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Präsentation
Nur wenige Aspekte des Lebens waren besser vorhersagbar, dachte Ryan. Er hatte leicht zu Abend gegessen, um schmerzhaftem Magenflattern vorzubeugen, und ignorierte seine Familie weitestgehend, während er die Rede las und immer wieder las. Er nahm ein paar kleine Änderungen vor: geringfügige linguistische Dinge, die Callie hinnahm und selbst weiter modifizierte. Elektronisch war die Schlußfassung ins Vorzimmer des Oval Office übermittelt worden. Callie war Schriftstellerin, nicht Schreibkraft, und die Sekretärinnen des Präsidenten tippten in einem Tempo, das Ryan den Atem raubte. Der fertige Entwurf wurde gedruckt, damit er sich an was festhalten konnte, und elektronisch in den Teleprompter hochgeladen. Callie Weston war da, um sicherzustellen, daß beide Versionen identisch blieben. Es war vorgekommen, daß in letzter Minute eine von der anderen abwich, doch Weston wachte über ihr Werk wie eine Löwin über ihre neugeborenen Jungen.
Doch ebenso vorhersagbar kam das Schlimmste von van Damm: Jack, dies ist die wichtigste Rede, die Sie jemals halten werden. Also entspannen Sie sich einfach und halten sie.
Mensch, danke, Arnie. Der Stabschef war ein Trainer, der selbst das Spiel nie gespielt hatte, er wußte einfach nicht, was es hieß, hinauszugehen zum Wurf-Mal und sich den Schlagmännern zu stellen.
Die Kameras wurden aufgebaut: eine Haupt-, eine Ersatzkamera; letztere wurde so gut wie nie benutzt, aber beide waren mit Teleprompter versehen. Die grellen Scheinwerfer waren postiert, und während der Rede würde sich der Präsident gegen seine Bürofenster abheben wie ein Hirsch gegen den Hügelkamm; noch was, worüber sich der Secret Service Sorgen machen konnte, trotz Vertrauen in die Fensterscheiben, die ja einem 50-Zoll-MG-Geschoß standhalten sollten. Die TV-Leute waren dem Detail sämtlich bekannt, wurden aber ebenso kontrolliert wie ihre Ausrüstung. Jeder wußte, was kam. In den Abendnachrichten waren die Ankündigungen vor den weiteren Meldungen erfolgt. Die reinste Routineübung, nur für Präsident Ryan war es neu und rief vages Entsetzen hervor. Er hatte zwar einen Anruf erwartet, aber nicht zu dieser Stunde. Nur wenige hatten die Nummer seines Handys. Es war viel zu gefährlich, eine echte Nummer für ein echtes, fest installiertes Telefon zu haben.
Der Mossad ließ ja immer noch Leute verschwinden. Daran hatte auch der neugefundene Frieden im Nahen Osten nichts geändert, und die hatten wahrlich Grund, ihn nicht zu mögen. Besonders clever hatten die einen seiner Kollegen durch sein Handy ermordet. Erst hatten sie es durch Funksignale außer Betrieb gesetzt und dann ein Ersatzgerät besorgt … mit zehn Gramm Sprengstoff darin. Die letzte Mitteilung, die der per Telefon erhalten hatte, so ging die Mär, war vom Mossadchef selber gekommen: »Tag, hier spricht Avi ben Jakob. Hören Sie genau zu, mein Freund.« Und dann hatte der Jude die #-Taste gedrückt. Ein cleverer Trick, aber der funktionierte nur einmal.
Fluchend öffnete er beim Trillern die Augen. Erst eine Stunde zuvor war er zu Bett gegangen.
»Ja?«
»Ruf Yousif an.« Und die Verbindung war wieder tot. Als weitere Sicherheitsmaßnahme war der Anruf über mehrere Stationen gelaufen, und die Nachricht an sich war zu kurz, um elektronischen Zauberkünstlern in den Diensten seiner zahlreichen Feinde viel Gelegenheit zu bieten. Das weitere Vorgehen war noch cleverer. Sofort rief er eine weitere Nummer an und wiederholte die gerade eingegangene Nachricht. Ein wachsamer Feind, der die Nachricht über verschiedene Mobilfunk-Kanäle verfolgt haben könnte, würde ihn somit für eine weitere Zwischenstation halten. Vielleicht auch nicht. Die in diesen Zeiten nötigen Sicherheitsspiele wurden sehr lästig im täglichen Leben, und man wußte nie recht, was funktionierte oder nicht – bis man eines natürlichen Todes starb, worauf zu warten sich ja kaum lohnte.
Weiter murrend stand er auf, zog sich an und ging nach draußen.
Sein Wagen wartete schon. Die dritte Zwischenstation war sein Chauffeur gewesen. Von zwei Leibwächtern begleitet, fuhren sie an eine sichere Stelle, ein sicheres Gebäude an einem sicheren Ort. Mit Israel mochte Frieden sein, die PLO selbst Teil eines demokratisch gewählten Regimes werden – war denn die Welt total verrückt? –, aber Beirut war weiterhin ein Ort, wo Leute jeglicher Couleur operieren konnten. Das verabredete Zeichen war gesetzt – eine bestimmte Anordnung beleuchteter und unbeleuchteter Fenster – und zeigte ihm an, daß es sicher war, seinen Wagen zu verlassen und ins Gebäude zu kommen. Binnen dreißig Sekunden würde er's jedenfalls wissen. Er war zu verschlafen, besorgt zu sein. Angst wurde langweilig, nach einem Leben, das davon erfüllt war.
Die Tasse Kaffee, bittersüß und stark, wartete auf dem ungedeckten Holztisch. Man begrüßte sich, setzte sich, und die Unterhaltung begann.
»Es ist ziemlich spät.«
»Mein Flug hatte Verspätung«, erklärte sein Gastgeber. »Wir benötigen Ihre Dienste.«
»Wofür?«
»Man könnte es Diplomatie nennen«, war die überraschende Antwort.
»Zehn Minuten«, hörte der Präsident.
