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ie ging aufs Ganze, und das konnte nur daran liegen, dass sie eine Niederlage befürchtete. Und eine Chance sah, sie abzuwenden. Zacharias ärgerte sich, weil er Ermittlungsergebnisse preisgeben sollte, die dadurch entwertet würden, denn wenn die Drahtzieher von Zacharias’ Verdacht erfuhren, würden sie sich wehren. Aber Rosa hatte recht. Wenn sie jetzt unterlag, würde es bald keine Untersuchungskommission und keine Ermittlungen mehr geben. »Die Untersuchungskommission« – er räusperte sich – »also, die Untersuchungskommission ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es keine Freikorpssöldner, gleich welcher Farbe, gewesen sind, sondern Kämpfer aus unseren Formationen. Ob Rote Armee oder Miliz, wissen wir noch nicht.«
»Das ist ungeheuerlich!« donnerte Pieck dazwischen. Und er war nicht als einziger empört.
»Das ist in der Tat ungeheuerlich«, sagte Zacharias, und er sah Rosa lächeln. Ihr Schüler ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Wer einmal ihr Schüler war, blieb es zeitlebens. »Der Anführer der Truppe war ein Genosse, der einwandfrei identifiziert wurde als Mitkämpfer bei der Schießerei in Lichtenberg. Es gibt dafür mehrere widerspruchsfreie Zeugenaussagen.« Er übertrieb, fand es aber notwendig.
»Dann ist das ein Überläufer«, sagte Friesland. »Nur mal vorausgesetzt, Ihre Zeugen sind nicht gekauft oder Teilhaber einer Verschwörung gegen die Revolution.«
»So kann man es natürlich auch sehen, Genosse Friesland«, sagte Rosa mit schneidender Stimme. »Man kann alle Facetten der Wirklichkeit, die einem nicht ins Bild passen, einfach tilgen oder für Traumgebilde erklären. Weil es ja nur so sein kann, wie man will, dass es ist. Aber dem Wolkenkuckucksheim des Genossen Friesland steht eine Wirklichkeit gegenüber, die sich beweisen lässt. Und es wäre doch viel sinnvoller, daraus Konsequenzen zu ziehen. Wenn man sich irrt, muss man die Lehre daraus ziehen. Und weil Sie sich ja als Leninisten« – sie zog das Wort in die Länge – »betrachten, ich hörte diesen Begriff gestern zum ersten Mal, möchte ich Ihnen erzählen, dass ich den Genossen Lenin recht gut kenne, gewiss besser als alle anderen an diesem Tisch. Sie alle wissen, dass ich mit diesem Genossen in vielen Dingen nicht übereinstimme. Aber ich will doch sagen, dass der Meister seine Jünger um Welten überragt. Vor allem in dieser Hinsicht: Wenn Lenin sich irrt oder das Zentralkomitee seiner Partei, dann bemühen sie sich, diesen Irrtum zu beheben, es besser zu machen. Nein, nein, nicht in meinem Sinne, ganz in ihrem. Aber sie berichtigen sich, und sie tun es schnell. Eine revolutionäre Regierungspartei muss sich bei Strafe ihres Untergangs immer schnell berichtigen, es sei denn, sie ist fehlerfrei.«
Leises Gelächter.
