23. Kapitel
Nach der Arbeit fuhr ich nach Hause, um rasch einen Happen zu essen. Ich kaute mechanisch, denn mein Magen verkrampfte sich bei der Vorstellung, mit einer Frau zu sprechen, die dasselbe durchgemacht hatte wie ich. Tammy lebte in Fernwood, einem älteren Viertel nahe der Innenstadt und nicht weit von mir entfernt. Als ich an die Hintertür ihres zitronengelben Hauses im viktorianischen Stil klopfte, stellte ich fest, dass die Farbe größtenteils abgeblättert war und die hintere Veranda gerade repariert wurde. Ein älterer Wagen mit zwei platten Reifen stand in der Auffahrt. Tammy öffnete die Tür, ein lächelndes blondes Baby auf dem Arm. Sie selbst war eine gutaussehende Frau mit ungeschminktem, rundlichem Gesicht. Das braune Haar war zu einem zerzausten Pferdeschwanz zurückgebunden, und die feingesprenkelten Sommersprossen verliehen ihr ein jugendliches Aussehen. Doch den Fältchen an den Augenwinkeln nach zu urteilen, war sie wahrscheinlich bereits in den Dreißigern.
Sie sagte: »Kommen Sie herein. Aber das Haus ist ein einziges Chaos.«
»Das ist völlig in Ordnung.«
Ich streifte sorgfältig meine Schuhe ab, ging in die Küche und sagte: »Sie haben ein wunderschönes Haus.«
Sie wandte sich von der Kaffeekanne ab, das Gesicht rosig vor Freude. »Danke. Es wird noch lange dauern, bis wir es so haben, wie wir wollen, aber Sie wissen ja.« Sie hob die Schultern. »Babys haben Vorrang.«
»Es sieht so aus, als hätten Sie bereits einiges geschafft. Wie Sie die Schränke aufgearbeitet haben, gefällt mir.«
»Danke.« Lächelnd folgte sie meinem Blick. »Das habe ich selbst gemacht.«
Sie hatte ihre Sache gut gemacht. Ich stellte mir vor, wie sie sorgfältig jeden Schrank lackiert und die gläsernen Türgriffe angeschraubt hatte, um Stück für Stück ein gemütliches Zuhause für ihre Familie zu schaffen. Mit schmerzlichem Bedauern dachte ich an die Zeit, als ich mit Lisa schwanger war. Kurz vor dem Geburtstermin wurde mein Nestbautrieb so stark, dass ich Paul dazu brachte, fast das ganze Haus neu zu streichen. Lächelnd hatte er mir den Wunsch erfüllt, auch wenn er die ganze Zeit über meine Hormone fluchte.
Tammy setzte ihr Baby in einen Laufstall in der Ecke, schenkte uns einen Kaffee ein und nahm mir gegenüber Platz. Sie musterte mich aufmerksam und hatte den Oberkörper leicht vorgebeugt – ein gutes Zeichen. Sie eröffnete das Gespräch.
»Sie haben also auch in der Kommune gelebt?«
Ich nickte. »Ja, damals Ende der sechziger Jahre, als sie noch in Shawnigan Lake war. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir etwas von Ihren Erlebnissen erzählen. Sie haben eine Schwester?«
Sie nagte an ihrer Lippe und schaute kurz zur Tür. Ich folgte ihrem Blick. »Lebt Ihre Schwester hier bei Ihnen?« Vielleicht erwartete sie sie zurück.
»Nein. Sie ist in die Kommune zurückgegangen.«
Ich starrte sie überrascht an. Damit hatte ich nicht gerechnet.
»Ich habe es dem Cop nicht gesagt, weil ich nicht will, dass er versucht, sie dort drin zu erreichen, und sie deswegen wütend auf mich wird. Sie ruft mich nicht mehr an, weil sie weiß, dass ich möchte, dass sie dort weggeht.«
»Warum wollen Sie, dass sie die Kommune verlässt?«
Jetzt lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück und schuf auf diese Weise etwas Distanz zwischen uns. Sie umklammerte den Kaffeebecher mit beiden Händen, während sie mich misstrauisch beäugte.
