7. Kapitel

Auf dem Heimweg vom Krankenhaus dachte ich wieder an die Kommune und an Willow, die als Erste in mir das Interesse an Medizin geweckt hatte. Sie verfügte über ein immenses Wissen über Pflanzen und Kräuter und darüber, welche sich als natürliche Heilmittel verwenden ließen. Rasch übernahm sie die Verantwortung für die Gewächshäuser. Wenn irgendjemand sich verletzte oder erkrankte, wandte er sich an Willow. Sie benutzte Lavendel für fast alles – als Antiseptikum, gegen Ängste, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Hautprobleme und Magenreizungen. Brennnesseln wirkten bei Gelenkschmerzen und als Abführmittel, Beinwelltee gegen Husten. Schafgarbe stillte Zahnschmerzen und half bei Durchfall.

Sie roch immer nach irgendeinem Kraut oder einer Pflanze, den einen Tag nach Rosmarin, am nächsten nach Rhabarber oder Salbei, aber meistens roch sie nach Lavendel. Sie stellte Seife und Lotion, Shampoo und Lippenbalsam, Salben und Öle her. Das Essen schien mit ihren Kräutern frischer und belebender zu schmecken. Ich fragte sie einmal, woher sie so viel wusste, und sie erzählte mir, dass sie in der Nähe eines Reservats aufgewachsen war und viel Zeit mit einer Frau indianischer Abstammung verbracht hatte. Als ich sie nach ihren Eltern fragte, verharrte ihre Hand, die gerade mit einem Blatt herumgespielt hatte, und sie zog die Mundwinkel nach unten. Ich wechselte das Thema.

Joseph versuchte ein paarmal, sie zu schikanieren, und einmal stellte er ihre Anwendung eines Kräutertees in Frage, behauptete, sie wolle die Mitglieder vergiften. Aaron schaltete sich ein und schickte ihn in seine Hütte, während Willow betroffen daneben stand. Dann befahl er Willow, diesen Tee nicht mehr zu benutzen. Sie versuchte zu erklären, dass er harmlos war, doch Aaron ließ sich nicht umstimmen. Es war nicht das erste Mal, dass es zwischen ihnen zu Spannungen kam. Wenn die Leute Willow wegen eines Heilkrauts oder irgendwelcher Beschwerden aufsuchten, verpasste Aaron ihnen anschließend garantiert eine Heilsitzung. Er dankte Willow für ihre unterstützende Behandlung, betonte jedoch, dass es seine Reinigung der Chakren oder die Harmonisierung der blockierten Meridiane gewesen sei, die den Betroffenen letztlich geheilt hätten.

Im Sommer fing Aaron an, Mitglieder loszuschicken, um die Ausrüstung der Holzfäller zu sabotieren, wo immer sie in den Bergen arbeiteten. Dann hatte er die Vision, dass wir Nägel in die Bäume treiben sollten, damit die Kettensägen zurückschlugen. Willow gefiel die Idee nicht, sie machte sich Sorgen, dass jemand verletzt werden könnte. Joseph wurde wütend und brüllte: »Das Licht wird uns alle bestrafen, wenn wir seiner Botschaft nicht gehorchen.«

Aaron packte Joseph am Arm, der kurz davor war, wie ein junger Bulle auf einen Herausforderer loszugehen. Aaron flüsterte ihm etwas zu. Joseph betrachtete die Mitglieder, schaute jedem von uns in die Augen, bis wir wegsahen. Willow hielt seinem Blick als Einzige stand, und ich wollte sie anschreien, wollte sie warnen, dass sie es nur noch schlimmer machen würde, doch ich war vor Furcht wie erstarrt.

Endlich sagte Joseph, bebend vor Wut: »Wir müssen jeden vernichten, der die Erde verletzt. Wenn wir es nicht tun, wird etwas Schlimmes geschehen. Ich kann es spüren.« Er umfasste den Kopf mit den Händen. »Hier drin.«

Bei seinen Worten schnappte die Gruppe hörbar nach Luft, und ein Raunen ging durch die Menge.

Aaron sagte nur: »Komm schon, Joseph. Lass uns hören, was die anderen zu sagen haben.«

Josephs Mund stand offen. Er atmete schwer, sein Blick wanderte von einem zum anderen, doch seine Stimme war furchterregend ruhig, als er sagte: »Wie du willst«, und davonging.

Aaron wandte sich wieder an die anderen. »Stimmt ihr alle mit Willow überein?«

Die Anspannung lief wie Wellen durch die Mitglieder. Ich spürte das Grauen in mir emporkriechen, als ich auf ihre Antworten wartete. Was würde geschehen, wenn sie ja sagten? Nie zuvor hatten sie sich gegen Aaron gestellt. Würde er sie fortschicken? Ich hielt den Atem an.

Dann nickte jemand. Und noch jemand. Der Rest folgte.

Aaron lächelte. »Dann werde ich meditieren und einen anderen Weg finden.« Mit gesenktem Kopf schritt er auf seine Hütte zu, die Hände vor sich gefaltet.

Die Mitglieder starrten ihm nach. Obwohl Aaron verständnisvoll gewirkt hatte, machten sie sich offensichtlich Sorgen, er könnte wütend sein. Mich verunsicherte seine Reaktion ebenfalls, er wirkte viel zu ruhig auf mich. Einige Mitglieder wären ihm vielleicht nachgegangen, doch Willow wandte sich lächelnd an alle.

»Lasst uns schwimmen gehen, ehe wir alle in der Hitze schmelzen!« Die anderen lachten, erleichtert, dass jemand ihnen sagte, was sie mit dieser Situation anfangen sollten, und liefen zum Fluss hinunter. Robbie und Willow schlenderten hinterher und unterhielten sich leise. Ich ging hinter ihnen und versuchte, zu verstehen, was sie sagten, aber ohne Erfolg. Robbie drehte sich zu mir um. Seine Miene verriet nicht das Geringste.


