27. Kapitel
Ich nannte Kevin meine Adresse und raste nach Hause, um schnell noch aufzuräumen, während er das Essen besorgte. Obwohl ich mein Haus immer in Ordnung hielt, wollte ich sicherheitshalber noch einmal kurz alles überprüfen. Ich rannte herum und verfrachtete die Bücher und Notizen, die sich auf meinem Küchentisch stapelten, zurück in mein Arbeitszimmer. Es klingelte an der Tür.
Kevin trug ein weinrotes Rugbyhemd und Jeans. Ich nahm ihm die Jacke ab, und als er an mir vorbei ins Haus ging, fing ich den Duft von Seife und Rasierwasser auf. Seine Haare waren noch feucht – er hatte also auch noch schnell für Ordnung gesorgt. Er sah sich bewundernd um, als er die Tüte mit dem Essen auf die Arbeitsplatte in der Küche stellte und es sich gemütlich machte. »Dein Haus ist wunderschön.« Lächelnd drehte er sich um.
Ich versuchte zurückzulächeln, während ich ein paar Schüsseln holte. »Danke.«
Unsere Blicke trafen sich. Seine Stimme klang tiefer als sonst, als er sagte: »Ich weiß, dass du den Kopf voll hast. Ich möchte dir nur ein Freund sein und dich unterstützen.«
Ich empfand eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung bei seinen Worten. Enttäuschung? Wieso das? Ich drehte mich um, um das Wasser aufzusetzen, und sagte: »Magst du grünen Tee?«
»Ich habe uns Sake mitgebracht. Ich dachte, du könntest vielleicht etwas Stärkeres vertragen.«
Ich setzte den Wasserkocher wieder ab. »Wahrscheinlich hast du recht.«
Es war lange her, dass ich Miso-Suppe gegessen oder Sake getrunken hatte, und beides brachte meinen Körper auf angenehme Weise zum Glühen. Als wir am Tisch saßen, erzählte ich ihm, wie ich mich bei der Szene im Monkey House gefühlt hatte, und Kevin hörte aufmerksam zu. Anschließend vertraute er mir an, dass er einen jüngeren Bruder hatte, der drogenabhängig geworden war. Sein Bruder hatte sein Leben schließlich auf die Reihe bekommen, und jetzt standen sie sich ziemlich nahe.
Eingelullt von dem Sake zogen wir ins Wohnzimmer um. Am Feuer entspannte ich mich noch mehr. Allmählich kam ich zu dem Schluss, dass Kevin recht haben könnte. Selbst wenn Lisa zu einem Retreat gegangen war, bedeutete es noch nicht, dass sie anschließend in der Kommune blieb. Sie würde clean werden und dann hoffentlich ein paar Veränderungen in ihrem Leben vornehmen. Sie würde kräftiger werden, da im Zentrum außer Marihuana keine Drogen erlaubt waren. Zudem war Lisa älter als ich damals, als wir in der Kommune lebten, und sie hatte einen starken Willen, eine Kämpfernatur. Wahrscheinlich würde sie nicht einmal den Retreat zu Ende mitmachen, sobald sie herausfand, wie viele Regeln es dort gab. Die würden gar keine Zeit haben, an ihr herumzupfuschen. Selbst Daniel hatte gesagt, dass viele Leute nach dem ersten Wochenende das Zentrum wieder verließen. In der Zwischenzeit konnte ich nur akzeptieren, dass ich alles getan hatte, was ich konnte, und dass es nichts mehr gab, was ich noch versuchen könnte.
Als ich Kevin im Schein des Feuers betrachtete, glänzte sein Haar, und seine braunen Augen reflektierten die flackernden Flammen. Er erzählte mir von einigen seiner Reisen. Ich beobachtete seine Hand, die das Glas hielt, die ungezwungenen Bewegungen, mit denen er es immer wieder an die Lippen führte. Er erzählte von einigen Meditationstechniken, die er in Indien erlernt hatte, und ich sagte: »Du warst anscheinend sehr viel unterwegs. Bist du allein verreist? Oder warst du verheiratet?«
»Früher einmal, aber auf den Reisen war ich Single. Das war einer der Hauptgründe, warum ich überhaupt aufgebrochen bin. Ich brauchte Zeit für mich.«
»Geschieden?« Ich stellte ihn mir mit einer Frau zusammen vor, die er an der Universität kennengelernt hatte, mit der er sich dann aber auseinandergelebt hatte, als sie beide zu arbeiten begannen – eine nicht seltene Entwicklung.