Mehr Make-up. Es war 20.20 Uhr. Ryan saß bereits. Mary Abbot legte letzte Hand an sein Haar und verstärkte nur das Gefühl, Ryan sei Schauspieler statt … Politiker? Nein, das nicht. Er weigerte sich, das Etikett anzunehmen, egal, was Arnie oder andere sagen mochten. Durch die offene Tür zur Rechten sah er Callie Weston am Schreibtisch einer Sekretärin stehen. Sie lächelte und nickte ihm zu, um ihr eigenes Unbehagen zu maskieren. Sie hatte ein Meisterwerk – das Gefühl hatte sie immer – geschrieben, und jetzt würde es ein blutiger Anfänger vortragen. Mrs. Abbot ging um den Schreibtisch herum nach vorn, verdeckte dabei ein paar Scheinwerfer, sah nun ihr Werk aus der Zuschauerperspektive an und fand es gut. Ryan saß einfach da und versuchte, nicht nervös zu werden. Er wußte, daß er unter dem Make-up bald schwitzen und daß es dann höllisch jucken würde, er sich aber keinesfalls kratzen durfte, weil Präsidenten sich nicht juckten oder kratzten. Womöglich gab es Leute da draußen, die glaubten, daß Präsidenten nicht aufs Klo gingen oder sich nicht rasierten oder gar die Schuhe zubanden.
»Fünf Minuten, Sir. Mikro-Probe.«
»Eins, zwei, drei, vier, fünf«, sagte Ryan gehorsam.
»Danke, Mr. President«, rief der Regisseur aus dem Nebenraum.
Manchmal dachte Ryan über diese Sachen nach. Präsidenten, die offizielle Erklärungen abgaben – eine Tradition, die zurückging bis zu Franklin D. Roosevelt und seine ›Plaudereien am Kamin‹, die ihm erstmals seine Mutter beschrieb –, erschienen stets selbstsicher und gelassen, und er hatte sich immer gefragt, wie sie den Eindruck wohl schafften. Er fühlte sich weder noch. Ein weitere Schicht Anspannung für ihn.
Die Kameras liefen wohl schon, damit die Aufnahmeleiter sicher waren, ob sie funktionierten, und irgendwo lief eine Bandmaschine mit und nahm den Ausdruck seines Gesichtes auf und die Art, wie seine Hände an den Papieren vor ihm rumspielten. Er fragte sich, ob der Secret Service das Band unter Kontrolle hatte oder ob sie den TV-Leuten vertrauten, bei so was ehrlich zu sein … Gewiß: Deren Moderatoren stießen auch mal eine Kaffeetasse um oder schnauzten einen Assistenten an, weil er was vermasselte, wo man gerade auf Sendung ging … oh, ja, diese Szenen wurden doch Blooper genannt, nicht wahr …? Und er hätte gewettet, auf der Stelle, gleich jetzt, daß der Secret Service ein langes Band solcher präsidialen Fehlleistungen hatte.
»Zwei Minuten.«
Beide Kameras trugen Teleprompter. Eigentlich ein Monitor, der vor der Kamera hing, Bildschirm nach oben. Auf diesem lief der Redetext seitenverkehrt ab, denn gleich drüber war ein schräger Spiegel. Die Kamera stand dahinter und filmte hindurch, während der Präsident dort den Text seiner Rede reflektiert sah. Es schien irgendwie außerweltlich, in eine Kamera, die man nicht sah, zu Millionen Menschen zu sprechen, die nicht dort waren. Eigentlich würde er zu seiner eigenen Rede sprechen. Ryan schüttelte den Kopf, als der Redetext durchraste, um das Scroll-System zu prüfen.
»Eine Minute. Bereithalten.«
Okay. Ryan rückte sich auf dem Sitz zurecht. Er machte sich Sorgen um die Haltung. Arme auf den Schreibtisch pflanzen? Hände in den Schoß legen? Er hatte Anweisung, sich nicht hinten anzulehnen, das sehe zu lässig und zu arrogant aus, aber Ryan neigte dazu, in Bewegung zu bleiben. Wenn er still saß, tat ihm der Rücken weh – oder bildete er sich das nur ein? Ein bißchen spät dafür jetzt. Er spürte die Angst, die stechende Hitze im Magen. Er versuchte, aufzustoßen und unterdrückte es dann doch.
»Fünfzehn Sekunden.«
Aus der Angst wurde fast Panik. Er konnte nicht mehr weglaufen. Er mußte den Job tun. Dies war wichtig. Leute waren angewiesen auf ihn.
Hinter jeder Kamera war ein Kameramann. Drei Secret-Service-Agenten als Aufsicht. Ein Aufnahmeleiter auch noch. Seine einzigen Zuhörer, und die konnte er kaum ausmachen, hinter den grellen Lichtern verborgen, aber die würden ja sowieso nicht reagieren. Wie würde er wissen, was seine wirklichen Zuhörer dachten?
Oh, Scheiße!
Eine Minute zuvor hatten Moderatoren den Leuten gemeldet, was sie schon wußten. Ihre abendliche Sendung verschob sich wegen der Ansprache des Präsidenten. Landesweit griffen eine unbestimmte Zahl Leute zur Fernbedienung und wechselten auf Kabelkanäle, sobald sie das Amtssiegel des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika sahen.
Ryan holte tief Luft, preßte die Lippen zusammen und schaute in die näher stehende Kamera. Das rote Licht ging an. Er zählte bis zwei und begann.
»Guten Abend.«
»Meine amerikanischen Mitbürger, ich habe diese Zeit beansprucht, um Ihnen zu berichten, was in der letzten Woche in Washington geschehen ist, und Ihnen zu sagen, was in den nächsten Tagen geschieht.
Zuallererst: Das Federal Bureau of Investigation und das Justizministerium haben in Zusammenarbeit mit dem Secret Service, dem National Transportation Safety Board und anderen Bundesbehörden eine Untersuchung aufgenommen zu den Umständen des tragischen Todes so vieler unserer Freunde. Sie werden in dankenswerter Weise unterstützt von der Nationalen Polizei Japans und der Royal Canadian Mounted Police. Heute abend werden genauere Informationen freigegeben und erscheinen in Ihren Morgenzeitungen. Für den Augenblick teile ich Ihnen die bisherigen Ermittlungsergebnisse mit.