Ich sagte: »Machen Sie sich wegen Aaron Sorgen?«
»Er ist sehr einflussreich, in der Gemeinde und so, nicht nur im Zentrum. Er ist ziemlich beliebt bei den Leuten.«
Sie stellte mich auf die Probe, um zu sehen, was ich von Aaron hielt.
»Bei manchen Leuten, ja, aber ich gehöre nicht dazu.«
Erneut nagte sie an ihrer Lippe, sah sich um und zog die Schultern hoch, als versuche sie, sich in sich selbst zurückzuziehen. »Er ist nicht der, für den die Leute ihn halten.«
»Nein, das ist er nicht. Sie haben recht.« Ich war erleichtert, mit jemandem zu sprechen, der in Aaron das sah, was er wirklich war – ein Heuchler. Ich holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Mir war nicht bewusst gewesen, wie allein ich mich mit meinen Gedanken und Ängsten gefühlt hatte.
»Wir waren nur wegen unserer Eltern dort – darum ist Nicole auch zurückgegangen. Sie würden nie von dort weggehen, und sie hat sie vermisst.« Ehe ich weiter nachhaken konnte, erklärte sie: »Solange ich hier draußen bin, wollen sie nichts mit mir zu tun haben.« Sie blickte zu ihrem Kind, das im Laufstall spielte. »Sie haben Dillon noch nie gesehen.«
»Ich kann mir vorstellen, dass das hart für Sie ist.«
Seufzend wandte sie sich wieder mir zu. »Mein Mann weiß über meine Zeit dort Bescheid. Aber er mag es nicht, wenn ich darüber rede. Er und Dillon sind jetzt meine Familie.« Verwundert fragte ich mich, ob das seine oder ihre Worte waren. Was war das für ein Mann, der nicht wollte, dass seine Frau über etwas so Wichtiges sprach?
»Wann hat sich Ihre Familie der Kommune angeschlossen?«
»Nicole war zehn, ich zwölf. Unser jüngerer Bruder ist an Leukämie gestorben, und unsere Eltern gingen zu einer Selbsthilfegruppe. Da war eine Frau, Joy, die ebenfalls einen Sohn verloren hatte, und die hat ihnen von einem Retreat erzählt, den sie mitgemacht hatte und der ihr geholfen hatte.«
Joy. Ich erinnerte mich gut an sie. Ich fragte mich, ob ihr Kind tatsächlich gestorben war, oder ob es nur ein Trick gewesen war, um eine Verbindung zu neuen Leuten herzustellen.
»Rekrutiert Aaron viele neue Mitglieder über diese Selbsthilfegruppen?«
»Ich glaube schon – viele von ihnen haben einen Familienangehörigen verloren. Sie nehmen auch Straßenkinder und Drogensüchtige auf. Aaron verurteilt sie nicht. Er wählt jedes Jahr nur ein paar aus, die in der Kommune leben dürfen, Leute, von denen er sagt, sie bräuchten unsere Hilfe am meisten.«
Wie gelähmt vor Angst saß ich auf meinem Stuhl. Würde er Lisa finden? Ich zwang mich, mich zu entspannen. Lisa würde nicht einmal in die Nähe eines spirituellen Zentrums gehen.
Tammy redete weiter. »Er sagt, die meisten Probleme der Menschen entstehen aus der Angst vor dem Tod, und das verursacht Furcht, Depressionen, Drogenabhängigkeit und all das. Er sagt, wenn jeder begreifen würde, wie wunderschön der Ort sei, an den wir nach unserem Tod kommen, würden wir hier unten besser leben.«
Es sei denn, sie hatten das Pech, Aaron zu begegnen.