»Nein, verwitwet.«
Ich starrte ihn an, mein Glas verharrte auf halbem Weg zum Mund. Er war ebenfalls verwitwet?
Er wirkte leicht amüsiert. »Alles in Ordnung?«
»Ja, tut mir leid. Ich bin nur erstaunt, dass ich das nicht wusste.«
»Ich habe es niemandem im Krankenhaus erzählt.«
Noch eine Überraschung. Er wirkte wie ein offenes Buch, doch jetzt fragte ich mich, was er noch alles verschwieg. Mir wurde bewusst, dass seine Hand auf der Rückenlehne des Sofas lag. Wenn ich mich zurücklehnen würde, würde mein Nacken sie berühren, aber ich bewegte mich nicht. Stattdessen sagte ich: »Wusstest du, dass ich meinen Mann verloren habe?«
Er nickte. »Irgendjemand hat es einmal erwähnt.«
Ich wollte fragen, wer, doch dann fiel mir ein, dass ich einmal auf einer Benefizveranstaltung für die Krebsstation mit einer Krankenschwester darüber gesprochen hatte. »Wie hast du deine Frau verloren?«
»Das war vor etwa sechs Jahren. Sie war auf dem Heimweg von der Schule – sie war Lehrerin –, und ein betrunkener Fahrer ist frontal auf ihren Wagen aufgefahren.«
Ich schüttelte den Kopf. »Mein Gott, das tut mir so leid.«
»Danke. Danach ging es mir ziemlich lange ziemlich schlecht. Wir wollten gerade eine Familie gründen, so dass ich das Gefühl hatte, alles auf einmal verloren zu haben.«
Ich verstand ihn nur zu gut und nickte. Wenn man jemanden verliert, trauert man auch um die Dinge, die niemals sein werden.
»Ich bin in eine Trauergruppe gegangen«, fuhr er fort, »habe ein paar gute Freunde gefunden und bin inzwischen drüber hinweg.«
»Hattest du seitdem irgendwelche Beziehungen?« Ich hielt den Atem an, als ich auf seine Antwort wartete, und fragte mich, auf was für eine Reaktion ich hoffte.
Er drehte sein Gesicht ein kleines Stück, so dass er mich direkt ansah. Sein Arm ruhte immer noch auf der Sofalehne. Ich spürte die Hitze, die sein Körper abstrahlte, und die Wahrnehmung seiner Haut so nah an meiner sandte einen Schauder über meinen Rücken bis hinauf zum Nacken.
»Nichts Ernstes. Ich habe noch niemanden gefunden, mit dem ich mich wirklich verbunden fühle. Es war immer zu leicht, die Distanz zu halten.« Er nippte an seinem Sake und fügte hinzu: »Ich habe schon angefangen zu grübeln, ob ich jemals wieder genug für jemanden empfinden würde, aber dann …« Er schwieg, seine Wangen röteten sich leicht.
»Aber dann?«
Immer noch zaudernd hielt er meinem Blick stand. »Dann habe ich dich getroffen und dachte, dass es vielleicht doch möglich ist.«
Meine Brust wurde eng, und die Zeit schien plötzlich viel langsamer zu vergehen. Seine Gedanken und Gefühle spiegelten sich in seinem Blick. Mein Gesicht musste ihm irgendetwas verraten haben, denn er streckte die Hand aus und nahm mir das Glas mit dem Sake aus der Hand, während der andere Arm von der Sofalehne auf meinen Hals glitt. Die Finger im Nacken gespreizt, drehte er behutsam mein Gesicht, so dass ich ihn ansehen musste. Er beugte sich vor, bis seine Lippen auf meinen ruhten. Ich kam ihm entgegen, schmeckte den warmen Sake auf seiner Zunge, und Hitze durchströmte meinen Körper. Spielerisch wickelte er mein Haar um seine Finger. Ich berührte seinen Bizeps, spürte die harten Muskeln. Er übernahm die Führung, zunächst sanft und behutsam, dann immer leidenschaftlicher. Meine Erregung wuchs, ich atmete schneller. Dann fielen mir Lisas Worte ein. Ich konnte Dad spüren, als wäre er bei mir im Zimmer.
