15. Kapitel
Noch am selben Abend sprach ich mit Connie über mein Erlebnis bei Heathers Beerdigung. Wir diskutierten auch über meine Vorbehalte gegenüber der Kommune, über den zerstörerischen Effekt, den sie auf die psychische Verfassung ihrer Mitglieder haben konnte, und dass es, falls meine Erinnerung tatsächlich real war, noch mehr Opfer sexuellen Missbrauchs geben könnte. Ich erwog, Anzeige bei der Polizei zu erstatten, doch am Ende entschied ich, dass ich noch nicht bereit war, meine Geschichte zu erzählen. Sie war zwar erschütternd, aber ich war noch nicht überzeugt, was die Fakten anging, und wollte zunächst abwarten, ob noch mehr Erinnerungen an die Oberfläche kamen. Allerdings wollte ich die Polizei dazu bringen, das Zentrum einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Und hoffentlich würden sie, wenn sie entdeckten, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zuging, etwas genauer ermitteln und das Zentrum schließen.
Am folgenden Tag fuhr ich nach der Arbeit zur Polizeistation von Victoria. In anderen Orten von British Columbia war die Royal Canadian Mounted Police, kurz die RCMP, zuständig, aber Victoria und die Kleinstadt Esquimalt, die direkt an Victoria grenzte, hatten eine städtische Polizei. Ich sprach mit einem freundlichen Officer, der mir geduldig zuhörte und dann sagte: »Kennen Sie irgendjemanden, der in der Kommune zu Schaden gekommen ist?«
»Nein, aber wenn man dort die Leute überredet, ihre Medikamente abzusetzen, dann ist das ziemlich gefährlich. Und es gibt noch andere Dinge, die mir Sorgen machen.« Ich erzählte ihm, wie sie Heather bedrängt hätten, nachdem sie fortgegangen war, und dass man sie dazu gebracht hatte, große Geldsummen zu spenden. Und dass ich befürchtete, Aaron würde Techniken der Gedankenkontrolle einsetzen.
»Ist Ihre Patientin gegen ihren Willen festgehalten worden?«, fragte der Officer.
»Na ja, nein, aber …«
»Hat man sie gezwungen, das Geld zu spenden, indem man sie bedroht oder auf andere Weise eingeschüchtert hat?«
»Nicht dass ich wüsste. Sie arbeiten eher mit subtilem Druck und Manipulation.«
Der Officer seufzte. »Solange sich niemand aus dem Zentrum beschwert, sind uns die Hände gebunden. Das River of Life Center ist ein angesehenes Unternehmen in dieser Gemeinde. Wir können dort nicht einfach grundlos reinplatzen und einen Haufen Fragen stellen.«
Ich dachte an meine Erinnerung von Aaron und mir am Fluss. Offenkundig würde die Polizei die Kommune und ihre Aktivitäten nicht genauer unter die Lupe nehmen, solange es nicht mehr Hinweise auf ein Verbrechen gab. Ich wollte nicht in ein Wespennest stechen, solange ich mir selbst nicht ganz sicher war, aber falls meine Erinnerung doch real war und tatsächlich noch weitere Mädchen missbraucht wurden …
»Was, wenn der Leiter minderjährige Mädchen sexuell missbraucht?«
»Tut er das?«
Ich durfte jetzt nicht schwanken oder Unsicherheit zeigen. Ich musste weitermachen.
»Er hat es getan … früher.« Ich holte tief Luft und erklärte kurz, dass meine Erinnerungen wiedergekommen waren und dass ich als Kind Erfahrungen mit der Gruppe gemacht hatte.