»Stimmt es, dass die Kommune Ableger in anderen Ländern hat?«, fragte ich. Ich wollte ihr nicht erzählen, wie viel ich bei meinen Recherchen im Internet herausgefunden hatte, sondern zog es vor, es von ihr zu hören. »Seit wann?«
»Aaron sagt, wir müssten mehr Menschen erreichen. Auf der Welt geschieht immer mehr Böses, und wir müssten den Menschen helfen. Er wählt die Mitglieder aus und schickt sie überall in die Welt, um neue Kommunen zu gründen. Er weiß immer ganz genau, wer am stärksten auf die Ansichten und die Praxis des Zentrums eingeschworen ist oder ob irgendjemand irgendetwas gegen die Kommune sagt.«
»Wissen Sie, woher er das wissen kann?« Ich hatte einen bestimmten Verdacht, aber ich wollte hören, was sie dachte.
»Es gibt in jedem Raum Kameras – selbst in den Badezimmern.« Schlagartig fiel mir Heathers Reaktion auf die Kameras im Krankenhaus ein, und jetzt verstand ich sie. »Er sagt, es diene dazu, dass wir unsere Hemmungen abbauen. Manche Mitglieder kennen Stellen auf dem Gelände oder in den Gebäuden, wo sie sich ungestört unterhalten können, aber er findet trotzdem heraus, was sie sagen. Er sagt, er könne ihre Energien lesen, aber ich glaube, dass er einfach Spione hat.«
Wahrscheinlich hatte er die. Ich dachte an Aarons unheimliche Art, immer genau zu wissen, wer schwankte oder Zweifel säte. Diese Person wurde von Aaron bei der nächsten Reinigungszeremonie herausgegriffen, zur Beichte gezwungen und anschließend ein paar Tage lang ignoriert. Ein paar Tage darauf erhielt ein anderes Mitglied ein besonderes Privileg.
Tammy sagte: »Wenn jemand davon spricht, die Kommune zu verlassen, wird er richtig wütend.«
»Wütend? Inwiefern?« Vor meinem geistigen Auge tauchte wieder das Bild von Joseph auf, der diesen Mann zu Boden trat, und das der niedersausenden Machete, während Mary sich wehrte.
»Er nimmt dann denjenigen mit in sein Büro, meditiert mit ihm und redet stundenlang auf ihn ein, bis er einwilligt, zu bleiben. Er sorgt auch dafür, dass andere Mitglieder mit einem reden – manchmal können die Leute richtig gemein werden. Sie machen einem Schuldgefühle, zum Beispiel, dass man die Menschen, die man liebt, nicht auf der anderen Seite wiedersehen wird, wenn man stirbt. Und wenn doch jemand die Kommune verlässt, rufen sie ihn ununterbrochen an.«
»Was passiert mit den Mitgliedern, wenn sie eine Regel verletzen?«
»Normalerweise darf man dann einfach nicht mit den Leuten reden, auch wenn sie direkt neben einem stehen. Oder sie müssen zur Anpassung.«
»Was bedeutet das?«
»Manchmal ist das nur ein Gespräch mit Aaron, aber wenn er glaubt, man hätte es nicht richtig verstanden, muss man eine volle Anpassung über sich ergehen lassen. Sie haben diese elektrischen Geräte, die einem leichte Stromstöße durch den Kopf schicken und einen reinigen. Sie sagen, es sei, als hättest du Zysten, an denen sich die Energie in deinen Zellen verfängt, und das blockiert deine Gesundheit und dein Denken, also musst du sie aufbrechen und dann loslassen.«
Es klang, als würde er mit einer Art Bioresonanztherapie oder Gehirnwellenstimulierung herumexperimentieren.
