8. Kapitel

Am Abend nach der Sitzung mit Heather wollte ich mein Fahrrad aus dem Schuppen holen. Das hatte ich schon häufig getan, seit ich hierhergezogen war, aber dieses Mal brach mir in dem kleinen Raum der Schweiß aus, und mein Herz raste. Ich packte den Fahrradlenker und versuchte hastig, rückwärts hinauszukommen, doch dabei fiel eine Gartenschaufel um und krachte in eines der Räder. Mittlerweile in voller Panik, zerrte ich an der Schaufel, doch meine Hände waren feucht und rutschig, so dass ich mit der einen abglitt, hinten gegen die Wand prallte und mir die Knöchel aufscheuerte.

Als ich endlich mein Fahrrad draußen hatte, schob ich es auf meine Auffahrt, saugte an dem Kratzer und ärgerte mich über mich selbst. Morgens war ich schon einmal in Panik geraten, als ich auf den Fahrstuhl zum Parkplatz gewartet hatte. Die Türen öffneten sich, doch ich schaffte es nicht, einzusteigen, obwohl keine Leute darin standen. Ich musste die Treppe nehmen und im engen Treppenhaus gegen die Übelkeit ankämpfen, bis ich endlich die Metalltür aufreißen und hinaus ins Licht stürzen konnte, wo ich die frische Luft in tiefen Zügen einsog.

Es war nicht zu übersehen, dass meine Gespräche mit Heather über das Zentrum meine Klaustrophobie verstärkt hatten. Ich wünschte, ich hätte den Grund gewusst, so dass ich mich der Angst stellen konnte. Ich beschloss, hinunter zum Kai zu fahren, um meinen Kopf freizubekommen. An einer roten Ampel rollte ein Pick-up im Leerlauf neben mir heran. Ich sah hinüber zu dem älteren Mann mit Baseballmütze, einer langen Nase und dunklen, buschigen Brauen, wie die meines Vaters. Durch das Rückfenster sah ich einen leeren Gewehrhalter. Die Ampel sprang auf Grün, und er fuhr dröhnend davon, doch ich war in meinen Erinnerungen gefangen.

Als wir von der Kommune fortfahren, schaue ich durch das Rückfenster. Aaron starrt dem Truck nach, mit einem Hass im Blick, den ich nie zuvor in meinem Leben gesehen habe. Unwillkürlich schnappe ich nach Luft. Robbie dreht sich um, aber da ist Aarons Miene schon wieder ausdruckslos. Er sieht uns nach, bis wir außer Sicht sind.

Ein Auto hielt neben mir an, das Radio plärrte, und ich landete unsanft wieder in der Gegenwart. Ich fuhr weiter, hinunter zum Kai, aber ich konnte den Schatten meiner Erinnerung nicht abschütteln. Ich hatte Aarons Gesichtsausdruck am Tag unserer Abreise vergessen, hatte vergessen, wie viel Angst er mir eingejagt hatte. Jetzt erinnerte ich mich wieder an meine Furcht bei unserem Aufbruch, dass Aaron es irgendwie schaffen würde, uns zurückzuholen, und dass wir dann echt in der Klemme säßen, doch zugleich war ich froh, meinen Vater zu sehen. Meine Mutter saß neben ihm, und wir quetschten uns alle auf der Vorderbank des Trucks zusammen. Wir fuhren nach Hause.

Wir versuchten, unser gewohntes Leben wiederaufzunehmen, und ich bemühte mich, in der Schule Fuß zu fassen. Eine Frau in der Kommune war früher Lehrerin gewesen, so dass wir etwas Unterricht gehabt hatten, aber ich musste mich gewaltig anstrengen, um den Stoff nachzuholen, oder ich lief Gefahr, die Klasse wiederholen zu müssen. Ich fand nie wieder richtigen Anschluss bei meinen Freundinnen. Ich hatte mich verändert. Wir alle hatten uns verändert. Robbie war trotzig und distanziert, begann sich in der Schule zu prügeln und zu trinken. Noch schlimmer war, dass er kaum mit mir sprach. Sogar unsere Tiere hatten sich verändert. Die Katzen waren halb verwildert, zogen in die Scheune und ließen niemanden mehr an sich heran. Jake lief davon und kam Tage später zurück, nach Aas stinkend, mit wildem Blick und verfilztem Fell.

Nichts wurde wieder so, wie es gewesen war.