»Sie haben sich verrannt, Genosse Friesland. Sie nehmen von der Wirklichkeit nur wahr, was dem verqueren Bild in Ihrem Hirn entspricht. Marx sagt, das Sein bestimmt das Bewusstsein. Das haben viele falsch verstanden, ohne mich länger darüber auslassen zu wollen. Aber was Marx gewiss nicht meinte, ist, dass der Traum des Genossen Friesland und seiner Assistenten den Verlauf der Revolution in Deutschland bestimmen soll.«
Zacharias beobachtete die Zuhörer und sah, dass Rosa Zustimmung erwarb, aber die Mehrheit gewann sie nicht. Diese Genossen wussten, es ging drunter und drüber im Reich, und sie glaubten, Gewalt und Disziplin seien die Schlüssel des Sieges. Die Arbeiter in vielen Städten hatten ihre Betriebe übernommen und verwalteten sie nach eigenem Ermessen. Was interessierte sie, wie es anderen Unternehmen ging, wenn sie nur selbst über die Runden kamen. In einigen Firmen war der Sechsstundentag eingeführt worden, in anderen wurde sieben Stunden gearbeitet oder gar nicht, weil Zulieferer nicht geliefert hatten oder sich Fertigware in Lagern stapelte, ohne dass Käufer gefunden würden. Auch nahmen die Gewaltdelikte und sonstige Straftaten zu, der Mob regierte in manchen Orten nicht nur auf der Straße. Wilde Gestalten bemächtigten sich durch Zufallsmehrheiten der Räte und der Verwaltungen. Der Polizeipräsident von Duisburg hatte eine Karriere als Zuhälter hinter sich, in Hannover hatte eine Bande von Hehlern den Leuten das Blaue vom Himmel versprochen, vor allem Weizen aus Russland und Mais aus Amerika. Natürlich musste die Zentralgewalt gestärkt werden, weil sonst bald überall die Anarchie herrschte. Aber Friesland, Pieck und Genossen wollten mehr als das, nämlich den Terror der revolutionären Parteien, von denen am Ende nur eine überbleiben sollte, wie es den bolschewistischen Spielregeln entsprach.
Während Rosa auf die Genossen der Zentrale einredete, Liebknecht wiederholte, was er schon gesagt hatte, und Friesland den Terror predigte, überlegte Zacharias, wie er dem Schlamassel entgehen könnte. Es war klar, die Untersuchungskommission stand auf der Kippe. Die Mehrheit würde versuchen zu verhindern, dass er seine Arbeit fortsetzte. Sie waren der Wahrheit nahe gekommen, die Leninfraktion wurde nervös.
Dann hörte er Pieck schimpfen: »Dass Arbeiterschinder dieser sogenannten Untersuchungskommission des Genossen Zacharias angehören, ist ein Verrat an der revolutionären Ehre unserer Partei.«
Donnernder Beifall.
Zacharias meldete sich zu Wort: »Ich folge nur dem bolschewistischem Beispiel und benutze bürgerliche Spezialisten. Wenn Sie mir einige sozialistische Kriminalisten zuordnen möchten, ich wäre sofort bereit, die Spezialisten zu entlassen.«
Gelächter. Einer rief: »Gut gebrüllt, Löwe.«
Ein anderer: »Dumme Ausreden.«
Pieck erwiderte: »Aber die Bolschewisten lassen sich von diesen Spezialisten nicht vorschreiben, was sie zu tun haben.«
Ein dummer Einwand, dachte Zacharias. »Wer sagt denn, dass ich mir von denen etwas vorschreiben lasse?«
»Das ist doch offensichtlich!« rief Friesland. »Das sieht ein Blinder. Sonst kämen Sie nicht auf solche dummen Gedanken. Sie haben die Leitung in Ihrer Kommission längst verloren, ohne es zu merken!«
Beifall.
Rosa beantragte eine Pause. Dann winkte sie Zacharias zu sich, Jogiches schloss sich an, dann auch Clara Zetkin. Sie gingen in das Zimmer, das Zacharias schon kannte.
Rosa lehnte sich an die Wand, Jogiches setzte sich an den Tisch und zündete sich eine Zigarette an. Clara Zetkin lief unruhig umher. »Und wenn wir einen Kompromiss finden? So falsch wäre es doch nicht, die Zügel ein wenig anzuziehen.«
»Natürlich nicht«, sagte Jogiches. »Aber doch nicht mit Terror.«
»Aber wenn es ohne Gewalt nicht geht? Wenn es uns nicht gelingt, die Arbeiter zu überzeugen?« fragte Rosa mit leiser Stimme.