»Das ging ja eigentlich noch«, fuhr Tammy fort, »aber dann wurde es noch schlimmer.« Sie schaute hinüber zu ihrem Sohn. »Er fing an, die Leute unter der Erde einzusperren.«
Zunächst glaubte ich, mich verhört zu haben. »Entschuldigen Sie bitte, sagten Sie gerade …«
»Er hat Isolationskammern im Keller unter dem Zentrum bauen lassen. Er lässt einen erst wieder raus, wenn man vor seinen Ängsten kapituliert und seine Vergangenheit hinter sich gelassen hat.«
Mein ganzer Körper verkrampfte sich vor Entsetzen bei ihren Worten. Ich fühlte mich unbehaglich und wollte diesem Gefühl am liebsten aus dem Weg gehen, ohne genau sagen zu können, wodurch es ausgelöst worden war. Ich holte tief Luft und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. »Weigert sich denn nie jemand?« Ich wusste, wie sehr Sekten sich abschotten konnten und dass die Mitglieder im Laufe der Zeit unzählige Misshandlungen durch ihre Anführer tolerierten, aber ich war immer wieder überrascht, dass so viele Leute Aarons verrückte Ideen übernahmen.
»Die Leute sagen, dass die Anpassung ihnen wirklich geholfen hätte – und sie wirken danach tatsächlich glücklicher. Manche Leute zahlen sogar dafür, damit sie das noch einmal erleben dürfen. Es gibt einen speziellen Bereich im Keller, nur für diese Kammern, aber ich habe nie eine von innen gesehen. Nur die ranghöchsten Mitglieder und die Leute aus dem Büro dürfen dort ohne Erlaubnis hin. Alle anderen müssen Aarons Entscheidung abwarten, ob sie bereit dazu sind. Es ist ein Privileg, in die Isolationskammer zu dürfen.«
»Ich dachte, es sei eine Strafe?«
»Das war es zuerst, aber dann sagten ein paar Mitglieder, die das durchgemacht haben, sie hätten ihre Körper verlassen und Visionen gehabt, von ihrem spirituellen Selbst und solches Zeug.«
Für mich klang es, als hätten sie außerkörperliche Halluzinationen gehabt. »Wie lange hält er die Leute dort unten fest?«
»Manchmal tagelang. Und sie dürfen nichts essen oder trinken.«
Das würde die Visionen erklären.
»Inzwischen betteln die Leute darum, da runter zu dürfen«, fuhr Tammy fort. »Er setzt es als Belohnung ein – aber er sagt, dass er der Einzige ist, der mit der anderen Seite kommunizieren kann. Was alle anderen sehen, ist nur ein Fenster, aber er kann die Tür öffnen.«
Ich schüttelte den Kopf, fassungslos, wie weit Aarons Gedankenkontrolle reichte. Ob er auch in anderen Bereichen noch extremer geworden war? »Hält er immer noch Satsangs ab?«
»Ja. Jede Woche brachte er uns neue Chanting-Sequenzen bei, die wir auswendig lernen mussten. Er macht auch Video-Podcasts, für die Zeiten, in denen er weg ist. Privatcomputer sind nicht gestattet – es gibt nur welche, die die Büroleute für die Verwaltung und so brauchen. Also spielen sie die Podcasts auf dem großen Bildschirm im Meditationsraum ab.«
»Ich hörte, dass sie auch einen Laden haben?«
Sie nickte. »In der Nähe der Innenstadt. Sie verkaufen Bio-Lebensmittel, Bücher, CDs und Schmuck. Darüber haben wir eine Menge Obdachlose und Straßenkinder gefunden.« Tammy hatte sich warmgeredet und wirkte sichtlich erleichtert, über ihre Erlebnisse sprechen zu können. »Er macht nicht mehr viele private Heil-Meditationen, nur für die Leute, zu denen er eine Vision hatte. Aber in den Räumen sind Lautsprecher, so dass er zu allen sprechen kann. Manchmal ist er zu uns Kindern in die Schule gekommen und hat uns beim Chanten vorgesungen. Er sagte, unsere Seelen seien reiner und offener für die Schwingungen der Erde.«
Ich stellte mir Kinder vor, die sich um Aaron drängen und zu seinen Füßen knien. Dann erinnerte ich mich daran, wie ich vor ihm gekniet hatte, während er meinen Kopf nach unten drückte.