Heather wurde von Tag zu Tag mitteilsamer, und von Michelle erfuhr ich, dass sie angefangen hatte, tagsüber aus ihrem Zimmer zu kommen und sich mit anderen Patienten zu unterhalten. Sie nahm sogar an einem von Kevins Entspannungstrainings teil. Daniel besuchte sie immer noch jeden Tag nach der Arbeit. Heather stand jetzt nicht mehr unter ganz so strenger Beobachtung, und weil das Risiko, dass sie davonlaufen könnte, als gering eingeschätzt wurde, hatte man ihr gestattet, normale Kleidung zu tragen. Normalerweise kleidete sie sich in Jeans und Pullover, deren Ärmel bis über die Handgelenke reichten, und sie trug teure Marken. Ich fragte mich, wie sie zurechtkommen würde, sollten ihre Eltern ihr jemals die Geldmittel streichen.

Jetzt, wo Heather sich mehr pflegte, wusch sie ihre Haare regelmäßig und band sie zu einem Pferdeschwanz zurück, so dass sie frisch und jugendlich wie eine Collegestudentin wirkte. Sie war zwar oft zaghaft und unsicher, hatte aber auch etwas sehr Liebenswertes an sich. Sie erkundigte sich, wie es mir ging, oder äußerte sich besorgt über eine andere Patientin. Ich konnte gut nachvollziehen, warum Daniel sich so zu ihr hingezogen fühlte. Allmählich mochte ich sie selbst recht gern und war ganz eingenommen von ihrer einfühlsamen, mitfühlenden Art.


Eines Tages traf ich zufällig Kevin auf dem Gang vor seinem Büro.

»Und, wie läuft’s mit Heather?«, fragte er.

»Sie macht Fortschritte. Ich bin froh, dass ich sie behalten habe.« Ich freute mich unglaublich, dass es ihr besserging. Allzu häufig hatten wir es mit Menschen zu tun, die chronisch suizidgefährdet und wild entschlossen waren, sich auf Teufel komm raus selbst zu zerstören. Es war angenehm, jemanden wie Heather zu behandeln, die tatsächlich zuhörte und bereitwillig an ihrem Behandlungsplan mitarbeitete.

»Gut. Freut mich, dass sich das geklärt hat.«

Ich verschwieg ihm allerdings, dass es auf mich den gegenteiligen Effekt hatte. Meiner Patientin ging es besser, aber mir immer schlechter. Jetzt, wo Heather die Schleusen meiner Erinnerungen geöffnet hatte, musste ich nachts wieder das Licht anmachen, oder ich wälzte mich stundenlang im Bett und horchte bei jedem Geräusch auf. Ich hatte aufgehört, den Fahrstuhl im Krankenhaus zu benutzen, und nahm nur noch die Treppe. Nach der Arbeit konnte ich die Vorstellung nicht ertragen, nach Hause zu fahren und mit meinen Gedanken allein zu sein, während die Wände auf mich zuzukommen schienen, also fuhr ich durch die Straßen und hielt Ausschau nach Lisa.

Gleich nachdem ich wieder in die Stadt gezogen war, war ich zu dem Wohnblock gegangen, in dem Lisa laut einer Freundin wohnen sollte. Doch der Vermieter, ein übler Kerl, hatte sie rausgeschmissen. Ein junger Mann erzählte mir, dass sie bei ein paar Leuten in der Innenstadt wohnte, aber das entpuppte sich ebenfalls als Sackgasse. Sie hatte eine Weile bei ihnen auf dem Sofa geschlafen und war dann verschwunden. Als ich fragte, ob sie immer noch Drogen nahm – sie war auf Crystal Meth gewesen –, erzählte man mir, dass sie versuchte, clean zu werden, und es fast geschafft hatte. Aber ich wusste, dass ihre Erfolgsaussichten ohne eine Therapie schlecht waren – ein Punkt, über den wir uns schon häufig gestritten hatten.