Als ich fertig war, ließ der Officer nicht erkennen, ob er meiner Geschichte Glauben schenkte, doch seine Miene wirkte mitfühlend. Er sagte, er könne meine Aussage aufnehmen, aber er müsste sie zur RCMP in Shawnigan weiterleiten, wo das Verbrechen verübt worden war. Seine behutsame Erklärung, dass die Polizei von Victoria in diesem Fall gar nicht ermitteln würde, verriet mir, dass er persönlich der Meinung war, ich sollte mich direkt an die für die Ermittlungen zuständige Polizeistation wenden. Als ich genau das vorschlug, sagte er: »Das müssen Sie entscheiden. Es war bestimmt nicht leicht für Sie, heute hierherzukommen, und vielleicht wollen Sie es einfach nur hinter sich bringen. Aber die Kollegen in Shawnigan würden Sie wahrscheinlich noch einmal befragen wollen, so dass Sie alles zweimal durchkauen müssten. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, kurz hinzufahren, wäre es vielleicht …«
»Ich fahre nach Shawnigan.«
Ich verließ das Revier mit dem Gefühl tiefer Erschöpfung. Es war schwer und beschämend gewesen, einem Fremden zu erzählen, dass ich missbraucht worden war, zumal ich nicht viele Erinnerungen an das Erlebnis hatte. Es fühlte sich an, als würde ich im Dunkeln herumtasten und immer wieder gegen scharfe Kanten stoßen. Der Officer hatte mir erklärt, dass sich demnächst jemand mit mir in Verbindung setzen würde, aber ich war mir immer noch nicht sicher, wie weit ich mich persönlich in diese Sache einbringen wollte. Ich wollte einfach nur, dass sie das Zentrum überprüften.
Ich überlegte, ob ich Robbie alles erzählen sollte – für den Fall, dass die Polizei mit ihm sprechen wollte. Er würde nicht sonderlich glücklich darüber sein. Robbie ist schon an seinen besten Tagen nicht der Typ, der gern über seine Gefühle spricht, vor allem nicht mit mir, und wahrscheinlich würde er sich lieber von einer Klippe stürzen, als der Polizei irgendetwas zu erzählen. Trotzdem hatte ich ein ungutes Gefühl bei der Vorstellung, ihn nicht einzuweihen. Ich beschloss, es ihm nach meinem Treffen mit der Polizei zu sagen.
Am nächsten Morgen erhielt ich einen Anruf von Corporal Cruikshank, einer Polizistin, die sehr professionell und sachlich klang. Wir verabredeten uns für den kommenden Freitagnachmittag auf dem Polizeirevier. An diesem Tag machte ich bei der Arbeit früher Schluss und nahm den Malahat Highway nach Shawnigan, etwa vierzig Minuten Fahrzeit von Victorias Stadtzentrum entfernt. Der Malahat Highway konnte im Winter ziemlich tückisch sein, mit seinen Serpentinen durch den Goldstream Park, den schroffen, steilen Abhängen und Wasserfällen, die hier und da an der nackten Felswand in die Tiefe stürzten. Aber dieser Tag war klar, und es herrschte nicht viel Verkehr. Ich hätte die Fahrt genossen, wenn mir nicht der Kopf gebrummt hätte vor Überlegungen zur Kommune, Gedanken an die mögliche Reaktion meines Bruders oder daran, was Aaron tun würde, wenn er erfuhr, dass ich eine Aussage bei der Polizei gemacht hatte. Vor lauter Furcht war ich völlig verkrampft. Ich ermahnte mich, dass es nichts brachte, mir Sorgen zu machen, solange ich nicht mehr Informationen hatte. Doch eine leise Stimme im Hintergrund meines Bewusstseins ließ mir keine Ruhe. Bist du sicher, dass du dazu bereit bist?
Kurz vor dem Gipfel des Malahat nahm ich den Abzweig nach Shawnigan und folgte der Shawnigan Lake Road den Berg hinunter bis ins Tal. Ein großer Teil der Flächen waren seit meinem letzten Besuch gerodet worden. An der Kreuzung am südlichen Ende des Sees hielt ich mich rechts und fuhr in den am Ostufer gelegenen Ort, in dem sich die Polizeistation befand. Unterwegs kam ich an unzähligen Sommerhütten vorbei. Shawnigan hatte nur rund achttausend Einwohner, und die meisten Ferienhäuser gehörten Leuten aus Victoria, die die kurze Fahrzeit, die Strände des Sees und die Möglichkeiten zum Wasserskifahren nutzten.