Tammy beobachtete mich. Ich brauchte einige Momente, um meine Stimme wiederzufinden und meine Gedanken zu sammeln. Der nächste Teil würde schwierig werden.
»Da ist noch etwas, über das ich heute gerne mit Ihnen sprechen würde.« Ich räusperte mich und nahm einen Schluck von meinem Kaffee. »Aaron … er hat mich auch sexuell missbraucht, als ich ein Kind war.« Tammys Augen weiteten sich. »Er überzeugte mich, dass ich ihn … Sachen mit mir machen lassen musste, oder meine Mutter würde krank werden. Als ich mich daran erinnerte, was er getan hat, begann ich mir Sorgen zu machen, dass es noch mehr Mädchen geben könnte …«
Einen Moment lang glaubte ich, Tammy würde anfangen zu weinen, aber dann sah sie zu ihrem Sohn, blinzelte heftig und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen.
»Mir hat er erzählt, ich sei etwas ganz Besonderes und dass er meiner Familie helfen könnte«, sagte sie leise. »Aber ich dürfte niemandem davon erzählen. Es musste unser Geheimnis bleiben.«
Ich nickte, mit einer Mischung aus Traurigkeit und Wut über unsere verlorene Unschuld und darüber, wie er unser Vertrauen missbraucht hatte. Alles, was sie sagte, war nur zu vertraut.
»Er sagte auch, wenn ich ihm nicht helfe, würde er meine Eltern oder Schwester nicht länger behandeln, und sie würden an Krebs sterben.«
Also drohte er immer noch mit Krankheit, um die Menschen zu manipulieren. Nachdem Tammy bereits ihren Bruder hatte sterben sehen, war das gewiss ein mächtiges Druckmittel gewesen. Behutsam sagte ich: »Haben Sie Ihren Eltern jemals von dem Missbrauch erzählt?«
»Wir haben es versucht, aber sie haben uns nicht geglaubt. Sie sagten, es sei eine Ehre, private Heilsitzungen bei ihm zu haben.« Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.
»Es tut mir so leid, Tammy.« Es war eine traurige Tatsache, dass viele Eltern ihren Kindern in solchen Fällen nicht glauben wollten, besonders, wenn es um ein anderes Familienmitglied oder ein respektiertes Mitglied der Gemeinschaft ging.
»Ich weiß, sie sind einfach nur verkorkst, seinetwegen, und weil unser Bruder gestorben ist, aber ich weiß nicht, wie man seinem eigenen Kind nicht glauben kann.« Sie blickte erneut zu ihrem Sohn. »Wenn irgendjemand Dillon etwas antun würde, würde ich ihn umbringen.« Tammy wandte sich wieder an mich. »Joseph hat uns ausfindig gemacht, nachdem wir zur Polizei gegangen sind.«
Also lebte Joseph noch. Ich wollte nach seiner Stellung im Zentrum, nach seiner geistigen Gesundheit fragen, doch Tammy beantwortete meine unausgesprochene Frage selbst mit dem nächsten Satz.
»Irgendetwas stimmt mit ihm nicht. Er war mir immer schon irgendwie unheimlich gewesen, aber da geiferte er jetzt richtig rum und sagte verrückte Sachen. Zum Beispiel, dass das Licht uns strafen würde, wenn wir unsere Geschichte nicht zurückzögen. Wir hatten Angst, dass er uns etwas antun würde, also erzählten wir der Polizei, wir hätten uns das alles nur ausgedacht. Nicole hatte immer noch furchtbare Angst und ging zurück.«
»Aber Sie nicht?«
»Ich hatte inzwischen meinen Mann kennengelernt. Eines Tages sah er Joseph vor meinem Haus und sagte ihm, dass er ihn umbringen würde, wenn er noch einmal in meine Nähe käme. Danach haben wir nie wieder etwas von ihm gehört.«
Ich dachte daran, wie es war, als mein Vater auftauchte, um uns abzuholen. Es schien, als übten Aaron und Joseph ständig Druck auf die Leute aus, es sei denn, sie sahen sich mit wütenden Vätern oder Ehemännern konfrontiert. Sie achteten sorgfältig darauf, immer unterhalb des Radars zu bleiben.