Als Paul im letzten Jahr meiner Facharztausbildung krank wurde, war Lisa vierzehn. Ab dem Zeitpunkt begann sie mir zu entgleiten. Sie sprach kaum, lief in schlabberigen Klamotten herum, bleichte sich die Haare, malte sich die Augen schwarz an und hing mit anderen Jugendlichen herum, die ich für wenig vertrauenswürdig hielt. Nach Pauls Tod, in jenen düsteren Tagen, als ein Teil von mir mit ihm gestorben war, wurde sie noch stiller, weigerte sich ganz, mit mir zu reden. Sie blieb nächtelang fort, schlief den ganzen Tag und schwänzte die Schule. Nicht einmal ihr einundzwanzigjähriger Stiefbruder, Garret, konnte sie aus ihrem Schneckenhaus hervorlocken. Als ich Paul kennenlernte, war er erst fünf Jahre alt gewesen und alles andere als glücklich damit, doch schließlich wurden wir Freunde. Als Paul krank wurde, verbrachte Garret viel Zeit mit Lisa, ging mit ihr Hamburger essen, sorgte dafür, dass sie beschäftigt war, während ich im Krankenhaus war. Wenn ich nach Hause kam, fing sie wegen jeder Kleinigkeit Streit an. Es tat mir im Herzen weh, und ich wusste, wie verzweifelt sie wegen ihres Vaters war. Aber ich war auch wütend auf sie – weil sie mit mir stritt, obwohl ich es kaum durch den Tag schaffte, weil sie Drogen nahm und sich selbst zerstörte, während ich mein Möglichstes tat, um die Familie zusammenzuhalten.

Ich schaltete schnell, was ihre Stimmungsschwankungen, die schlechte Haut, die Unruhe und Paranoia zu bedeuten hatten. Ich hasste diesen Dämon, der mir meine süße Tochter stahl, die früher Tiere und Freunde aufgepäppelt hatte, die eines Tages Tierärztin werden wollte wie ihr Vater. Verzweifelt musste ich mit ansehen, wie sie vor meinen Augen immer weiter abbaute, wie ihre Wangen hohl wurden und jede Lebendigkeit aus ihrem Blick schwand. Als Krabbelkind war sie ein pummeliges, kleines Ding mit roten Apfelbäckchen gewesen. Ich tat immer, als würde ich daran knabbern, woraufhin sie quietschend lachte. Ihre Augen konnten schon immer ganze Geschichten erzählen, doch jetzt konnte ich sie nicht einmal dazu bringen, mich anzusehen.

Eines Tages durchsuchte ich Lisas Zimmer und entdeckte ganz hinten in ihrem Kleiderschrank eine verschlossene Metallkiste. Ich warf alles in den Müll, die kleinen Tütchen, die Pfeifen, Strohhalme, Aschenbecher und Spiegel. Ich schickte sie in eine Entzugsklinik, aus der sie mich anrief und mich anbettelte, sie abzuholen, doch ich blieb hart. Als sie wieder zu Hause war, blieb sie nach wenigen Wochen erneut nächtelang fort. Schließlich verkaufte ich aus purer Verzweiflung unser Haus und zog mit ihr nach Nanaimo, in der Hoffnung, dass eine kleinere Stadt weniger Ärger bedeutete. Doch selbst dort fand sie Wege, um an den Stoff heranzukommen. In ihrem letzten Schuljahr lief sie dreimal davon. Trotzdem schaffte sie ihren Abschluss, allerdings als Schlusslicht ihrer Klasse. Jetzt, dachte ich. Jetzt wird sie ihr Leben grundsätzlich ändern. Doch meine Erleichterung war nur von kurzer Dauer. An dem Tag, an dem sie mit der Schule fertig war, warf sie ein paar Sachen in ihren Rucksack und stürmte aus dem Haus. Erst später erfuhr ich, dass sie nach Victoria zurückgekehrt war.

Seitdem versuchte ich, sie über die Eltern ihrer Freunde im Auge zu behalten. Einmal kam sie zu Weihnachten nach Hause, verbrachte die meiste Zeit mit ihrem Handy, während ich versuchte, den Zauber ihrer Kindheit wieder zum Leben zu erwecken. Im Jahr darauf versprach sie, Weihnachten heimzukommen, sie rief sogar ein paar Tage vorher an, um es zu bestätigen, tauchte aber nie auf. Seitdem war sie nicht mehr zu Hause gewesen. Ich hob jedes Geschenk von jedem Weihnachtsfest und jedem verpassten Geburtstag auf. Und ich hörte niemals auf, meine Tochter zu vermissen.

Keine Nacht verging, in der ich mich nicht fragte, wo sie war, ob sie genug zu essen hatte, ob sie womöglich fror. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was sie ihrem Körper antun mochte, an die Dinge, die sie womöglich tat, um an Drogen zu kommen. Und vor allen kämpfte ich mit den Schuldgefühlen. War ich zu sehr mit meiner eigenen Trauer beschäftigt? Ich hätte mehr mit ihr sprechen sollen, hätte früher herausfinden müssen, was los war.