»Die falschen Zweifel zur falschen Zeit«, erwiderte Jogiches. Er mühte sich ruhig zu bleiben. »Sie werden es nicht wagen, sich gegen dich zu stellen.«
»Ein frommer Wunsch. Sie haben uns auf dem Parteitag eine Niederlage bereitet, als es um die Wahlen zur Nationalversammlung ging. Sie haben sich verrannt in diesen Leninkult. Friesland müsste doch wissen, was es bedeutet, wenn wir mit dem Terror anfangen.«
»Vielleicht bleibt uns keine Wahl.« Clara Zetkin schaute Rosa an. »Schau, in der Französischen Revolution …«
»Ja, ja, da sind die Köpfe gerollt. Aber ist es das, was diese Revolution ausmacht? Gewiss nicht. Lasst uns praktisch überlegen. Wenn Friesland und Pieck eine Abstimmung haben wollen, werden sie die bekommen. Und sie werden sie gewinnen. Liebknecht wird sich daran gebunden fühlen. Seit er Regierungschef ist, hält er sich erst recht für den lieben Gott. Er schwebt hoch droben und schaut herab auf uns Sterbliche. Früher hat er auf mich gehört, meistens jedenfalls. Jetzt hört er nur noch auf seine Eingebungen. Er wird den Beschluss der Zentrale jedenfalls in der nächsten Sitzung des Rats der Volkskommissare als Regierungsbeschluss vorschlagen. Eigentlich darf ich dort nicht dagegensprechen, weil ich dann die Parteidisziplin verletzen würde. Aber wie oft hat Karl auf sie gepfiffen. Und Sie, Genosse Zacharias, Sie gehen heute abend noch zu den Unabhängigen.«
»Ich werde dort mein Möglichstes tun. Eigentlich sollte es genügen, die bisherigen Ergebnisse der Kommission darzustellen. Das kann ich jetzt ja ohne Rücksichtnahme, nachdem alles bekannt geworden ist.«
»Und suchen Sie diesen Mann aus Lichtenberg?«
»Natürlich. Aber ob wir ihn je finden? Vielleicht schaut er sich schon die Radieschen von unten an.« Zacharias drängte es, sich zu offenbaren. Der Druck belastete ihn, er musste sich für eine Seite entscheiden.
»Ich glaube, Friesland handelt in Moskaus Auftrag. Die sehen das natürlich als Unterstützung der Revolution in Deutschland«, sagte Zacharias.
Rosa schaute ihn streng an. »Wissen Sie mehr darüber?«
Zacharias spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. »Eigentlich gehöre ich auch dazu, aber mir hat man einen eigenen Auftrag gegeben. Einen Spezialauftrag.«
»Wer ist man?« brummte Jogiches. Seine Zigarette glühte rot.
»Die Tscheka und Lenin.«
»Lenin und Dserschinski?« fragte Jogiches.
»Ja.«
Jogiches pfiff leise. »Sieh mal, der Genosse Wladimir Iljitsch will ein bisschen nachhelfen.«
»Das ist doch nichts Neues«, sagte Rosa. »Was genau ist Ihr Auftrag?«
»Ich soll auf Sie aufpassen.«
Sie lachte schrill.
»Und melden, was Sie planen.«
Sie hörte auf zu lachen.
»Und ich soll an Dserschinski berichten.« Er überlegte, ob er Bronski erwähnen sollte, aber das hätte die Lage nur noch verworrener gemacht. »Und dann wurde ich aufgefordert« – er wollte Rosa sagen: Sie zu beeinflussen, aber das verschluckte er –, »Einfluss zu nehmen.«
»Was für einen Einfluss?« Jogiches ärgerte sich.