Der Absturz der Boeing 747 der Japan Air Lines auf das Capitol war die absichtliche Tat eines einzelnen. Sein Name war Sato, Torajiro, ein erfahrener Flugkapitän der Fluggesellschaft. Wir haben über ihn vieles in Erfahrung gebracht. Wir wissen, daß er einen Bruder und einen Sohn in unserem Konflikt mit seinem Land verlor. Offenbar brachte ihn dies aus dem Gleichgewicht, und er beschloß, persönlich Rache zu nehmen.
Nach planmäßiger Landung seiner Passagiermaschine in Vancouver, Kanada, täuschte Kapitän Sato eine Fluganweisung nach London vor, angeblich, um eine defekte Maschine durch seine zu ersetzen. Vor dem Start ermordete Sato kaltblütig seinen Kopiloten. Von da an flog er vollkommen allein, die ganze Zeit mit dem Toten im Nebensitz festgeschnallt.« Ryan hielt inne, seine Augen verfolgten die Worte im Spiegel.
Sein Mund war staubtrocken, als ihn ein Zeichen am Teleprompter anwies, umzublättern.
»Okay, wie können wir dessen sicher sein?
Erstens wurden die Identitäten von Kapitän Sato und seinem Kopiloten durch das FBI anhand von DNS-Tests verifiziert. Von der Nationalen Polizei Japans separat durchgeführte Tests führten zu identischen Ergebnissen. Ein unabhängiges Labor hat diese Tests durch eigene kontrolliert, und wieder waren die Ergebnisse gleich. Die Möglichkeit eines Irrtums ist bei diesen Tests praktisch gleich Null.
Die übrigen Mitglieder der Crew, die noch in Vancouver waren, wurden sowohl vom FBI als auch von der Royal Canadian Mounted Police vernommen und sind sich sicher, daß Kapitän Sato an Bord des Flugzeugs war. Weitere Augenzeugenberichte liegen uns vor: von örtlichen Beamten des kanadischen Verkehrsministeriums und amerikanischen Passagieren vom Hinflug. Vom gefälschten Flugplan haben wir Kapitän Satos Fingerabdrücke. Stimmanalysen der Cockpit-Bänder bestätigen ebenfalls die Identität des Piloten. Es gibt daher keinen Zweifel an der Identität der Flight-Crew.
Zweitens ergibt der aufgezeichnete Cockpit-Ton vom Flight Recorder der Maschine die exakte Zeit des ersten Mordes. Man hört sogar, wie sich Kapitän Sato beim Kopiloten entschuldigt, während er ihn umbringt. Danach gibt es nur eine Stimme auf den Bändern: die des Piloten.
Diese Aufnahmen wurden mit anderen von Kapitän Satos Stimme verglichen, und auch das hat seine Identität positiv bestätigt.
Drittens haben forensische Untersuchungen ergeben, daß der Kopilot beim Absturz bereits mehr als vier Stunden tot war. Der Unglückliche wurde mit einem Messerstich ins Herz ermordet. Es gibt keinen Grund zur Annahme, daß er irgend etwas mit dem zu tun hatte, was sich danach abspielte. Er war lediglich das erste unschuldige Opfer eines monströsen Aktes. Er hinterläßt eine schwangere Frau, und ich möchte Sie alle bitten, an sie zu denken und sie und ihre Kinder in Ihre Gebete einzuschließen.
Die japanische Polizei hat mit dem FBI vorbehaltlos zusammengearbeitet; uns vollen Zugang zu ihrer eigenen Untersuchung und die direkte Befragung von Zeugen und anderen gestattet. Wir haben jetzt vollständige Aufzeichnungen über alles, was Kapitän Sato in den zwei letzten Wochen seines Lebens gemacht hat, wo er gegessen, wann geschlafen, mit wem gesprochen hat. Wir haben keinen Hinweis gefunden, der auf eine mögliche kriminelle Verschwörung schließen läßt oder daß das, was dieser Wahnsinnige getan hat, Bestandteil eines größeren Plans seiner Regierung oder anderer Dritter gewesen wäre. Die Ermittlungen werden fortgeführt, bis jeder Stein, jedes Blatt gedreht und gewendet worden ist, bis jede, auch noch so kleine Möglichkeit überprüft wurde, doch die Informationen, die wir bereits haben, würden jedes Geschworenengericht überzeugen, und darum kann ich sie Ihnen jetzt darbieten.« Jack machte eine kurze Pause und lehnte sich ein wenig nach vorn.
»Meine Damen und Herren, der Konflikt zwischen unserem Land und Japan ist vorüber. Diejenigen, die ihn verursacht haben, werden vor Gericht gestellt. Das hat mir Premierminister Koga persönlich versichert.
Mr. Koga ist ein Mann von Ehre und Tapferkeit. Ich kann Ihnen jetzt erstmals mitteilen, daß er selber gekidnappt und fast umgebracht wurde von denselben Verbrechern, die den Konflikt seines Landes mit unserem verschuldeten. Aus der Gewalt seiner Kidnapper befreit wurde er in einer Spezialoperation mitten im Zentrum von Tokio; von Amerikanern, unterstützt von japanischen Beamten. Nach seiner Befreiung hat er unter großem persönlichem Risiko mitgewirkt, den Konflikt schnellstmöglich zu beenden und seinem Land und unserem weiteren Schaden zu ersparen. Ohne seinen Einsatz wären auf beiden Seiten mehr Opfer zu beklagen. Ich bin stolz darauf, Koga Minoru zu meinen Freunden zu zählen.
Vor nur wenigen Tagen, Minuten nachdem er in unserem Land eintraf, hatten der Premierminister und ich eine persönliche Begegnung, gleich hier im Oval Office. Von hier aus sind wir zum Capitol gefahren, und dort haben wir gemeinsam gebetet. Diesen Augenblick werde ich nie mehr vergessen.
Ich war auch dort, als das Flugzeug einschlug. Ich befand mich im Tunnel zwischen dem House Office Building und dem Capitol, mit meiner Frau und den Kindern. Ich sah eine Flammenwand auf uns zurasen und stocken und sich zurückziehen. Das werde ich wohl nie mehr vergessen.
Der Frieden zwischen Amerika und Japan ist völlig wiederhergestellt.
Weder jetzt noch zuvor hatten wir Streit mit dem Volk dieses Landes.
Ich rufe Sie alle dazu auf, jegliche Haßgefühle gegenüber Japanern jetzt und für alle Zeit abzulegen.«
Er hielt wiederum inne und sah, daß auch der Text auf dem Teleprompter stehenblieb. Er blätterte weiter.