Vor meinem geistigen Auge entstand ein Bild, wie ich Paul küsse, und unvermittelt fiel mir auf, wie anders sich Kevins Mund anfühlte. Ich öffnete die Augen, und mein Blick fiel auf Pauls Foto auf dem Kaminsims. Ich zog mich zurück und versuchte, zu Atem zu kommen. Ich fühlte mich orientierungslos, als sei ich aus einem Traum erwacht, der meine Gedanken schwerfällig machte. Kevin beobachtete mich irritiert, aber auch besorgt. Sein Atem ging stoßweise.
Ich stand auf. »Ich muss … ich muss etwas aus der Küche holen.«
Immer noch ganz aus der Fassung, begann ich in der Küche das Geschirr abzuräumen und heißes Wasser einlaufen zu lassen. Gleichzeitig dachte ich: Du kannst ihn nicht einfach auf dem Sofa sitzen lassen. Du musst irgendetwas sagen. Aber was sollte ich sagen? Ich habe Angst, mein toter Mann könnte uns sehen? Ich spürte jemanden hinter mir, drehte mich um und fuchtelte mit der Spülbürste herum wie mit einer Waffe.
Kevin sah mich sanft an, als er mein Handgelenk ergriff und mich festhielt. »Möchtest du, dass ich gehe?«
Die Verletzlichkeit in seinen Zügen erschütterte mich, die Schüchternheit, die leise Hoffnung. Ich schüttelte den Kopf, unfähig, Worte für den Gefühlsmix zu finden, der mich durchströmte. Ich riss meine Hand los und warf die Bürste in die Spüle hinter mir.
Er machte einen Schritt vor und nahm meine Hand. Meine glitschigen Finger verflochten sich mit seinen, der Zitronenduft des Spülmittels hing in der Luft. Er presste sich mit seinem Körper gegen mich, an der harten Kante der Arbeitsplatte bog ich mich leicht nach hinten. Sanft und behutsam legte er seinen Mund auf meinen. In meinem Kopf tauchte ein Zitat auf, Das Leben ist für die Lebenden. Paul hatte es immer zu mir gesagt, wenn ich zu lange den Verlust eines unserer Tiere betrauerte. Einen Moment lang trat ich aus mir heraus, ließ die Schuldgefühle und die Angst los, die Angst, Paul zu verraten.
Was willst du, Nadine?
Ich wollte, dass Kevin über Nacht blieb, wollte seinen Körper spüren, der mich im Dunkeln festhielt, wollte das Wunder und die Freude erleben, einen neuen Menschen zu erforschen.
Ich ergriff Kevins Hand und zog ihn mit in mein Schlafzimmer.
Als ich am nächsten Morgen einen großen Männerarm um meinen Körper fühlte, fuhr ich erschrocken aus dem Schlaf auf. Mein Gesicht wurde heiß, als ich an die vergangene Nacht dachte, jede Erinnerung erotischer als die vorige. Wie sollte ich jetzt damit umgehen? Mein letzter »Morgen danach« war schon eine ganze Weile her. Ich nahm meinen Hausmantel ins Visier, der an der Rückseite der Tür hing, und überlegte, ob ich hineinschlüpfen könnte, bevor Kevin wach wurde. Doch Kevin spürte, dass ich wach war, und zog mich eng an seine Brust. Er liebkoste meinen Hals mit zarten Küssen und jagte mir wohlige Schauder über den Rücken.
»Guten Morgen«, flüsterte er.
»Morgen.« Ich wollte mich in seine Umarmung zurückfallen lassen, wollte diesen Moment genießen, doch ein anderer Teil von mir, der Teil, der nicht länger vom Sake ruhiggestellt war, war sich nicht sicher, wie weit ich gehen wollte, wie weit es überhaupt gehen konnte.
Kevin sagte: »Ich kann deine Gedanken bis hierher hören.«
»Ach ja? Und was denke ich gerade?«
»Dass du diese Woche gern mal abends mit mir essen gehen würdest.«
Meine Ängste erwachten wieder zum Leben. Ich hatte das Gefühl, alles würde viel zu schnell gehen und ich stünde am Rande eines Abgrunds, der unter meinen Füßen abbröckelte, während ich versuchte, zurückzuweichen.