Tammy hatte stolz und glücklich geklungen, so einen wehrhaften Mann zu haben, aber jetzt sagte sie traurig: »Es ist hart, nicht mehr mit Nicole reden oder sie sehen zu können. Sie war meine beste Freundin.«
Ich schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie sie sehr vermissen.« Ich wartete einen Moment, dann fragte ich: »Haben Sie jemals Aaron mit anderen Mädchen zusammen gesehen?«
Sie nickte. »Manchmal, wenn er richtig nett zu einem neuen Mädchen war und mich oder Nicole ignorierte, konnten wir uns ausrechnen, was er mit ihr machte. Aber das Merkwürdige ist, dass ich eifersüchtig war, als würde es bedeuten, dass ich nichts Besonderes mehr bin oder so.«
»Der Wunsch, sich als etwas Besonderes zu fühlen, ist völlig normal, aber das bedeutet nicht, dass Sie seine sexuelle Aufmerksamkeit wollten. Sie brauchen sich dieser Gefühle nicht zu schämen.«
Tammy wirkte ein wenig erleichtert. »Manchmal denke ich, dass Nicole deswegen zurückgegangen ist. Sie wollte dort sein, wo so etwas normal ist, weil sie sich dann deswegen nicht so komisch vorkommt. Hier draußen schämte sie sich mehr … und fühlte sich schmutzig.«
Ich war traurig, als ich an dieses junge Mädchen dachte, das ganz allein mit diesen Gefühlen fertig werden musste. »Manche Menschen haben Schwierigkeiten, sich einer neuen Umgebung mit weniger Struktur anzupassen, wo niemand ihnen die ganze Zeit sagt, was sie sagen oder tun sollen. Vor allem, wenn sie keine Familie oder Freunde haben, die sie unterstützen. Das könnte ein weiterer Grund sein, warum Nicole sich entschieden hat, zurückzugehen.«
»Am Anfang war es manchmal echt hart. Ich musste immer daran denken, wie furchterregend Joseph aussah, und hatte Albträume von ihm, dass er eines Tages aufkreuzt und mich zurückbringt. Ich träume immer noch davon.« Sie blickte sogar zur Tür, als könnte er hören, dass sie seinen Namen aussprach.
»Ist Joseph in der Kommune jemals gewalttätig geworden?«, fragte ich. »Oder was ist mit Aaron, wenn jemand etwas falsch gemacht hatte oder die Kommune verlassen wollte?«
»Nicht dass ich wüsste …« Sie kniff die Augen zusammen und dachte zurück. »Die Berater fragen Aaron um Rat, und er holt dann die entsprechende Person zur Anpassung zu sich.«
»Wer sind die Berater?«
»Mitglieder, die schon ganz lange dabei sind«, sagte sie. »Sie sind so etwas wie Mentoren und helfen den Mitgliedern, wenn sie Probleme haben. Oder sie sagen einem, wie man den anderen Mitgliedern helfen soll. Wenn zum Beispiel jemand bei der Meditation etwas falsch gemacht hat, wie zu früh Wasser zu trinken oder auf die Toilette zu gehen, durften wir danach nicht mit ihm reden.«
»Haben noch andere Leute versucht, die Kommune zu verlassen? Wie sind Sie da rausgekommen?«
»Wir haben im Laden gearbeitet und uns mit ein paar Leuten von draußen angefreundet. Wir hatten Angst, weil Aaron immer, wenn Leute weggezogen sind, erzählt hat, dass ihnen da draußen furchtbare Dinge zugestoßen sind. Sie hatten Autounfälle oder wurden überfallen oder bekamen irgendeine schlimme Krankheit. Und diejenigen, die zurückkamen, berichteten, dass das Leben draußen tatsächlich schwerer ist. Sie hatten zum Beispiel kein Geld und fanden keinen Job – viele von ihnen haben wieder angefangen, Drogen zu nehmen. Sie sind völlig verstört zurückgekommen.« Sie verstummte.