Der Ort selbst war klein. Es gab zwei Gemischtwarenläden, eine Tankstelle, einen Frisör, eine Videothek, ein Café und ein paar Restaurants. Wenn man am westlichen Arm des Sees weiterfuhr, stieß man größtenteils auf Farmland und Wald, der, soweit ich mich entsann, bei Jägern und Quad-Fahrern recht beliebt war.
Die Polizeistation war in einem roten Backsteingebäude untergebracht. Sie war nicht sehr groß und erinnerte mich an eine alte Schule. Den größten Teil der Wache konnte ich vom Wartebereich aus überblicken, wo ich auf einer Holzbank saß und zusah, wie die uniformierten Officers ein und aus gingen. Hin und wieder brachen sie in Gelächter aus, wenn einer von ihnen einen Witz machte. Nach kurzer Zeit trat eine junge Frau im dunkelblauen Kostüm und mit einem freundlichen Lächeln durch die Tür. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt, in dem herzförmigen Gesicht strahlten große braune Augen. Sie hatte einen wiegenden Gang, vermutlich trieb sie viel Sport. Sie sah nicht sehr viel älter aus als meine Tochter, weshalb sich mein Vertrauen in ihre Fähigkeiten in Grenzen hielt. Ich spürte, wie mein unhöflicher Gedanke mich erröten ließ. Wenn sie auf der Karriereleiter bereits so hoch gestiegen war, dann konnte ich sicher sein, dass sie mehr als kompetent war.
»Guten Tag«, sagte sie. »Ich bin Corporal Cruikshank.«
Ich schüttelte ihre Hand. »Hallo, ich bin Dr. Nadine Lavoie.« Ich habe mir das nicht ausgedacht. Ich bin Ärztin.
Wir setzten uns in einem kleinen, grauen Raum an einen Metalltisch. In der Zimmerecke hing eine Kamera. Sie lehnte sich zurück.
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie eine Straftat melden?«
»Ja.« Meine Kehle war trocken, und meine Stimme krächzte leicht beim Sprechen. Sie bot mir etwas zu trinken an, und als ich »Ja gern« sagte, holte sie mir eine Flasche Wasser.
»Wir werden das Gespräch aufzeichnen, damit wir sichergehen können, dass wir alles haben, aber ich werde mir auch Notizen machen, nur für den Fall, dass ich bei einigen Punkten noch einmal nachhaken muss.«
»Gut.«
Dass die Polizistin mehr mit mir gemein hatte, als ich ihr zugetraut hätte, bewies sie, als sie sagte: »Ich weiß, wie unangenehm das für Sie sein muss und dass das Verbrechen bereits lange zurückliegt, aber es ist wichtig, dass Sie versuchen, mir so viele Details wie möglich zu nennen. Ich möchte, dass Sie die Augen schließen und mir alles genau erzählen. Versuchen Sie, all Ihre Sinne zu benutzen, Gerüche, irgendetwas, was Sie gehört haben – alles davon kann helfen.«
Ich nickte, da ich meiner Stimme nicht traute. Die Vorstellung, in diesem kleinen Zimmer die Augen zu schließen, war plötzlich furchterregend.
Sie musterte mein Gesicht. »Lassen Sie sich Zeit.«
Ich holte tief Luft und wartete, bis das Engegefühl in meiner Kehle nachgelassen hatte. Allmählich entspannte ich mich so weit, dass ich die Augen schließen konnte und zu sprechen begann. Zuerst erklärte ich, wie wir zur Kommune gekommen waren und wie es war, dort zu leben. Hin und wieder öffnete ich die Augen, um auf einen Punkt besonders hinzuweisen. Corporal Cruikshank nickte ermutigend, stellte aber keine einzige Frage, sondern machte sich nur gelegentlich Notizen. »Meine Mutter hat gesagt, er hätte mir Schwimmunterricht gegeben, aber ich bin mir nicht sicher, ob es damit angefangen hat …« Im Raum war es so still, dass ich die Polizistin atmen hörte. Die Wände kamen auf mich zu, und ich verspürte den plötzlichen Drang, davonzulaufen. Ich schlug die Augen auf. »Können wir die Tür offen lassen?«
Sie sah mich erstaunt an.