»Na ja, dass die Partei bolschewistische Methoden anwenden sollte. Die Macht ergreifen, Diktatur, Terror. Lenin macht sich Sorgen um die deutsche Revolution. Er fürchtet, die Sowjetmacht kann sich allein nicht halten. Auch deshalb will er jede Hilfe geben, Nahrungsmittel, Waffen, Geld, die Rote Armee …«
»Und die Tscheka unseres Freundes Feliks Edmundowitsch«, sagte Rosa.
»Wir sollten das ausnutzen«, sagte Jogiches.
»Indem wir von den Russen nehmen, wovon sie zu wenig haben?« fragte Rosa.
»Darüber zerbreche ich mir jetzt nicht den Kopf. Und auch nicht darüber, ob die Hilfe an Bedingungen geknüpft ist, Terror gegen Brot oder ähnlich.«
»Wir sprechen später darüber. Wir müssen jetzt überlegen, wie wir in der Zentrale weiterkommen. Ich werde zu Karl gehen und ihn bitten, der Untersuchungskommission noch Zeit zu geben. Der Genosse Zacharias muss ohnehin noch bei der USP berichten. Däumig ist sein Vorgesetzter, auch wenn der sich um nichts kümmert.«
Jogiches nickte, und sie verließ den Raum. Clara Zetkin saß da und seufzte. »Dass wir uns streiten müssen, jetzt, wo die Revolution endlich begonnen hat. So ganz falsch liegt Friesland doch nicht, auch wenn ich natürlich mit Rosa solidarisch bin.«
»Wenn Terror nur ein bisschen falsch ist …«, knurrte Jogiches. Er wandte sich an Zacharias. »Als Sie uns in Dahlem herausgehauen haben, da haben Sie Ihren Auftrag erfüllt, den aus Moskau?«
Zacharias zuckte die Achseln. »Darüber habe ich nicht nachgedacht. Es war richtig, das genügte.«
Jogiches lächelte. »Ich würde Sie am liebsten aus der Kommission verjagen. Aber täte ich es, wäre es ein Triumph für Friesland. Deshalb finde ich mich damit ab, dass Sie Bolschewistenzögling im Amt bleiben. Das ist zwar ein Anachronismus, aber mir scheint, Revolutionen sind so.« Er klang nicht sonderlich ärgerlich.
Rosa kehrte zurück. Zorn stand in ihrem Gesicht. »›Das entscheidet die Zentrale, dann die Volkskommissare, und ich werde vorschlagen, was die Zentrale beschließt.‹ Das sagt er, als hätte er sich jemals an Beschlüsse von irgendwem gehalten.«
»Wenn ich noch etwas sagen darf«, sagte Zacharias und fuhr gleich fort: »Über etwas viel Wichtigeres haben wir noch gar nicht gesprochen. Ich habe keinen Zweifel, dass Moskau bald einen Mordauftrag erteilen wird. Da war einer bei mir vor kurzem, der fabulierte über die Chancen, die sich ergäben, wenn die Genossin Luxemburg von Konterrevolutionären ermordet würde.«
»Und der kam aus Moskau?« fragte Clara Zetkin atemlos.
»Ja.«
»Steckt Friesland mit drin?« fragte Jogiches.
»Ich glaube nicht. Dieser Mann, Bronski nennt er sich, wie immer er heißen mag, dieser Mann hat mich darauf angesprochen. Beachtet man die Regeln der Konspiration, dann haben sie mich ausgesucht, den Anschlag zu begehen. Sie haben getestet, ob ich bereit wäre. Die Tscheka wird niemand anderen beauftragen, noch nicht jedenfalls, bevor sie nicht sicher ist, dass ich den Auftrag verweigere. Dann komme ich mit auf die Liste. Das hat der werte Genosse Bronski mir auch erklärt.«
»Dann müssen Sie den Auftrag annehmen«, sagte Jogiches. Clara Zetkin schnaufte, Rosa schaute ihn erstaunt an. »Ist doch besser, man kennt seinen Mörder.« Jogiches lächelte. »Außerdem lebt der Genosse Zacharias dann länger.«
»Wir sollten es veröffentlichen«, sagte Clara Zetkin.