»Jetzt stehen wir alle vor einer großen Aufgabe. Meine Damen und Herren, eine aus der Bahn geworfene, irre gewordene Einzelperson hat gemeint, unserem Land tödlichen Schaden zufügen zu können. Er irrte sich. Wir haben unsere Toten begraben. Ihren Verlust werden wir noch lange beklagen. Unser Land aber lebt, und die Freunde, die wir in jener schrecklichen Nacht verloren haben, würden es nicht anders haben wollen.
Thomas Jefferson hat gesagt, der Baum der Freiheit braucht öfters Blut, um wachsen zu können. Nun, das Blut ist geflossen, jetzt ist es an der Zeit, daß der Baum wieder wächst. Amerika ist ein Land, das nach vorn blickt, nicht zurück. Keiner von uns kann die Vergangenheit ändern. Aber wir können daraus lernen, auf unsere vergangenen Erfolge aufbauen und aus unseren Fehlern lernen.
Im Augenblick, das kann ich Ihnen sagen, ist unser Land als Ganzes unversehrt und sicher. Unser Militär steht rund um den Globus auf dem Posten, und unsere potentiellen Widersacher wissen das. Unsere Wirtschaft hat einen heftigen Schock erlitten, ihn aber überstanden und ist immer noch die stärkste der Welt. Dieses Land ist immer noch Amerika.
Wir sind immer noch Amerikaner, und unsere Zukunft beginnt mit jedem neuen Tag.
Heute ernannte ich George Winston zum amtierenden Finanzminister. George führt eine große New Yorker Investmentgesellschaft, die er gegründet hat. Er hat wesentlich dazu beigetragen, den Schaden, den unsere Finanzmärkte erlitten, zu beheben. Er ist ein Selfmademan – wie Amerika ein Selfmade-Land ist. Ich werde bald weitere Kabinettsmitglieder ernennen und Ihnen diese mit jeder Ernennung vorstellen.
George kann aber so lange kein vollständiges Kabinettsmitglied werden, bis der Senat wiederhergestellt ist, dessen Mitglieder von der Verfassung beauftragt sind, bei solchen Ernennungen mit Rat und Bestätigung mitzuwirken. Neue Senatoren auszuwählen ist Aufgabe der Gouverneure der diversen Staaten. Ab nächster Woche werden die Gouverneure Personen benennen, um die vakanten Posten zu besetzen.«
Jetzt kam der heikle Teil. Wieder beugte er sich etwas vor.
»Meine lieben Mitbürger – halt, das ist eine Phrase, die mir nicht gut gefällt. Noch nie gefallen hat.« Jack schüttelte den Kopf etwas und hoffte, daß es nicht zu theatralisch wirkte.
»Mein Name ist Jack Ryan. Mein Vater war ein Cop. In den Staatsdienst gelangte ich als Marine, gleich nach dem Abschluß am Boston College. Das dauerte nicht sehr lange. Bei einem Hubschrauberabsturz wurde ich verletzt, und mein Rücken machte mir jahrelang Schwierigkeiten. Mit einunddreißig nahmen mich Terroristen aufs Korn. Sie haben alle davon gehört und wie's ausgegangen ist, aber Sie wissen nicht, daß ich aufgrund des Vorfalls wieder in den Staatsdienst eingetreten bin.
Mein Leben damals war glücklich. Mit Aktienhandel hatte ich ein bißchen Geld verdient, hatte es aufgesteckt und war zur Geschichte zurückgekehrt, meiner ersten Liebe. An der Naval Academy habe ich Geschichte gelehrt – sehr gern gelehrt – und glaube, ich wäre für immer dabei geblieben, wie meine Frau, Cathy, nichts mehr liebt als medizinische Praxis und sich um mich und die Kleinen zu kümmern. Wir wären vollkommen zufrieden gewesen, in unserem Haus zu wohnen, unserer Arbeit nachzugehen und unsere Kinder großzuziehen. Ich weiß, ich wäre es gewesen.
Aber ich konnte es nicht. Terroristen waren über meine Familie hergefallen, da beschloß ich, etwas zu tun, um meine Frau und meine Kinder zu beschützen. Und mir wurde klar, daß nicht nur wir Schutz brauchten und daß ich manche Talente besaß, und so trat ich wieder in den Staatsdienst ein und ließ meine Liebe zur Lehre zurück.
Ich diene meinem Land – Ihnen – jetzt seit etlichen Jahren, aber ich bin nie Politiker gewesen, und wie ich George Winston heute in diesem Büro sagte, habe ich auch nicht die Zeit zu lernen, einer zu werden. Aber ich habe fast das ganze Berufsleben im Staatsdienst zugebracht, und da habe ich einiges darüber gelernt, wie eine Regierung funktionieren sollte.
Meine Damen und Herren, es ist nicht die Zeit, übliche Dinge auf übliche Art und Weise zu erledigen. Wir müssen es besser machen. Wir können es besser machen.
John F. Kennedy hat uns einmal gesagt: ›Frage nicht, was der Staat für dich tun kann. Frage, was du für den Staat tun kannst.‹ Das sind gute Worte, aber wir haben sie vergessen. Wir müssen uns wieder an sie erinnern. Unser Land braucht uns alle.
Ich brauche Ihre Hilfe, um meine Arbeit zu tun. Wenn Sie glauben, das schaffte ich allein, irren Sie sich. Wenn Sie glauben, die Regierung kann sich von selbst wiederherstellen, irren Sie sich. Wenn Sie glauben, die Regierung, kaputt oder ganz, kann sich in allem um Sie kümmern, irren Sie sich. Sie, Männer und Frauen da draußen, Sie sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Ich arbeite für Sie, habe die Aufgabe, die Verfassung der Vereinigten Staaten zu erhalten, zu schützen und zu verteidigen, und das werde ich nach besten Kräften tun, aber jeder von Ihnen gehört mit zum Team.