»Oder gibt es hier einen größeren Raum? Ich leide unter Klaustrophobie.«
»Wir können die Tür öffnen, aber es läuft ständig jemand vorbei. Leider ist dies hier unser einziges Vernehmungszimmer. Möchten Sie eine Pause machen?«
»Geben Sie mir bitte einfach eine Minute.« Ich zentrierte mich und holte dreimal tief Luft. Als ich so weit war, begann ich von neuem. »Wir waren unten am Fluss …« Mit geschlossenen Augen fiel mir ein rhythmisches Geräusch auf, etwas prasselte aufs Dach, und ich begriff, dass es angefangen haben musste zu regnen. Ich entspannte mich und tauchte wieder in meine Erinnerung ein.
Jetzt wusste ich wieder, wie alles angefangen hatte.
Wir sind noch nicht lange in der Kommune, vielleicht zwei Monate, als Aaron anfängt, mir seine besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Er sucht meinen Blick am Lagerfeuer, gibt mir ein Extrastück von seinem Obst, seine Hand bleibt etwas länger auf meinem Bein liegen, wenn er mir zeigt, wie ich mich für die Meditation hinsetzen soll. Ich bin schüchtern in seiner Gegenwart und antworte kaum, wenn er mir eine Frage stellt. Meine Mutter schimpft mich aus und sagt, ich soll netter zu ihm sein.
Ich habe mich von den anderen Kindern weggeschlichen und bin allein in meiner Hütte. Einer der Hunde, ein Spaniel, hat seine Welpen unter meinem Bett zur Welt gebracht. Ich habe gerade ihre Kiste herausgezogen, ein Junges auf den Arm genommen und reibe meine Nase an seinem weichen Fell, als Aaron in die Hütte kommt.
Er sagt: »Alles in Ordnung? Mir ist aufgefallen, dass du nicht bei den anderen Kindern bist.«
Ich stammele ein paar Worte, verwirrt und geschmeichelt von seiner Aufmerksamkeit. »Ja, ich … ich wollte nur nachsehen, ob es den Welpen gutgeht.«
Ich spüre, dass er mich beobachtet, als ich mich hinknie und die Kiste wieder unters Bett schiebe. Als ich aufstehe, mustert er mein Gesicht, sein Blick bleibt an meinem Mund hängen.
Die Art, wie er mich anstarrt, ist mir unangenehm, und ich will weggehen, aber ich will ihn nicht beleidigen und denke daran, dass meine Mom mich ermahnt hat, höflich zu sein.
Er sagt: »Komm mit mir zum Fluss. Ich möchte dir etwas zeigen.«
Ich folge ihm den Pfad hinunter. Wir müssen uns durch Sträucher und Büsche schlängeln, die vom letzten Regenschauer noch ganz nass sind. Als wir über die glitschigen, moosbedeckten Felsen am Flussufer balancieren, werden unsere Schritte vom Donnern des Flusses übertönt. Schließlich findet er hinter der Biegung eine Stelle, die zu beiden Seiten von toten Bäumen verdeckt wird. Ich zittere in meinem Sweater und meinen Jeans, mein Atem bildet kleine Wolken in der Luft. Aaron tritt nah an mich heran und legt seine Arme um mich, drückt mein Gesicht gegen seine Jacke. Ich stehe ganz still, mein Herz hämmert laut in meiner Brust, und ich frage mich, warum er mich anfasst.
Ich mache mich los, sehe ihn nervös an und schaue mich um. »Warum sind wir hier unten?«
Er breitet die Arme weit aus und lächelt. »Leben, es steckt in jedem Blatt und jedem Wassertropfen.« Er reckt sein Gesicht dem Himmel entgegen und atmet tief ein. »Riechst du es nicht?«
Verwirrt und weil ich die richtige Antwort geben will, hebe ich ebenfalls den Kopf, hole tief Luft und sage: »Es riecht gut.«
Er setzt sich auf einen flachen Felsen, kreuzt die Beine und bedeutet mir, mich neben ihn zu setzen. Ich zögere.