»Wie war es, wenn jemand krank wurde?«
»Wir durften keine Medikamente nehmen, aber jeder rauchte Marihuana. Wir durften mit niemandem darüber reden, der nur zu den Retreats kam, nur mit denen, die Vollmitglieder wurden. Er sagte, Außenstehende würde es nicht begreifen.«
Ich nickte und dachte über alles nach.
Sie fragte: »Jetzt, wo Sie der Polizei Ihre Geschichte erzählt haben – wird er jetzt verhaftet?«
»Sie haben ihn vernommen, aber ohne weitere Zeugen oder Beweise können sie keine Anklage erheben.«
Sie machte ein niedergeschlagenes Gesicht, die Überraschung und Enttäuschung waren ihr anzumerken. »Es wird also nichts passieren?«
»Erst, wenn noch mehr Menschen ihre Geschichte öffentlich machen. Wenn Sie ihn erneut anzeigen würden …«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde das alles nicht noch einmal durchmachen. Diese Fragen, das war grausam. Meine Eltern … sie würden mir niemals vergeben.«
»Ich weiß, dass Sie das Gefühl haben, Sie seien diejenige, die etwas falsch gemacht hat. Aber wenn man Aaron verhaften würde, stünden die Mitglieder nicht länger unter seinem Bann, und das Zentrum würde wahrscheinlich schließen. Selbst wenn er außer Landes flieht, könnte er Ihre Schwester und Ihre Eltern nicht länger beeinflussen. Sie könnten vielleicht wieder zusammenkommen.«
»So habe ich das noch nie betrachtet.« Ihr Baby begann, in seinem Laufstall zu weinen. Sie ging zu ihm, hob den Jungen heraus und ließ ihn auf der Hüfte wippen. »Ich will, dass er so schnell wie möglich geschnappt wird. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lasse?«
»Natürlich nicht. Aber eines interessiert mich noch. Warum waren Sie bereit, sich mit mir zu treffen?«
»Ich habe noch nie mit jemandem geredet, Sie wissen schon, der auch bei denen gelebt hat.«
Wir sahen uns an. Ich sagte: »Danke, dass ich heute hierherkommen und mit Ihnen reden durfte. Mir hat es auch gutgetan, über all das zu sprechen.«
Sie lächelte scheu, fügte jedoch hinzu: »Ich glaube trotzdem nicht, dass ich noch einmal mit der Polizei darüber reden möchte. Tut mir leid.«
»Lassen Sie sich Zeit. Sie müssen sich nicht heute Abend entscheiden.« Ich holte einen Zettel aus meiner Handtasche und schrieb ihr meine Telefonnummer auf. »Ich weiß, dass es schmerzhaft ist. Und es gibt vieles zu bedenken.« Ich schob den Zettel über den Tisch und sagte: »Wenn Sie irgendwann einmal reden möchten, rufen Sie mich an.«
»Danke.«
Sie stand immer noch neben dem Laufstall und drückte ihren Sohn an sich, während sie den Blick abwandte und sein Haar zerzauste. Das Baby schenkte mir ein zahnloses Lächeln.
Draußen saß ich einen Moment reglos in meinem Wagen, starrte ihr Haus an und dachte an Josephs letzten Besuch bei ihr. War ich leichtsinnig? Brachte ich mich selbst, Tammy und wen weiß noch alles in Gefahr? Ich dachte wieder an Willow. Sie war von zu Hause weggelaufen, und niemand hatte sie groß vermisst. Wenn mir oder jemandem, mit dem ich gesprochen hatte, etwas zustieße, wäre es dagegen schwerer für Aaron, seine Verstrickung zu leugnen. Trotzdem verriegelte ich die Türen und sah mich um, ob sonst noch irgendwo jemand in seinem Auto saß. Die Straße war ruhig.