»Damit wir uns lächerlich machen?« fragte Rosa. »Die werden es nicht zugeben, Zacharias ist unser einziger Zeuge, aber niemand wird ihm glauben. Die Russen, der heilige Lenin gar, wollen deutsche Revolutionsführer, Volkskommissare, ermorden? Das kann sich nur die Reaktion ausgedacht haben, um Zwietracht zu säen. Weil sie weiß, dass die deutsche Revolution die Unterstützung der Sowjetmacht braucht und die Russen die Hilfe der Deutschen. Nein, das ist perfide: Wenn wir das bekannt geben, verschlechtern wir unsere Lage.«
»Und was soll ich Däumig erzählen über diese Figur aus Lichtenberg, die den Mordanschlag, der keiner war, auf die Genossin Luxemburg begangen hat?«
»Die Wahrheit«, erwiderte Rosa schnell. »Einfach die Wahrheit. Däumig ist Ihr Vorgesetzter. Sie brauchen ja keine Mutmaßungen zu äußern. Die Genossen von der USP sind schlau genug und kommen selbst auf das, worauf man kommen muss.«
Dann wurden sie zurückgerufen zur Sitzung. Die Zentrale beschloss auf Antrag Liebknechts, dem Rat der Volkskommissare vorzuschlagen, die Untersuchungskommission wegen Befangenheit aufzulösen und die Aufklärung des Falls in die Hände der Miliz zu legen. Zacharias wartete, ob er aufgefordert würde zurückzutreten, aber davon war nicht mehr die Rede. Womöglich hatte Liebknecht mit Friesland und Genossen einen Kompromiss ausgehandelt. Alle wussten, dass es ohne die Zustimmung der USP-Volkskommissare keinen Regierungsbeschluss geben würde.
Und Zacharias wusste, dass die Moskauer sich nun überlegen würden, wie sie ihn loswerden konnten. Oder sie würden ihm die Pistole auf die Brust setzen. Er war ein Zeuge, er hatte mit Lenin und Dserschinski gesprochen, vielleicht unterstellten sie, er verstehe seinen Auftrag anders. Und hatten nicht Lenin und Dserschinski ihn ermahnt, sich von niemandem hineinreden zu lassen? Lenin ging manchmal ungewöhnliche Wege, das wussten auch Friesland und Konsorten. Aber was wusste Radek? Welches Spiel spielte er? Wenn Radek in Lenins Namen auftrat, dann glaubte ihm jeder. Und wenn Radek anweisen würde, Zacharias zu beseitigen, dann würden sie es versuchen. Was immer andere planten, Zacharias wusste, es wurde eng. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Er ging zu Fuß zum Vorstand der USP am Schiffbauerdamm. Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen. Wo eine der wenige Laternen Licht warf, glänzte das Kopfsteinpflaster vor Nässe. Manche Stellen wurden glatt, in dieser Nacht würde es frieren. Ihm tat die Kälte gut.
Je länger er bedachte, was geschehen war und was ihm drohte, desto wichtiger erschien es ihm, es möglichst lang auszuhalten auf seinem Posten. Solange er Funktionär der Regierung war, würden sich Friesland und seine Helfer vorsehen. Was nicht bedeutete, dass sie nichts tun würden gegen ihn. Aber sie konnten nicht riskieren, dass Führer der KPD als Auftraggeber eines Mordes an einem Regierungsfunktionär entlarvt würden. Das würde das Ansehen der Kommunisten schädigen, wo diese doch in der Konkurrenz mit den Unabhängigen zwar aufholten, aber immer noch eine Gruppe waren, deren Machtanspruch ihre Zahl weit übertraf.