Er zieht an meiner Hand. »Lass uns zusammen meditieren. Das wird Spaß machen.«
Ich lasse mich ebenfalls mit gekreuzten Beinen nieder. Unsere Knie berühren sich. Ich senke den Kopf, schließe die Augen und warte darauf, dass er mit dem Chanten beginnt.
Er beugt sich zu meinem Ohr, sein Atem, der süßlich nach Marihuana riecht, streift heiß meinen Hals, während ich wie gelähmt zu Boden starre.
»Sieh mich an«, flüstert er.
Nervös hebe ich den Kopf und sehe ihn verwirrt an. Ich habe noch nie allein mit Aaron meditiert, und ich habe Angst, etwas falsch zu machen.
Er sagt: »Ich habe letzte Nacht von dir geträumt.«
»Von mir?«
Er nickt. »Du bist sehr schön.«
Ich erröte verlegen und fühle mich unbehaglich, weil er mir das erzählt.
Seine Miene verdunkelt sich. »Du magst mich nicht besonders, oder?«
»Doch, ich mag dich.« Meine Verlegenheit wächst, weil er spürt, dass ich mich in seiner Gegenwart unwohl fühle, und will ihn beruhigen. »Ich bin nur schüchtern.«
Er lächelt erleichtert. »Bei mir brauchst du nicht schüchtern zu sein. Wir sind doch Freunde, oder?«
Ich lächele zurück und entspanne mich ein wenig. »Klar, wir sind Freunde.«
»Okay. Mach die Augen zu, und dann meditieren wir. Es wird cool, vertrau mir.«
Ich schließe erneut die Augen, warte darauf, dass er zu chanten beginnt. Er umfasst mein Gesicht mit beiden Händen, hält mich fest und presst seinen Mund gegen meine Lippen. Sein Bart kratzt. Ich wehre mich, gerate bei dem ungewohnten Gefühl fremder Lippen an meinen in Panik. Seine Zunge gleitet in meinen Mund, der Geschmack lässt mich würgen. Voller Angst stoße ich ihn hart gegen die Brust. Er weicht zurück und sieht mich überrascht und verärgert, mit schmalen Lippen, an.
»Hast du nicht gesagt, du würdest mich mögen?«
»Das tue ich auch. Es ist nur … ich dachte, wir würden meditieren.«
Seine Miene wird sanfter. »Das tun wir. Das ist eine besondere Meditation. Sie ist nur für dich bestimmt, und du darfst niemandem davon erzählen. Es muss unser Geheimnis bleiben.«
Erneut empfinde ich heftige Angst. Das ist nicht richtig. Ich will aufstehen.
Er packt meine Hand, sieht mich wütend an. »Was hast du vor?«
»Ich will das nicht tun.«
»Du hast keine Wahl. Nicht, wenn du willst, dass es deiner Mutter bessergeht. Du weißt doch, wie sie früher war, oder?«
Ich hole tief Luft. Ich erinnere mich zu gut an die düsteren Stimmungen, an die ständigen Drohungen, sich umzubringen. Aaron muss mein Entsetzen erkannt haben, und in diesem Moment hat er mich. »Ich kann ihr helfen, Nadine. Und du kannst mir helfen.«
Dann zieht er den Reißverschluss seiner Hose auf.
Jetzt, Jahre später, beschrieb ich in allen Einzelheiten, was er getan hatte – und alles, was er mich tun ließ. »Er verlangte, dass ich ihn oral befriedige. Aber ich wusste nicht, wie, also befahl er mir, den Mund zu öffnen, und steckte ihn hinein. Und er hat mich angefasst, meistens meine Brüste. Er hat ständig gefragt, ob es mir gefällt – daran erinnere ich mich.« Ich erinnerte mich auch, wie viel Angst ich hatte, wie ich zitterte und weinte und nicht begriff, was geschah. »Als er fertig war, sagte er, dass meine Mom wieder krank werden würde, wenn ich irgendjemandem davon erzähle. Er sagte …« Ich öffnete die Augen. »Er sagte, dass sie sich umbringen würde.«
Ich begann zu weinen und durchlitt erneut die Angst, die ich damals empfunden hatte, als ich glaubte, das Leben meiner Mutter läge in meinen Händen und dass sie, sobald ich einen Fehler machte, sterben würde. Dass sie unter dem Gewicht ihrer Traurigkeit und dunklen Gedanken am Ende zerbrechen würde. Dieses Gefühl begleitete mich während des Großteils meiner Kindheit. Sei brav, kümmere dich um deine Mutter. Aber wer hatte sich um mich gekümmert? Robbie, ja, aber er war ja selbst noch ein Kind gewesen.