»Ich weiß nicht … ich habe im Moment ziemlich viel um die Ohren.«
Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich habe den letzten Abend mit dir wirklich genossen, Nadine – und nein, nicht nur den Teil im Bett.« Er setzte sich hinter mir auf. Ich drehte mich um, so dass ich auf dem Rücken lag und zu ihm hochschaute. Er lächelte. »Aber wir können es so langsam angehen, wie du möchtest. In Ordnung?«
Ich nickte. »Danke.« Was bedeutete dieses Es für ihn? Einen One-Night-Stand? Eine lockere Affäre? Eine Freundschaft mit gewissem Bonus?
Er grinste. »Bekomme ich wenigstens noch eine Tasse Kaffee, ehe du mich rauswirfst?«
Ich lächelte zurück. »Ich denke, das kriege ich hin.«
Kurz darauf saßen wir zusammen am Tisch und tranken Kaffee. Durch die banalen Rituale entwickelte sich bereits eine ungezwungene Vertrautheit, wenn wir einander Zucker und Sahne reichten, unsere Hände sich kurz berührten und wir einander über den Rand unserer Becher hinweg kurze Blicke zuwarfen. Ich sprach erneut über meine Sorgen um Lisa, die mit dem Morgenlicht wie mit einem Donnergrollen zurückgekehrt waren. Kevin fand immer noch, dass ich ein paar Tage warten sollte, und ich wusste, dass das nur vernünftig war, aber das besänftigte meine Ängste nicht. Mich an der Tür von Kevin zu verabschieden löste erneut leichtes Unbehagen in mir aus, doch er zog mich einfach für eine Umarmung an sich und küsste mich auf die Wange.
Ehe er sich zum Gehen wandte, sagte er: »Du sagst Bescheid, wenn du bereit für ein Abendessen bist, okay?«
Ich nickte und sah von der Ecke meiner vorderen Veranda zu, wie er die Auffahrt hinunter zu seinem Auto ging, das er auf der anderen Straßenseite geparkt hatte. Ein Stück die Straße runter hörte ich einen anderen Wagen starten und mit quietschenden Reifen anfahren. Ein Truck donnerte an meinem Haus vorbei, gerade als Kevin das Ende der Auffahrt erreicht hatte. Ein paar Schritte weiter auf die Straße, und er hätte ihn erwischt. Ich schnappte nach Luft und umklammerte das Geländer. Er drehte sich um, unsere Blicke trafen sich. Hast du gesehen, wie knapp das war? Er winkte mir zu, keine-Sorge-alles-in-Ordnung, aber mein Herz hämmerte immer noch, als er davonfuhr.
Ich war fast sicher, dass es derselbe Truck war, der vor ein paar Tagen vor meinem Haus das Tempo gedrosselt hatte.
Ich rief Corporal Cruikshank an und erzählte ihr von dem Wagen. Ich erzählte ihr auch, dass ich ihn schon einmal gesehen hatte, und berichtete von dem Fußabdruck, den ich in meinem Garten gefunden hatte, und von den Anrufen, bei denen einfach aufgelegt wurde. Sie ließ sich eine Beschreibung des Trucks geben, aber ich war mir nicht einmal sicher, was das Modell oder die Marke anging. Sie sagte, ich sollte beim nächsten Mal versuchen, mir das Kennzeichen zu merken, und dass ich auf meine Umgebung achten sollte, wenn ich aus dem Haus ging.
Ich duschte und machte das Bett, während ich mir die ganze Zeit einzureden versuchte, dass der Truck vermutlich einem der College-Kids gehörte, die am Ende der Straße wohnten. Sie rasten oft hier entlang, und ich machte mir Sorgen, dass sie eines Tages tatsächlich einen Menschen oder ein Tier anfuhren. An dem Abend, als ich den Truck draußen gesehen hatte, hatten sie wahrscheinlich gerade nur eine SMS geschrieben oder die Musik eingestellt. Doch es fiel mir schwer, das zu glauben.