Und über alldem lag stets das beschämende Gefühl, als Ärztin versagt zu haben. Als sie anfing, Drogen zu nehmen, glaubte ich noch, ihr helfen zu können. Ich war Psychiaterin, natürlich konnte ich meiner eigenen Tochter helfen! Aber dann, als jeder Versuch fehlschlug und sie schließlich davonlief, dachte ich: Was bin ich bloß für eine Ärztin? Wie kann ich mich einen Profi nennen, wenn meine drogenabhängige Tochter auf der Straße lebt?

Manchmal fragte ich mich, ob die Probleme nicht vielleicht schon angefangen hatten, bevor Paul krank wurde. Nach Lisas Geburt blieb ich ein Jahr zu Hause, anschließend arbeitete ich Teilzeit in der Klinik. Als sie fünf war, beschloss ich, einen langgehegten Traum zu verwirklichen und Psychiaterin zu werden. Paul unterstützte mein Vorhaben, und ich schrieb mich an der Medizinischen Hochschule in Vancouver ein. Lisa lebte bei mir und kam bald darauf ebenfalls in die Schule. Paul besuchte uns an den Wochenenden. Als Lisa zehn war, gingen wir zurück auf die Insel, und ich schloss meine Facharztausbildung im St.-Adrians-Krankenhaus ab. Während dieser Jahre gab ich mir Mühe, alles unter einen Hut zu bekommen, ich wollte trotz meiner Arbeit eine gute Ehefrau und Mutter sein. Doch jetzt entsann ich mich, wie oft ich Lisa schroff angefahren hatte, weil ich auf dem Sprung zur Vorlesung war, oder wie ich ihr befahl, leise zu sein, weil ich lernen musste – und ihres enttäuschten Gesichts.

Vor acht Monaten hatte ich Lisa das letzte Mal gesehen. Nachdem ich vor meiner Praxis überfallen worden war, hatte meine Freundin Connie sie schließlich aufgespürt. Sie besuchte mich im Krankenhaus. Ich war so froh, nahm sie ganz fest in die Arme und hätte sie am liebsten nie wieder losgelassen, damit sie nie mehr davonlaufen könnte. Aber sie war nervös, hatte dunkle Ringe unter ihren umwerfend blauen Augen und war erschreckend dünn. Sie war hochgewachsen wie ihr Vater, und ihr Anblick erinnerte mich an Paul, wie er kurz vor seinem Tod ausgesehen hatte. Sie konnte mich kaum ansehen, blieb nur ein paar Minuten und erklärte dann, sie sei mit einem Freund verabredet. Danach verlor ich ihre Spur. Sie wechselte ihre Freunde so rasch wie ihre Wohnungen.

Nach meinem Umzug nach Victoria musste ich endgültig einsehen, dass alle Spuren, die mich zu Lisa hätten führen können, erkaltet waren. Ich besuchte die Victoria New Hope Society, die drei Wohnheime für Obdachlose betrieb, und zeigte ein Foto von Lisa herum, aber niemand gab mir Auskunft. Ich fragte mich, ob ich meine eigene Tochter erkennen würde, wenn ich sie sähe. Ich wusste nicht einmal, welche Haarfarbe sie zurzeit hatte. Als sie es das erste Mal bleichte, hatte ich mich bemüht, es als Ausdruck ihrer Selbstfindung zu werten und sie in ihrer Eigenständigkeit zu unterstützen. Doch ich vermisste das kleine Mädchen, das genauso werden wollte wie seine Mutter, das mich bat, seine Haare genauso zu flechten wie meine, damit wir gleich aussahen. Dabei waren wir niemals gleich.

Sie war still, während ich mitteilsam war und stets versuchte, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich wollte immer wissen, warum die Menschen auf die Weise empfanden, wie sie es taten. War das vielleicht einer der vielen falschen Wege, die ich eingeschlagen hatte? Da ich in einer Familie aufgewachsen war, in der über nichts gesprochen wurde, wollte ich in der Beziehung zu Lisa absolute Offenheit. Ich ermutigte sie, über ihre Gefühle zu sprechen und mir zu erzählen, was sie dachte, doch sie behielt ihre Meinung stets für sich. Als sie kleiner war, frustrierte mich ihr Schweigen – und ängstigte mich. Erst nach ihrem Auszug gestand ich mir ein, dass ich mit ihr über ihre Gefühle reden wollte, damit ich sie leiten und kontrollieren konnte, damit ich sie beschützen konnte.