Ich war nur ein kleines Mädchen, das verängstigt und hilflos vor diesem Mann kniete. Ich wusste, dass das, was er tat, falsch war. Doch zugleich setzte sich ein entsetzliches, krankmachendes Gefühl der Scham in mir fest, die Überzeugung, schmutzig zu sein, die dumpfe Ahnung, dass etwas mit mir nicht stimmte.
Die Polizistin verschwand kurz und kehrte mit einer Packung Taschentücher zurück. Ich versuchte nicht, meine Tränen aufzuhalten. Ich ließ sie und meine Trauer zu. Meine Trauer um das kleine Mädchen, das niemanden hatte, der es beschützte. Ich war auf übelste Weise ausgenutzt worden. Manipuliert durch Angst und Schuldgefühle, saß ich in der Falle und konnte nicht sagen: Nein, das ist nicht richtig, hör sofort auf. Und es gab niemanden, der mich hätte retten können, niemanden, der auch nur begriffen hätte, was geschah.
Schließlich holte ich tief Luft, trocknete meine Tränen und putzte mir die Nase. Ich fühlte mich wie durch die Mangel gedreht, meine Kehle war immer noch wie zugeschnürt, doch ich versuchte, mich mit dem abzufinden, was er mir angetan hatte. Jetzt war mir klar, warum ich die Ereignisse ausgeblendet hatte. In Fällen von sexuellem Missbrauch, bei denen das Opfer bedroht wurde, war das die Regel – trotzdem fiel es mir schwer zu akzeptieren, dass mir das zugestoßen sein sollte. Und ich hatte Angst, was noch geschehen sein könnte – ich konnte mich immer noch nicht daran erinnern, wie der Missbrauch aufgehört hatte, wenn überhaupt.
Die Polizistin fragte: »Gab es mehrere solche Erlebnisse? Hat er Sie noch woanders mit hingenommen?«
Ich dachte an die verwirrte Frage meine Mutter. Erinnerst du dich nicht mehr an das Picknick? Jetzt wusste ich es wieder. Er war mit uns zu einer alten Fischerhütte an einem See gefahren. Alle amüsierten sich, aber ich hasste diesen Ort. Ich war schon einmal hier gewesen, mit Aaron und einem anderen Mädchen. An ihren Namen erinnerte ich mich nicht, aber sie war etwa in meinem Alter. Er ermutigte uns, uns auszuziehen und nackt im kalten See zu baden. Ich wollte nicht, das andere Mädchen aber schon, also folgte ich ihr. Später verlangte er, dass wir nackt Verstecken spielten, während er zusah. Wir protestierten, dass wir zu alt seien, aber er sagte, es würde Spaß machen. Diejenige, die zählte, musste dabei auf seinem Schoß sitzen. Mir war, als hörte ich wieder seine Stimme, eins, zwei, drei … und spürte seine Hand unter meinem Handtuch.
Ich teilte der Polizistin meine Erinnerung mit. »Ich denke, es passierte normalerweise am Fluss, vielleicht vier-, fünfmal während der ersten paar Monate …« Ich schwieg und dachte an damals. Meine Mutter hatte recht, nachdem Coyote in diesem Sommer gestorben war, entwickelte ich eine Todesangst vor Wasser. Aaron bot an, mich zu unterrichten, aber das war nur ein Trick gewesen, damit er mehr Zeit mit mir am Fluss verbringen konnte. Ich erinnerte mich vage daran, dass er mir jedes Mal zuerst freundlich und wohlwollend versuchte, das Schwimmen beizubringen, und mich immer wieder ermutigte. Doch ich war angsterfüllt, da ich wusste, wie es enden würde.