Ich hatte an dem Tag frei, also widmete ich mich der Hausarbeit. Am Nachmittag fuhr ich zum Monkey House, für den Fall, dass die Drogenabhängige gelogen hatte und Lisa immer noch dort war. Ich sah sogar wieder im Gebäude nach, aber jetzt hauste in dem Zimmer, in dem ich Lisa gefunden hatte, jemand anders. Ich machte einen kurzen Abstecher zum Krankenhaus, um ein Buch aus meinem Büro zu holen, wobei ich mich fragte, ob ich Kevin wohl über den Weg laufen würde. Doch ich sah keine Spur von ihm.
Ich räumte gerade nach dem Abendessen auf, als das Telefon klingelte. Die Rufnummer war unterdrückt.
»Hallo?«
Ich wiederholte es mehrmals, erhielt aber nur ein Schweigen zur Antwort. Ich sagte: »Lisa? Bist du das?«
Dann klickte es.
Ich legte den Hörer auf, ein dumpfes Gefühl in der Magengrube. Was, wenn es Lisa gewesen war? Was, wenn sie verletzt war oder krank und nicht sprechen konnte? Erneut erwog ich, zur Kommune zu fahren und zu verlangen, sie sehen zu dürfen. Ich dachte über Kevins Worte nach, vorsichtig zu sein. Verdammt. Ich musste wissen, ob es ihr gutging.
Ich war gerade dabei, meine Handtasche und die Schlüssel einzusammeln, als das Telefon erneut klingelte. Dieses Mal war es Steve Phillips.
»Ich hab meinen Freund mit dem Spürhund erwischt. Er wollte ohnehin ein wenig mit dem Hund trainieren, also kommt er morgen nach Shawnigan. Wir gehen bei der alten Kommune spazieren und lassen ihn ein wenig rumschnüffeln.« In seiner Stimme lag ein Hauch von Erregung. »Möchten Sie uns begleiten?«
»Gerne.« In mir keimte neue Hoffnung auf. Wenn sie etwas auf dem Gelände fanden, könnten sie Aaron vielleicht eher verhaften. Wenn es genug schlechte Presse gab, würden vielleicht sogar die Retreats gestoppt werden. Ich erzählte Steve, was gestern geschehen war.
»Möglicherweise haben sie Lisa ganz gezielt ausgesucht«, sagte er. Ich musste mich auf die Bank in meiner Diele setzen, die Furcht riss mir buchstäblich den Boden unter den Füßen fort. »Aber vielleicht hat Ihre Tochter diese Drogenabhängige auch nur dazu gebracht, Ihnen diese Geschichte zu erzählen, um Sie loszuwerden. Ich habe einen erwachsenen Sohn. Mit Anfang zwanzig war er ein echter Teufelsbraten. Er hat immer genau das Gegenteil von dem gemacht, was ich wollte – nur, um mich zu ärgern.«
»Leider ist sie genauso.« Ich legte meine Schlüssel neben mir ab.
»Mein Sohn hat sich am Ende doch noch prächtig entwickelt. Vielleicht sollten Sie ihr einfach etwas Zeit geben.«
»Lisa hatte schon einige Unfälle.« Blitzartig tauchte vor meinem geistigen Auge das Bild von ihrem blassen Gesicht im Krankenhausbett auf. Wie viele solche Einschläge konnte sie noch überleben? Was, wenn in dem Zentrum irgendetwas schiefging? »Wann soll ich morgen dort sein?«
Endlich hatte ich etwas zu tun.
In der Nacht wachte ich erneut unvermittelt und in höchster Alarmbereitschaft auf, überzeugt, ich hätte ein Geräusch gehört. Mit rasendem Herzen lag ich reglos im Dunkeln und lauschte angestrengt. Was hatte mich geweckt? Irgendetwas draußen? Wieder der Truck, der vor meinem Haus langsamer wurde? Doch da war nichts als Stille, dann das Gefühl, dass ich nicht allein war. Jemand stand neben mir.
Ich streckte die Hand aus, schlug auf den Lichtschalter neben dem Bett und griff gleichzeitig nach dem Telefon und meinem Pfefferspray. Ich rollte mich seitwärts aus dem Bett, kauerte mich in Verteidigungsstellung zusammen, das Gesicht zum Raum gewandt, bereit zum Angriff. Doch da war niemand.
Nur ein leiser Lavendelduft umwehte mich wie eine flüchtige Erinnerung.