Hin und wieder hielt ich bei meinen abendlichen Runden an und zeigte ihr Foto ein paar Straßenkids. Ob Lisa wohl erfuhr, dass ich nach ihr suchte? Ich hatte Angst, meine Versuche, sie zu finden, könnten sie womöglich gleich wieder vertreiben.

Ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Es war immer das Gleiche: nur eine weitere Gruppe Jugendlicher, mit ihren Kapuzenpullis, Baggys und Skateboards, von denen keiner meine Tochter je zu Gesicht bekommen hatte.


Als ich nach einer neuerlichen fruchtlosen Suche nach Lisa auf meiner Auffahrt parkte und um die Hausecke zur Hintertür ging, bemerkte ich die schwarze Katze, die einem Vogel auflauerte. Sie entdeckte mich und sprang über die klappernden Mülleimerdeckel auf den Zaun. Die Katze starrte auf mich hinab, ihr magerer Schwanz zuckte hin und her – nicht ängstlich, sondern verärgert. Ich machte schnalzende Geräusche, aber sie drehte mir den Rücken zu und fing an, sich die Pfoten zu lecken. Ich füllte etwas Thunfisch auf einen Teller und ging wieder hinaus. Sie beäugte mich von ihrem Hochsitz auf dem Zaum, kam jedoch nicht näher, egal, wie viele Lockgeräusche ich machte. Ich stellte den Teller auf die Brüstung meiner Veranda. Am nächsten Morgen stellte ich auf dem Weg zur Arbeit erfreut fest, dass der Teller saubergeleckt war. Abends stellte ich, als ich nach Hause kam, eine Kiste mit einer Decke nach draußen, damit sie einen geschützten Ort zum Schlafen hatte. Meine Gedanken wanderten wieder zu Lisa. Wo steckte sie? Hatte sie es nachts warm? Ob sie wohl jemals an mich dachte?


Das Pflegepersonal erzählte mir, dass Heather nicht mehr so viel schlief. Tags zuvor hatte sie an einer weiteren Gruppensitzung teilgenommen und anschließend den Rest des Tages mit einigen Patienten vor dem Fernseher verbracht – alles gute Zeichen. Während der Visite sprachen wir länger. Ihr Selbstwertgefühl war noch immer sehr schwach, und sie hatte weiterhin ein schlechtes Gewissen, weil sie die Kommune verlassen hatte. Aber ich konnte sie dazu bringen, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und mit mir zusammen weiter an ihrem Behandlungsplan zu arbeiten.

»Was könnten Sie heute machen, das Ihnen guttun würde?«

»Ich kann an einer Gruppe teilnehmen oder auf der Station herumgehen«, erwiderte sie.

»Das klingt sehr gut.« Wir sprachen ein paar Minuten über weitere Dinge, die sie ausprobieren könnte, dann fragte ich sie, ob sie immer noch daran dachte, sich selbst etwas anzutun.

»Manchmal, aber nicht mehr so oft.« Sie blickte sich um. »Hier drin ist es anders. Ich bin nicht so allein. Und die Schwestern sind alle so nett, Michelle zum Beispiel. Ich fühle mich …« Sie zuckte die Achseln. »Irgendwie sicherer. Als sei ich nicht verrückt oder schlecht oder so.«

»Das sind Sie auch nicht. Und ich freue mich, dass Sie anfangen, das zu erkennen.«

»Es ist schön, jemanden zu haben, der einem zuhört.« Sie lächelte. »Ich habe immer Emily zugehört, wenn sie durcheinander war. Wir mussten dann immer in den Stall gehen – sie liebt Pferde.«

»Das klingt, als wären Sie eine große Hilfe für sie gewesen.«

»Ich fühlte mich wie ihre große Schwester.« Sie schwieg nachdenklich. »Ich habe ihr gezeigt, wie man ohne Sattel reitet, und wir sind jeden Tag runter zum Fluss geritten, nur um zu reden.«

Als Heather den Weg hinunter zum Wasser beschrieb, drängten lebhafte Bilder und Geräusche in mein Bewusstsein – der Wald, in dem es selbst im Sommer kühl war, das Knarzen eines Sattels, der erdige Duft der Wälder und Pferde. Ich wurde in die Vergangenheit zurückgezogen.

Willow und ich reiten zusammen aus, ohne Sättel durch den Wald. Wir machen eine Pause, um die Tiere im Fluss trinken zu lassen. Sie steht neben mir, ihr Pferd schnüffelt an ihrer Schulter. Sie sagt: »Ich habe Aaron ein paarmal mit dir gesehen …« Ohne Vorwarnung pocht mein Herz bis in die Ohren, Panik schwemmt in mein Blut.