Ich erzählte ihr von dem Unterricht. »Manchmal …« Ich holte Luft und schluckte hart. »Er, äh, brachte mich dazu, mich selbst zu berühren. Er sah gerne zu. Danach zwang er mich immer, ihn oral zu befriedigen.« In meinem Kopf entstanden Bilder, ich hörte sein Stöhnen und Ächzen. Ich erinnerte mich, dass ich weinte und die Augen geschlossen hielt und so tat, als wäre ich irgendwo anders.
Ich wischte ein paar Tränen fort. »Das ist alles, woran ich mich im Moment erinnere.«
»Es kann sein, dass Ihnen noch mehr einfällt, jetzt, wo Sie offen dafür sind. Sie haben Ihre Sache großartig gemacht. Ich weiß, dass es hart für Sie war.«
Ich fühlte mich völlig ausgelaugt und seufzte tief. »Werden Sie ihn deswegen irgendwie belangen? Ich bin jetzt sicher, dass es noch weitere Opfer gibt.« Ich berichtete ihr von meinen Befürchtungen in Bezug auf die Vorgehensweisen und Glaubensansichten der Kommune.
»Wir werden ihn zu einer Vernehmung einbestellen und dann weitersehen.«
»Wie stehen da die Chancen, dass Sie ihn verhaften – ohne weitere Beweise?«
»Unser Job ist es, Informationen zu sammeln. Dann präsentieren wir die Fakten der Staatsanwaltschaft, und die entscheidet, ob die Beweise ausreichen, um Anklage zu erheben.«
»Aber wenn er es abstreitet, und ich keine weiteren Zeugen habe …«
Sie blickte hinunter auf ihren Block, überflog die Notizen, die sie gemacht hatte, als versuche sie, zu einer Entscheidung zu gelangen.
Ich fügte hinzu: »Ich verstehe schon, wie so etwas abläuft.«
Sie sah mich freundlich an. »Ohne irgendwelche handfesten Beweise oder weitere Aussagen von anderen Opfern oder Zeugen wird es wohl leider nicht ausreichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er verurteilt wird, ist ziemlich gering.«
»Sie meinen, gleich null.«
»Wenn wir ihn zu einer Vernehmung abholen, werden wir vielleicht mehr erfahren.«
»Werden Sie ihm meinen Namen verraten?«
»Er hat das Recht zu erfahren, wer seine Anklägerin ist, und wir können ihn nicht richtig befragen, solange er nicht weiß, was ihm vorgeworfen wird. Sie sind nicht minderjährig, und solange er Sie nicht direkt bedroht hat …«
»Nein, ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Aber ich kann bezeugen, dass sein Bruder gewalttätig war. Ich glaube, dass er psychisch krank war. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist …«
Die Polizistin machte sich eine Notiz und sagte: »Können Sie mir sagen, was passiert ist?«
Ich erzählte ihr von Josephs Attacken auf Mitglieder, die die Regeln gebrochen hatten. »Aaron konnte ebenfalls sehr jähzornig sein, aber er konnte es besser verbergen. Ich glaube nicht, dass es viele Leute mitbekommen haben. Da war noch ein Mädchen im Teenageralter, Willow. Sie hat die Kommune verlassen.« Ich zögerte. »Ist es möglich festzustellen, ob sie vermisst gemeldet wurde? Ich glaube, sie kam aus Alberta.« Ich hatte mich nicht bewusst daran erinnert, bis die Worte aus meinem Mund kamen. Ich erzählte der Polizistin alles, was ich über Willow wusste.
Als ich fertig war, sagte sie: »Damals sind eine Menge Teenager von zu Hause abgehauen. Sie blieben eine Zeitlang bei einer Gruppe und zogen dann weiter zur nächsten.«
»Ich verstehe. Ich würde mich nur wesentlich besser fühlen, wenn ich wüsste, was aus ihr geworden ist.«
»Wir werden uns die Sache einmal ansehen«, sagte Corporal Cruikshank. »Aber es könnte eine Weile dauern, die alten Akten aufzustöbern, es ist einfach schon ziemlich lange her.«