Wir brauchen unsere Regierung, um Dinge für uns zu tun, die wir nicht selber können: die Landesverteidigung zu besorgen, Recht durchzusetzen, bei Katastrophen zu helfen. Das sagt die Verfassung. Das Dokument, das ich geschworen habe zu schützen und zu verteidigen, ist eine Sammlung von Bestimmungen, die eine Gruppe recht gewöhnlicher Menschen verfaßt hat. Sie waren nicht einmal alle Juristen, und dennoch haben sie das bedeutendste politische Dokument der Menschheitsgeschichte geschrieben. Ich möchte, daß Sie darüber nachdenken.
Es waren gewöhnliche Leute, die etwas Außergewöhnliches vollbracht haben. Regieren ist keine Zauberei.
Ich brauche einen neuen Kongreß zur Zusammenarbeit. Der Senat wird als erstes wiedererstehen, denn die Gouverneure werden Nachfolger für die einundneunzig Männer und Frauen benennen, die wir vorige Woche verloren haben. Das Repräsentantenhaus aber ist immer das Haus des Volkes gewesen, also ist es Ihre Aufgabe, Ihre Vertreter zu bestimmen, in einem demokratischen Wahlverfahren.« Jetzt geht's los, Jack!
»Darum habe ich an Sie, und an die fünfzig Gouverneure, eine Bitte.
Schicken Sie mir bitte keine Politiker. Wir haben die Zeit nicht, das Anstehende in langwieriger Prozedur abzuwickeln. Ich brauche Leute, die in der realen Welt reelle Dinge tun. Ich brauche Leute, die nicht in Washington leben wollen. Ich brauche Leute, die nicht das System ausnehmen wollen. Ich brauche Leute, die unter großen Opfern herkommen, eine wichtige Aufgabe bewältigen und wieder zu ihrem Leben nach Hause gehen.
Gebt mir Ingenieure, die wissen, wie man was baut. Gebt mir Ärzte, die wissen, wie man Kranke heilt. Gebt mir Polizisten, die erkennen, wenn Ihre Bürgerrechte von Kriminellen verletzt werden. Gebt mir Farmer, die auf echtem Land echte Nahrungsmittel hervorbringen. Gebt mir Leute, denen schmutzige Hände nicht fremd sind, denen nicht fremd ist, das Häuschen oder ihre Wohnung abzubezahlen, Kinder großzuziehen und sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Gebt mir Leute, die wissen, sie arbeiten für Sie und nicht für sich selbst. Das ist es, was ich mir wünsche. Das ist, was ich brauche. Und ich glaube, das wünschen sich auch die meisten von Ihnen.
Wenn die Leute dann hier sind, ist es an Ihnen, ein Auge auf sie zu haben, damit sie Wort halten, damit sie weiter Ihr Vertrauen verdienen.
Es ist Ihre Regierung. Viele haben Ihnen das schon gesagt, aber ich mein's ernst. Teilen Sie Ihren Gouverneuren mit, was Sie von denen erwarten, wenn die Ernennungen für den Senat anstehen, und dann suchen Sie die richtigen Leute fürs Repräsentantenhaus aus. Das sind die Leute, die beschließen, wieviel von Ihrem Geld der Staat bekommt und wie es ausgegeben wird. Es ist Ihr Geld, nicht meins. Es ist Ihr Land.
Wir alle arbeiten für Sie.
Ich für meinen Teil hole die besten Leute ins Kabinett, die ich finden kann: Leute, die ihr Geschäft verstehen, Leute, die echte Arbeit geleistet und echte Ergebnisse erzielt haben. Alle werden aus diesem Office denselben Befehl haben: sein oder ihr Ministerium straff zu leiten, Prioritäten zu setzen und dafür zu sorgen, daß jede Regierungsbehörde effektiv arbeitet. Eine große Bestellung und eine, die Sie alle nicht zum erstenmal hören. Aber dieser Präsident hat keinen Wahlkampf geführt.
Ich muß keine Schulden bezahlen, keine Vergünstigungen gewähren, keine geheimen Versprechen einlösen. Ich werde, verdammt noch mal, mein Möglichstes tun, meine Pflichten zu erfüllen. Vielleicht habe ich nicht immer recht, und wenn, ist es Ihre Aufgabe und die derjenigen, die Sie zu Ihren Vertretern wählen, mir das zu sagen, und auf die und auf Sie werde ich hören.
Ich werde Ihnen regelmäßig darüber berichten, was geschieht und was Ihre Regierung tut.
Ich möcht Ihnen danken, daß Sie mir zugehört haben. Ich werde meine Arbeit tun. Und hoffe, daß Sie die Ihre tun.
Danke und gute Nacht.«
Jack wartete und zählte bis zehn, ehe er sicher sein konnte, daß die Kameras abgeschaltet waren. Dann nahm er das Wasserglas und wollte trinken, aber seine Hand zitterte so sehr, daß er das Wasser fast ausschüttete. In stillem Zorn starrte er auf das Glas. Warum zitterte er denn jetzt? Der spannende Teil war doch jetzt vorbei, oder?.
»He, Sie haben ja gar nicht gekotzt«, sagte Callie Weston, die plötzlich neben ihm stand.
»Ist das gut?«
»Aber ja, Mr. President. Erbrechen im bundesweiten Fernsehen hat die Tendenz, Leute aufzuregen«, erwiderte die Redenschreiberin mit johlendem Gelächter.
Andrea Price stellte sich in 3D und Farbe vor, ihre Automatik zu ziehen.
Arnie van Damm machte nur ein besorgtes Gesicht. Er wußte, daß sich Ryan nicht vom Kurs abbringen ließ. Die üblichen kritischen Bemerkungen, auf die Präsidenten sonst hörten – Wollen Sie wiedergewählt werden? Dann geben Sie acht! –, funktionierten einfach nicht.
Wie konnte er jemanden beschützen, der sich nicht um das einzige scherte, das zählte?
*
»Erinnern Sie sich noch an die Gong Show?« fragte Ed Kealty.
»Wer hat bloß diese Abtreibungsanleitung geschrieben?« johlte sein Rechtsberater drein. Dann wandten alle drei, die sich in dem Raum befanden, ihre Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu. Das Bild wechselte von einer Außenaufnahme des White House zu einer Studioaufnahme.