Sie redet weiter. »Ich habe gesehen, wie du mit ihm vom Fluss zurückgekommen bist. Du sahst ganz verstört aus. Wenn es irgendetwas gibt, über das du reden möchtest …«

Mein Herz schlägt jetzt so hart gegen meine Brust, dass ich kaum atmen kann. Scham, dick und heiß, drückt mich nieder.

Verstimmt sage ich: »Da gibt es nichts zu reden.«

»Wenn er dir weh getan hat …«

Aber ich wende mich bereits ab, erklimme einen Holzstamm, um auf den Rücken des Pferdes zu steigen. »Lass uns weiterreiten.«

Heathers Stimme holt mich wieder in die Gegenwart zurück. »Das ist einer der Gründe, warum ich überlege, zurückzugehen. Damit ich ihr helfen kann. Ich hoffe, es geht ihr gut.«

Ich schüttelte meine Erinnerung ab, doch die damit verbundenen Gefühle wollten nicht weichen. Vor Angst und Bestürzung krampfte sich mein Magen zusammen.

»Es geht ihr doch bestimmt gut, oder?«, sagte Heather.

»Es klingt, als würden Sie sich in gewisser Weise für Emily verantwortlich fühlen, aber sie ist eine erwachsene Frau und kann ihre eigenen Entscheidungen treffen. Genau wie Sie sich entschieden haben zu gehen, können Sie sich jetzt entscheiden, Ihren Behandlungsplan einzuhalten und selbst wieder gesund zu werden.«

Sie nickte. »Ich weiß. Es geht mir schon besser. Ich spüre es bereits.«


Meine nächste Patientin war eine Frau Anfang siebzig namens Francine, die neu auf die Geschlossene eingewiesen worden war. Man hatte sie aufgegriffen, als sie im Nachthemd durch die Gegend spazierte. Die Diagnose lautete Demenz, und sie hatte keine Familie. Demenzpatienten sind schwierig zu behandeln, und wir können nur wenig für sie tun, aber zumeist müssen sie im Krankenhaus bleiben, bis ein Platz im Pflegeheim für sie gefunden ist. Sie sind verwirrt und verstört, weil sie ihre Erinnerungen verloren haben, und versuchen regelmäßig zu fliehen. Francine hatte den Tag damit zugebracht, umherzuwandern, an den Türen zu rütteln und jeden anzubetteln, sie gehen zu lassen. Sie verweigerte sich jeglichem Zuspruch, so dass wir sie einfach in Ruhe lassen mussten, bis sie sich von allein beruhigte. Als ich sie fragte, ob sie wüsste, warum sie im Krankenhaus war, lachte sie unbekümmert und sagte, sie würde ein Abenteuer erleben. Dann wechselte ihre Miene schlagartig, und sie sah mich traurig und verängstigt an. »Wo bin ich? Wann kann ich nach Hause?«

Behutsam erklärte ich: »Miss Hendrickson, Sie sind im Krankenhaus, weil Sie Schwierigkeiten haben, sich an Dinge zu erinnern, und wir nicht möchten, dass Ihnen etwas zustößt.«

Bestürzt sah sie sich im Behandlungszimmer um. »Ich bin im Krankenhaus?« Ihr Blick wurde plötzlich klar, als sie sich zu mir umdrehte und mich niedergeschlagen anschaute. »Ich komme nie wieder hier raus, nicht wahr?«

»Sie müssen nur noch ein Weilchen hierbleiben, während wir ein paar Tests mit Ihnen machen.«

Sie griff über den Tisch nach meiner Hand, ihre Miene hellte sich auf, und ihre Augen leuchteten. »Was hatte ich für ein Leben! Ich war Künstlerin und bin um die ganze Welt gereist, um zu malen. In jedem Land hatte ich Freunde. Ich kann Ihnen Geschichten erzählen, so viele Geschichten!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die in den tiefen Furchen ihres Gesichts versickerten. Ihr langes, verfilztes Haar lag wie ein weißer Rahmen um ihre Züge. Ihre Stimme zitterte, wurde kleinmädchenhaft und zweifelnd. »Ich habe niemanden. Keine Familie, niemanden. Ich weiß nicht, wo sie alle hin sind. Was ist mit meinen ganzen Bildern passiert? Wo ist mein schönes Haus? Ich will einfach nur nach Hause.« Sie weinte heftiger. »Ich kann mich an nichts erinnern.«

Blick in Die Angst
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