Nur wenige Menschen hasteten an ihm vorbei. Er begegnete einer Doppelstreife der Miliz, die musterten ihn nur. Sie hatten Schals umgebunden und die Mützen tief ins Gesicht gezogen. Zacharias hatte von Übergriffen gehört gegen Milizangehörige, Messerstiche in den Rücken, Prügeleien und Rüpeleien. Aber die beiden sahen lieber wenig, als zu frieren. Es wäre einfach gewesen, sie von hinten anzugreifen. »Du denkst immer an das Schlimme«, schimpfte er vor sich hin.
Dann hatte er das Gebäude der USP erreicht. Er meldete sich an der Pforte an und wurde gleich vorgelassen zu Däumig.
»Ah, der Genosse Zacharias«, sagte Däumig, er kramte auf einem Tisch in einem Aktenstapel. »Habe gerüchteweise gehört, Sie haben Ärger mit Ihren Genossen.«
Zacharias winkte ab. »Wer hat das nicht?«
»Das ist ein wahres Wort. Ich hoffe, es renkt sich wieder ein.«
»Bestimmt«, erwiderte Zacharias. Ich brauche Däumig ja nicht draufzustoßen, er wird selbst die Lunte riechen.
»Und was hat die Kommissionsarbeit bisher ergeben?«
»Dass es keinen Mordanschlag auf die Genossin Luxemburg gab.«
Däumig blickte ruckartig auf von seinem Stapel, blieb aber in gekrümmter Haltung stehen. Er schnalzte mit der Zunge.
Zacharias legte dar, warum der Anschlag fingiert erschien. Däumig starrte ihn an, dann nickte er leicht. Als Zacharias berichtete, der Mann, der den Trupp in die Reichskanzlei geführt habe, sei bei der Schießerei in Lichtenberg gesehen worden, schlug Däumig auf den Tisch. »Das ist die Höhe. Aber was soll der Grund sein?«
»Da kann man nur raten.«
»Dann raten Sie, das ist Teil Ihrer Aufgabe.«
»Der Anschlag sollte Stimmung machen, damit die Kräfte es leichter haben, die auf die Zentralgewalt setzen, die alle Abweichungen einebnen wollen.«
»Die das einführen wollen, was der verehrte Genosse Lenin kürzlich Kriegskommunismus genannt hat.« Er streckte sich, der Rücken schmerzte. Dann fuhr er sich mit der Hand durch die Haare. »Dazu passt ja, dass bald die erste Nahrungsmittellieferung aus Russland in Berlin eintrifft. Ich habe das gerade erfahren. Die Genossen Spartakisten werden großes Theater machen, die Leute werden beeindruckt sein, und dann noch ein fingierter Anschlag. Passt gut zusammen, ist so eine Art Choreographie. Nicht schlecht, wenn es so geplant war.«
»Manchmal passen Dinge zusammen, obwohl sie nicht geplant waren. Manchmal passen Dinge nicht zusammen, obwohl sie geplant waren.«
»Sie sind ja ein richtiger Philosoph.« Däumig lachte trocken. »Und nun haben Sie Ärger mit Ihren Genossen, nicht wahr?«
Zacharias nickte. »Sie nehmen es mir auch übel, dass ich bürgerliche Kriminalisten beschäftige.«
»Ich weiß nicht, wie lange ich Sie halten kann gegen den Widerstand Ihrer Leute. Die Genossin Luxemburg stützt Sie noch?«
»Ja. Aber gegen eine Mehrheit kann auch sie wenig ausrichten.«
»Immerhin ist sie Regierungsmitglied. Wichtig ist ja, dass wir in der Regierung eine Mehrheit finden, die die Untersuchungskommission behalten will. Allerdings, wenn es keinen Mordanschlag auf die gute Rosa gab, was bleibt zu untersuchen?«
»Genosse Däumig, es sind Bewaffnete in die ehemalige Reichskanzlei eingedrungen und haben zwei Genossen getötet und weitere verletzt. Ich möchte herausbekommen, wer dahintersteckt und was der Zweck dieser Aktion war. Und, bei aller Bescheidenheit, ich glaube, die Regierung sollte das auch wissen wollen.«
»Wenn Sie wüssten, was wir alles wissen müssten. Wir leben im Zustand vollkommener Anarchie. Nichts funktioniert, vor allem nicht die Versorgung. Unsere Bauern rücken nichts raus. Sie sagen, unsere Währung taugt nichts, weil man dafür nichts kaufen kann. Leider haben sie recht. Aber lässt man deshalb das eigene Volk verhungern? Ein paar Genossen haben vorgeschlagen, Requirierungstrupps aufs Land zu schicken …«
»Wie in Russland«, sagte Zacharias erschrocken.
