was«, sagte Jogiches bedächtig. »Dafür haben sie unseren Respekt.«
»Dserschinski ist auch bei ihnen.«
»Der gute Feliks«, sagte Jogiches. »Den haben uns die Bolschewiki gestohlen. Man hört so einiges. Er ist jetzt Leiter dieser Tscheka, die wild um sich schießt. Hätte ich nicht gedacht. Vielleicht zeigt sich an ihm, was aus uns werden kann. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Vielleicht verlangt das Sein manchmal, dass wir töten. Aber die Tscheka ist der Arm einer Diktatur Lenins und Trotzkis, nicht des Proletariats. Wir wollen die Diktatur der Massen, nicht der Partei.«
Zacharias überlegte, er hatte das Chaos in Russland erlebt. Dagegen half nur militärische Disziplin. »Vielleicht ist in Russland alles ein bisschen anders als in Europa. Die Massen dort sind nicht politisch gebildet, es gibt keine sozialistische Tradition wie in Deutschland oder Frankreich. Die meisten Arbeiter können nicht lesen, von den Bauern gar nicht zu reden.«
»Ja, ja«, sagte Jogiches. »Aber Lenin behauptet, so, wie er den Sozialismus macht, müssen ihn alle machen. Sowjetdeutschland, Sowjetfrankreich. Überall die Parteidiktatur. Überall in der Partei die Diktatur des Zentralkomitees. Militärische Disziplin. Den Aufstand planen. Man kann in Russland einen Putsch machen mit einer kleinen Partei. Wenn man das in Deutschland versucht, bricht das öffentliche Leben zusammen. Der Hunger würde noch schlimmer, auch wenn man sich das schlecht vorstellen kann. Dann wird die Diktatur einer kleinen Partei binnen Wochen weggewischt.« Seine Hand wischte über den Schreibtisch. Er zündete sich wieder eine Zigarette an. »Es gibt bei uns ein paar, die auch glauben, Lenin verkünde die Offenbarung. Da wären Sie nicht allein.«
»Ich glaube nicht, dass Lenin die Offenbarung verkündet. Ich glaube jedoch, dass man in Russland nur nach Leninscher Manier Revolution machen kann. Das Proletariat ist eine verschwindende Größe, es gibt fast nur Bauern dort. Für ein solches Land findet man keinen Sozialismus im Lehrbuch.«
»Aha«, sagte Jogiches. »Den gibt es ohnehin nicht. Und wie sehen Sie unsere Lage?«
»Die könnte besser sein. Partei verboten, Parteipresse verboten, Freikorps und Polizei hetzen die Führer. Die Masse folgt den Sozialdemokraten oder den Unabhängigen.«
»Da malen Sie aber ein düsteres Bild«, sagte Jogiches. »Wie kann man mit solchem Pessimismus eine Revolution anfachen?«
»Kurzfristig sehe ich schwarz.«
»Dann ist der Genosse Zacharias aus Russland also ein Schwarzseher.« Jogiches lachte. »Wie gut, dass unser lieber Genosse Lenin das nicht hört. Der sitzt uns nämlich im Genick in Gestalt seines Sendboten Radek und durch diese seltsame Einladung zur Gründung einer Internationale. Sekten aller Länder, vereinigt euch!« Jogiches lachte fast lautlos. »Sie haben recht, Genosse Zacharias, es sieht nicht gut aus. Wir hätten uns nie von der USPD trennen dürfen, jetzt braten wir im eigenen Saft.«
»Du bist der Schwarzseher, Leo.« Eine Frauenstimme aus dem Nebenzimmer. Spott und Lachen lagen darin.