»Also, das war eine höchst interessante politische Erklärung«, stellte Tom, der Moderator, mit ausdruckslosem Pokergesicht fest. »Mir fällt auf, der Präsident hat sich diesmal an die vorbereitete Rede gehalten.«
»Interessant und dramatisch«, gab John, der Kommentator, zu. »Keine typische Präsidentenrede.«
»Warum, John, beharrt Präsident Ryan so sehr darauf, sich von unerfahrenen Leuten beim Regieren helfen zu lassen? Brauchen wir nicht erfahrene Leute, um das System wieder aufzubauen?« fragte Tom.
»Die Frage werden sich viele stellen, insbesondere in dieser Stadt …«
»Darauf könnt ihr wetten!« warf Kealtys Stabschef ein.
»… und das interessanteste ist, daß er es wissen muß, und falls nicht, hätte Stabschef Arnold van Damm, einer der gewieftesten politischen Taktiker, den die Stadt je gesehen hat, Mr. Ryan das klar und deutlich gemacht.«
»Was halten Sie von seiner ersten Berufung, George Winston?«
»Winston leitet die Columbus Group, eine Investmentgesellschaft, selbst gegründet. Er ist ungeheuer reich, wie uns Präsident Ryan sagte, ein Selfmademan. Nun, wir brauchen einen Finanzminister, der sich mit Geld und den Finanzmärkten auskennt, und das trifft sicher auf Mr. Winston zu, aber viele werden beklagen …«
»Daß er ein Insider ist.« Kealty grinste hämisch.
»… mit zu vielen Verbindungen zum System«, fuhr John fort.
*
»Wie meinen Sie, wird das offizielle Washington wohl auf diese Rede reagieren?« fragte Tom.
»Was für ein offizielles Washington?« knurrte Ryan. Für ihn war es eine Erstaufführung. Seine zwei Bücher waren bei Kritikern ganz gut weggekommen, aber da hatte er ein paar Wochen warten müssen, bis sich die Leute äußerten. Vielleicht war es falsch, sich die Sofortanalyse anzusehen, aber unmöglich zu vermeiden. Das Schwierige war, diverse Analysen auf den Apparaten gleichzeitig zu verfolgen.
»Jack, das offizielle Washington sind fünfzigtausend Anwälte und Lobbyisten«, machte Arnie ihm klar. »Sie sind vielleicht nicht gewählt oder ernannt worden, sind aber offiziell wie die Hölle. Und die Medien auch.«
»Ist mir aufgefallen«, erwiderte Ryan.
»… und wir brauchen erfahrene Profis, um das System wieder zusammenzusetzen. Das werden sie sagen. Und viele Leute in dieser Stadt werden dem zustimmen.«
»Was halten Sie von seiner Enthüllung zum Krieg und zum Flugzeugabsturz?«
»Was mich am meisten interessierte, war seine ›Offenbarung‹, daß Ministerpräsident Koga erst von seinen eigenen Landsleuten gekidnappt wurde, dann von Amerikanern befreit worden ist. Es wäre interessant, darüber mehr zu erfahren. Der Präsident verdient Lob für sein offenes Bestreben, die Dinge zwischen unserem Land und Japan beizulegen. Von mir bekommt er dafür eine Eins. Mit der Präsidentenrede erhielten wir ein Foto.« Das Fernsehbild wechselte und zeigte jetzt Ryan und Koga am Capitol. »Es ist wirklich ein bewegender Augenblick, den der White-House-Fotograf festgehalten hat …«
»Aber das Capitol liegt halt noch in Trümmern, John, und so, wie wir gute Architekten und Handwerker brauchen, um es wieder aufzubauen, denke ich, brauchen wir auch etwas anderes als Amateure, um die Regierung wiederherzustellen.« Tom wandte sich um und starrte direkt in die Kamera. »Das war also die erste offizielle Rede von Präsident Ryan.
Über weitere Entwicklungen berichten wir. Jetzt kehren wir für Sie zum vorgesehenen Programm zurück.«
»Das ist unser Thema, Ed.« Der Stabschef erhob sich und streckte sich. »Genau das ist es, was wir sagen müssen, und genau das ist es, warum Sie beschlossen haben, in die politische Arena zurückzukehren, wie abträglich das Ihrem Ruf auch sein mag.«
»Legen Sie mit den Anrufen los!« befahl Edward J. Kealty.
*
»Mr. President.« Der Chef Steward präsentierte ihm einen Drink auf einem Silbertablett. Ryan nahm ihn und nippte am Sherry.
»Danke!«
»Mr. President, endlich …«
»Mary Pat, wie lange kennen wir uns schon?« Ryan hatte den Eindruck, daß er neuerdings immerzu diese Frage stellte.
»Mindestens zehn Jahre«, erwiderte Mrs. Foley.
»Neuer Grundsatz, sogar Exekutivbefehl: Nach Feierabend, wenn Drinks serviert werden, heiße ich Jack.«
»Muy bien, jefe«, stellte Chavez fest, mit Humor, doch mit Vorsicht.
»Irak?« fragte Ryan knapp.
»Still, aber sehr gespannt«, antwortete Mary Pat. »Wir hören nicht viel, aber das wenige zeigt, daß das Land dichtgemacht ist. Die Armee ist auf den Straßen, die Leute sitzen in ihren Häusern vor den Fernsehern. Das Begräbnis unseres Freundes ist morgen. Was dann kommt, wissen wir nicht. Wir haben einen recht gut plazierten Agenten im Iran, der macht die politische Runde. Das Attentat kam völlig überraschend, und er hört nichts, bis auf die erwartete Lobpreisung Allahs für die Rücknahme unseres Freundes.«
»In der Annahme, Gott will ihn haben. Das war eine saubere Arbeit«, sagte Clark als Fachmann. »Ziemlich typisch im kulturellen Sinn. Ein Märtyrer, der sich selbst opfert. Ihn da einzuschleusen muß Jahre gedauert haben, aber Freund Daryaei ist ja der geduldige Typ. Nun, Sie sind ihm ja schon begegnet. Erzählen Sie's uns, Jack.«
»Die bösesten Augen, die ich je gesehen habe«, sagte Ryan ruhig und nippte an seinem Drink. »Dieser Mann weiß zu hassen.«
»Er wird was unternehmen, sicher wie das Fegefeuer.« Clark hatte einen Wild Turkey mit Wasser. »Bestimmt werden die Saudis darüber nervös.«
»Das ist noch mild ausgedrückt«, sagte Mary Pat. »Ed ist für ein paar Tage drüben, und das ist genau, was er mitbekommt. Die haben den militärischen Bereitschaftsgrad erhöht.«
»Und mehr haben wir nicht«, faßte Präsident Ryan zusammen.