Däumig verwahrte sich nicht gegen die Unterbrechung. Er schaute Zacharias in die Augen. »Sie wissen da etwas. Was erschreckt Sie so?«
Zacharias schüttelte den Kopf. Diese verfluchten Bilder griffen nach ihm.
»Die Genossen der sowjetischen Botschaft haben angeboten, uns zu beraten. Sie hätten auf diesem Gebiet ihre Erfahrungen. Was ist mit Ihnen, Genosse Zacharias?«
»Darf ich Sie bitten, sich für unsere Kommission einzusetzen, eingeschlossen die bürgerlichen Kriminalisten, die wir brauchen, bis wir eigene ausgebildet haben? Und erlauben Sie mir, nach Hause zu gehen. Ich will ein paar Stunden schlafen.«
Däumig schaute ihn neugierig an, dann nickte er und reichte Zacharias die Hand. »Mal sehen, was sich machen lässt«, sagte er.
Zacharias verließ das Gebäude und stieg die Treppe hinab zur Straße. Zwei Posten standen vor der Eingangstür und flüsterten miteinander. Sie stampften mit den Füßen, um die Kälte zu vertreiben. Aber die kroch durch die Kleidung und klammerte sich an die Haut. In Russland war es kälter gewesen, aber trockener, so dass man nicht gleich fror. Zacharias lief zum Bahnhof Friedrichstraße und fuhr nach Hause.
Er sah das flackernde Licht aus dem Küchenfenster, eine Petroleumlampe im Luftzug. Er roch sie schon im Flur. Erst jetzt wurde ihm wieder bewusst, dass seine Mutter tot in ihrem Bett lag. Er empfand keine Trauer, ihn bedrückte aber eine Last. Zacharias verstand nicht, welcher Art sie war. Die Mutter hatte ihn allein gelassen, und auch wenn es ihm befremdlich erschien, das warf er ihr vor.
In der Küche saß Margarete am Tisch, vor sich eine dampfende Tasse. Es war ihm selbstverständlich, dass sie hier war, und auch sie schien sich zu Hause zu fühlen. Er wunderte sich nur, wie nüchtern sie miteinander umgingen. Dann fand er es wieder angemessen. Er setzte sich an den Tisch, Margarete stand auf und goss Zacharias einen Becher Kriegskaffee ein. »Morgen vormittag ist die Beerdigung.«
»So schnell. Danke.«
Sie setzte sich ihm gegenüber. »Wenn es dir recht ist, bleibe ich dann hier.«
»Ja. Aber es ist nicht wie früher.« Er erinnerte sich der ersten zarten Berührungen. Wie sie die erst abwehrte, doch dann zuließ. Sie hatten sich heimlich geküsst, unbeholfen und ohne zu verstehen, was daran sein mochte. Jetzt lebten sie nebeneinander in einer Wohnung, ohne die Berührung zu suchen.