»Praktisch, ja. Wir bekommen viel Signale aus dem Irak, und der Inhalt ist nicht überraschend. Der Deckel ist festgeschraubt, aber im Topf darunter kocht es. Wir machen natürlich verstärkt Satellitenaufnahmen von …«
»Okay, Mary Pat, halten Sie jetzt Ihre Rede!« befahl Jack. Im Augenblick wollte er nichts über Satellitenfotos hören.
»Ich will meine Hauptabteilung erweitern.«
»Wie stark?« Dann sah er zu, wie sie tief Luft holte. Es war ungewöhnlich, Mary Patricia Foley wegen irgend etwas nervös zu sehen.
»Das Dreifache. Wir haben jetzt sechshundertsiebenundfünfzig Field Officers. Die Zahl will ich in den nächsten drei Jahren auf zweitausend erhöhen.« Sie ließ die Worte hervorsprudeln, Ryans Gesicht im Blick, und wartete auf dessen Reaktion.
»Genehmigt, wenn Sie es bei gleichbleibenden Personalkosten schaffen.«
»Nichts leichter als das, Jack«, Clark gluckste. »Zweitausend Schreibtischpimpfe rauswerfen, da würde sogar Geld eingespart.«
»Das sind Leute mit Familie, John«, sagte der Präsident zu ihm.
»Die Direktorate Intelligence und Administration sind bis zur Totenstarre überbesetzt. Sie waren dort. Sie wissen das. Es lohnt sich ja schon, um Parkplätze freizuschaufeln. Vorruhestand wird das meiste besorgen.«
Ryan dachte eine Sekunde nach. »Ich brauche jemanden, der die Axt schwingt. MP, macht es Ihnen etwas aus, wieder unter Ed zu arbeiten?«
»Es ist die übliche Position, Jack«, erwiderte Mrs. Foley, ein Funkeln in den übermütigen blauen Augen. »Ed ist in der Verwaltung besser als ich, aber ich war immer besser im direkten Einsatz.«
»Plan Blau?«
Darauf antwortete Clark: »Jawohl, Sir. Ich möchte gern, daß wir uns Cops suchen, junge Detectives, normale Männer in Blau. Sie wissen, warum. Die sind weitgehend vortrainiert, haben Straßenerfahrung.«
Ryan nickte. »Okay. Mary Pat, nächste Woche nehme ich mit Bedauern das Rücktrittsgesuch des DCI an und gebe Ed den Posten. Er soll mir einen Plan vorlegen, DO zu erweitern und DI und DA zu verringern. Im gebührenden Fristverlauf werde ich zustimmen.«
»Spitze!« Mrs. Foley prostete ihrem Oberbefehlshaber mit dem Weinglas zu.
»Da ist noch etwas. John?«
»Ja, Sir?«
»Als Roger mich bat, Vize zu werden, hatte ich eine Bitte an ihn.«
»Und das war?«
»Ich werde einen Gentleman namens John T. Kelly amnestieren. Und zwar noch in diesem Jahr. Sie hätten mir sagen sollen, daß mein Dad Ihren Fall bearbeitet hat.«
Zum erstenmal seit langer, langer Zeit wurde Clark kreidebleich.
»Woher wußten Sie das?«
»Es war bei Jim Greers persönlichen Akten. Die sind mir vor ein paar Jahren zu – äh – gewandert. Mein Vater hatte den Fall. Hab' ich nicht vergessen. All die Frauen, ermordet. Ich weiß noch, wie das Ganze an ihm zerrte und wie froh er war, als er's hinter sich hatte. Er hat nie richtig über den Fall gesprochen, aber ich weiß, wie ihm da zumute war.«
Jack schaute runter in sein Glas und ließ das Eis kreisen. »Wissen Sie, ich glaube, er wäre glücklich darüber, und ich glaube, es hätte ihn das Wissen glücklich gemacht, daß Sie nicht mit dem Schiff untergingen.«
»Jesus, Jack … Ich meine … Mein Gott.«
»Sie verdienen es, Ihren Namen zurückzubekommen. Ich kann nicht befürworten, was Sie getan haben. Ich darf jetzt nicht einmal so denken.
Als Privatperson könnte ich es vielleicht – aber Ihren Namen verdienen Sie zurück, Mr. Kelly.«
»Danke, Sir.«
Chavez fragte sich, worum es hier ging. Er dachte an diesen Burschen auf Saipan, den pensionierten Chief von der Küstenwache, und die paar Worte über umgebrachte Leute. Nun, er wußte, Mr. C. wurde beim Gedanken daran nicht ohnmächtig, aber dies mußte eine tolle Geschichte sein.
»Gibt's sonst noch was?« fragte Jack. »Ich würde gern zu meiner Familie zurück, bevor alle Kinder im Bett sind.«
»Plan Blau ist also genehmigt?«
»Ja, ist er, MP. Sobald Ed seinen Ausführungsplan vorlegt.«
»Den habe ich auf dem Heimflug, so schnell die seine Maschine anwerfen können«, versprach MP.
»Schön.« Jack erhob sich und ging zur Tür. Seine Gäste taten dasselbe.
»Mr. President?« Es war Ding Chavez.
Ryan drehte sich um. »Ja?«
»Was wird denn aus den Vorwahlen?«
»Was meinen Sie?«
»Ich bin heute mal an der Schule vorbei, da sagte mir Dr. Alpher, alle ernsthaften Kandidaten beider Parteien sind vorige Woche ums Leben gekommen und die Anmeldefristen für alle Vorwahlen sind verstrichen.
Nichts geht mehr. Wir haben ein Wahljahr, und niemand tritt an. Die Presse hat dazu noch nichts gebracht.«
Sogar Agent Price riß darüber die Augen auf, dann begriffen plötzlich alle, daß das stimmte.