»Nichts ist wie früher. Damit muss man sich abfinden«, erwiderte sie. »Aber zur Beerdigung kommst du?«
Er hatte ihr nicht viel erzählt über das, was er tat. Es genügte, dass sie begriff, wie tief er verwickelt war in die Revolution. Sie hatte sich nicht geäußert, ob sie diese Revolution begrüßte oder ablehnte. Zacharias glaubte inzwischen, es war ihr gleichgültig. Besser würde es sowieso nicht, egal, ob alles blieb, wie es war, oder ob sich alles änderte. Sie verstand nicht die Aufregung der Menschen über den Sozialismus, den alle Arbeiterparteien forderten, was sie aber nicht hinderte, sich gegenseitig umzubringen. Margarete hatte schon im Krieg beschlossen, die Menschen und die Welt, in der sie lebten, für verrückt zu erklären. Einen vernünftigen Grund für diese Zustände konnte es nicht geben.
»Wie geht es deinen Eltern?«, fragte er, um etwas zu sagen.
»Schlecht«, sagte sie tonlos. »Sie werden deiner Mutter bald folgen.«
»Liebst du mich?« fragte er. Gleich schalt er sich einen Dummkopf. Wenn man müde ist, redet man dummes Zeug.
»Ich weiß nicht«, sagte sie und lächelte ein wenig. »Jedenfalls wohne ich nun hier. Und wenn du willst, können wir heiraten. Das haben wir doch einmal gewollt.«
Ihm kam es vor, als klammerte sie sich mit aller Kraft an ihre Erinnerung. Gut war in ihrem Leben nur, was vergangen war. »Man kann die Vergangenheit nicht zurückholen«, sagte er.
»Doch, man muss es. Wenn ich es nicht versuchte, ich würde wahnsinnig.«
Er überlegte, ob sie schon wahnsinnig war oder nur er oder sie beide. Hinten lag die tote Mutter im Bett, und sie redeten Unsinn. Unwillkürlich hatte er laut gesagt, was er dachte.
»Sie liegt nicht mehr dahinten. Kaminski hat sie vorhin geholt.«
Kaminski war der Bestatter, er brachte alle Leute in dieser Gegend unter die Erde, und er tat es zu einem Preis, den Arbeiter bezahlen konnten. »Will er das Geld gleich haben?«
»Am liebsten wäre ihm was zu essen. Vielleicht kannst du etwas besorgen, das wäre die beste Bezahlung. Sonst nimmt er auch Edelmetall. Hattet ihr nicht eine Silberschale und etwas Besteck?«
Sie erinnerte sich besser als er. Er würde die Dinge suchen und damit die Beerdigung bezahlen. Was sollte er mit Silber und was mit den Erinnerungen, die daran hingen? Es würde doch alles nur schwerer machen.
Dann gingen sie ins Schlafzimmer. Sie zog sich fröstelnd aus, und er sah die Hautbeutel, die früher ihre Brüste gewesen waren. Ihre Augen, größer in dem mageren Gesicht, schauten ihn an und sagten: Nimm, wenn du willst. Aber er konnte nicht. Sie schien nicht enttäuscht und legte sich auf die Seite. Er legte sich mit seinem Rücken an ihren und fragte sich, warum es so war mit ihr und mit ihm. Nicht dass er wünschte, es würde sich ändern. Es war richtig so, und was früher gewesen war, war nur eine Erinnerung an etwas, das nie zurückkommen würde.
Er spürte wieder den Zorn auf die Schuldigen an der Katastrophe. Der Kaiser lebte gut im holländischen Doorn. Aber vielleicht ergriffen auch die holländischen Arbeiter bald die Macht, und dann würden sie den Kaiser nach Deutschland bringen und vor Gericht stellen, genauso wie den Verräter Ebert. Dann kamen die Träume von seinen Opfern. Lenin erschien ihm. Sorgen Sie dafür, dass es in Deutschland nach unserer Methode geht. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Lieber einen zuviel erschießen als einen zuwenig. Es schüttelte ihn. Als er die Augen aufschlug, sah er Margarete ihn anstarren. »Was machst du da?« flüsterte sie. »Sei nicht so unruhig. Komm zu mir.«
Er legte sich in ihren knochigen Arm und schlief wieder ein.
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