*
»Paris?«
»Professor Rousseau vom Pasteur-Institut glaubt, eine Behandlungsmethode zu haben. Im Versuchsstadium, aber das wäre ihre einzige Chance.«
Auf dem Korridor vor Schwester Jean Baptistes Zimmer besprachen sie sich. Beide trugen blaue Plastik-›Raumanzüge‹ und schwitzten darin, trotz des Klima-Packs am Gürtel. Ihre Patientin würde sterben, das war schon schlimm genug, aber die Art ihres Todes würde an Schrecken unfaßbar sein. Benedikt Mkusa hatte ja Glück gehabt. Aus irgendeinem Grund hatte Ebola sein Herz eher angegriffen als üblich; ein seltener Segen, der dem Jungen erlaubt hatte, viel schneller zu sterben als üblich.
Diese Patientin hatte nicht soviel Glück. Bluttests ließen erkennen, daß ihre Leber angegriffen wurde, aber langsam. Die Herzenzyme waren noch im Normbereich. Ebola schritt in ihrem Körper rasch fort, aber gleichmäßig. Ihr Magen-Darm-Trakt zerfiel förmlich. Der Blutverlust durch Erbrechen und Durchfall war ernst, und die Schmerzen waren sehr stark, doch der Körper dieser Frau bäumte sich dagegen auf, in einem heldenhaften, aber aussichtslosen Bemühen. Einziger Lohn für den Kampf würden noch stärkere Schmerzen sein, und jetzt schon verlor das Morphium seinen Vorsprung vor den Qualen.
»Aber wie könnten wir …« Sie brauchte nicht fortfahren. Air Afrique bot die einzige Verbindung nach Paris, aber weder diese Fluggesellschaft noch eine andere würde einen Ebola-Patienten befördern, aus naheliegenden Gründen. All das kam Dr. Moudi sehr gelegen.
»Ich könnte den Transport arrangieren. Ich komme aus einer wohlhabenden Familie. Ich lasse ein Privatflugzeug kommen und uns nach Paris bringen. So wäre es auch leichter, die nötige Vorsorge zu treffen.«
»Ich weiß nicht. Ich muß …« Maria Magdalena zögerte.
»Ich will Sie nicht anlügen, Schwester. Sie wird vermutlich auf alle Fälle sterben, und wenn es überhaupt eine Chance gibt, dann nur bei Professor Rousseau. Ich habe bei ihm studiert, und wenn er sagt, er hat etwas, dann hat er etwas. Lassen Sie mich das Flugzeug kommen lassen«, beharrte er.
»Ich kann nicht nein dazu sagen, aber ich muß …«
»Ich verstehe.«
Das fragliche Flugzeug war eine Gulfstream G-IV und landete gerade auf dem Rashid-Flugplatz, der im Osten einer weiten Schleife des Flusses Tigris lag, der hier Nahr Dulah hieß. Die Nummer am Flugzeugheck zeigte, daß es in der Schweiz registriert war. Dort gehörte es einem Unternehmen, das mit verschiedenen Dingen handelte und pünktlich seine Steuern zahlte, und damit endete das offizielle Interesse der Schweizer Behörden. Der Herflug war kurz und ohne Besonderheiten verlaufen, außer vielleicht zur Tageszeit und zur Flugroute: Beirut, Teheran, Bagdad.
Sein wirklicher Name war Ali Badrayn, und obgleich er unter diversen anderen Namen gelebt und gearbeitet hatte, war er schlußendlich zum eigenen wiedergekehrt, denn der war irakischen Ursprungs. Seine Familie hatte den Irak verlassen, um in Jordanien vermeintliche Wirtschaftsvorteile zu genießen, dann aber wie alle in der Region den Strudel der Ereignisse erlebt, eine Lage, die nicht besser wurde, als ihr Sohn der Bewegung beitrat, die sich die Vernichtung Israels auf die Fahnen schrieb. Der jordanische König, der die Gefahr erkannte, hatte mit der prompten Ausweisung der Gefahrenquelle Badrayns Familie ruiniert.
Ihn hatte es damals nicht sonderlich bekümmert.
Jetzt bekümmerte es ihn ein wenig. Das Leben eines Terroristen verlor mit den Jahren an Reiz, und auch als einer der Besten der Branche, besonders, was Informationsbeschaffung betraf, hatte es ihm wenig eingebracht bis auf die unsterbliche Feindschaft vom erbarmungslosesten Geheimdienst der Welt. Etwas Bequemlichkeit und Sicherheit wären jetzt doch willkommen. Vielleicht würde ihm diese Mission dazu verhelfen. Seine Identität als Iraker und die Aktivitäten seines Lebens hatten ihm in der ganzen Region Kontakte beschert. Er hatte dem irakischen Geheimdienst Informationen gegeben und geholfen, zwei Leute auszugraben, die sie eliminieren wollten. Das hatte ihm Zutritt verschafft, und deshalb war er hier.
Das Flugzeug kam zum Stehen, der Kopilot kam nach hinten und ließ die Treppe herunter. Ein Auto hielt an. Er stieg ein, und es fuhr an.
»Friede sei mit dir«, sagte er zum anderen Mann auf dem Rücksitz des Mercedes.
»Friede?« schnaubte der General. »Die ganze Welt schreit, daß wir sehr wenig davon haben.« Eindeutig, fiel Badrayn auf, hatte der Mann seit dem Tod seines Präsidenten nicht mehr geschlafen. Vom vielen Kaffee zitterten ihm die Hände oder vielleicht vom Alkohol, mit dem er gegengesteuert hatte. Kein Vergnügen, in die kommende Woche zu sehen und sich fragen zu müssen, ob man sie überlebt. Einerseits mußte man wach bleiben. Andererseits davonkommen. Dieser General hatte Frau und Kinder, neben seiner Mätresse. Nun, das traf wohl auf alle zu.
Gut.
»Keine glückliche Lage, aber die Dinge sind unter Kontrolle, ja?« Der Blick, den die Frage erzeugte, war Antwort genug. Da war nur ein guter Aspekt: Hätte man den Präsidenten nur verwundet, dieser Mann wäre jetzt tot, weil er den Attentäter nicht abgefangen hatte. Ein gefährlicher Beruf, Geheimdienstchef eines Diktators zu sein. Er hatte seine Seele dem Teufel verpfändet und sich vorgemacht, die Schuld würde niemals beigetrieben. Wie konnte ein intelligenter Mensch nur so ein Narr sein?
»Warum sind Sie hier?« fragte der General.
»Um Ihnen eine goldene Brücke zu zeigen.«