Am Fluss zogen sich alle aus und sprangen ins Wasser. Die meisten Mitglieder badeten wie üblich nackt, aber ein paar Männer trugen kurze Jeans und einige Frauen Bikinis. Coyote, Levis Vater, war zum anderen Flussufer geschwommen und kletterte auf einen Felsvorsprung. Einige Leute forderten ihn mit lauten Rufen auf, zu springen. Coyote, der so wild war wie sein Name, tauchte immer von den höchsten Felsen in den Fluss. Er versuchte ständig, Levi dazu zu bringen, mit ihm zu kommen, aber Levi sprang nur von den niedrigeren Felsen und lächelte, wenn sein Vater ihn einen Angsthasen nannte. Doch ich merkte, dass es ihn verletzte. Robbie sprang ohne weiteres von den höheren Felsen, aber wenn Levi dabei war, blieb er mit ihm weiter unten.

An diesem Tag blieb ich mit den anderen Kindern in der Nähe des Ufers. Ich war nie eine gute Schwimmerin gewesen und watete nur halb hinein, bis meine Knie vom kalten Wasser ganz taub wurden. Robbie sonnte sich an der Böschung am anderen Ufer, seine Shorts waren nass und sein Haar tropfte. Er schüttelte den Kopf wie ein Hund und ließ es auf Willow regnen, die mit meiner Mutter und den anderen Frauen in der Nähe saß. Sie schöpfte etwas Wasser mit der hohlen Hand und bespritzte ihn damit. Die Tropfen funkelten hell in der Sonne.

Coyote war fast oben auf dem Felsvorsprung angekommen, dort, wo ein alter, toter Baum aus dem Gestein vorragte. Er hielt inne und begann, wie ein Wolf zu heulen. Wir lachten alle, doch dann wurden wir still, als er auf den Baumstamm hinauskroch. Levi, der bei der Gruppe Mädchen gesessen hat, kletterte seinem Vater hinterher. Seine langen Beine blitzten weiß auf, als er von Fels zu Fels sprang.

Coyote kroch noch weiter auf dem Baumstamm vor, der gefährlich weit über den Fluss hinausragte. Der Stamm schwankte einen Moment, dann kam er wieder zur Ruhe. Die Gruppe unten am Fluss schnappte nach Luft. Heidi, seine Frau, rief: »Coyote, komm runter!«

Er grinste, vergewisserte sich, dass wir alle noch zusahen, und kroch ein paar Zentimeter weiter.

Robbie war aufgestanden, seine Schultern waren angespannt. Er hob eine Hand über die Augen, um die Sonne abzuschirmen. Als Levi hinter seinem Vater auf den Felsen zu klettern begann, löste sich unter seinem Fuß ein kleiner Stein von einem Vorsprung. Er fiel hüpfend herunter, schlug auf seinem Weg nach unten gegen den Felsen und landete platschend im Wasser. Coyote, abgelenkt von dem Geräusch, schaute hinunter und verlagerte dabei sein Gewicht. Es knackte hörbar, als der Baumstamm aus dem Felsen herauszubrechen begann. Heidi stieß einen Schrei aus, während Levi brüllte: »Dad!«

Coyote stürzte ins Wasser, und der Baum krachte ihm hinterher und direkt auf ihn drauf. Levi kletterte vom Felsen herunter. Andere, allen voran Robbie, schwammen auf die Stelle zu, an der Coyote untergegangen war. Robbie tauchte, kam wieder hoch und machte Zeichen, dass er Hilfe brauchte. Levi tauchte mit ihm. Sie waren so lange unter Wasser, dass ich zu schluchzen begann und würgend nach Luft rang. Schließlich kam Robbie hoch, Coyotes erschlafften Körper im Arm. Kurz darauf tauchte Levi auf. Sie schwammen zum Ufer und zogen Coyote hinter sich her. Als sie ihn die Felsen hinaufgezogen hatten, kauerte Willow sich neben ihn und scheuchte alle anderen zurück. Heidi schrie. Robbie und Willow bearbeiteten Coyote fieberhaft: Sie machte eine Mund-zu-Mund-Beatmung, und er gab ihm eine Herzmassage. Willow hörte auf und sagte etwas zu Robbie.

Ich stand immer noch im Wasser und zitterte am ganzen Leib. Ich sah Coyotes Kopf zur Seite rollen, seine Hand war schlaff, und der Mund war geöffnet. Aus einer klaffenden Wunde auf der Stirn tropfte Blut. Inzwischen kamen Aaron und Joseph, angelockt von den Schreien, Seite an Seite den Hügel heruntergerannt. Als sie das andere Ufer erreicht hatten, versuchte Aaron, Coyotes Puls zu ertasten, und hielt das Ohr dicht an seinen Mund. Dann sah er uns an und sagte: »Er ist tot.«

Aaron und Robbie hoben Coyote hoch, trugen ihn zurück zum Camp und betteten ihn auf einen Tisch. Stumm und traurig versammelten wir uns um ihn. Einige weinten. Heidi stöhnte nur gebrochen. Wasser tropfte aus Coyotes nassen Shorts und bildete eine Pfütze unter seinem Leichnam. Er war der erste Tote, den ich sah.

Aaron winkte uns näher heran, während er am Fußende des Tisches stehen blieb. Sein Gesicht war ernst, die Augen waren feucht. »Wir haben ein Mitglied unserer Familie verloren, und ich weiß, dass ihr traurig seid – ich bin es auch. Ich habe Coyote geliebt. Aber ich verspreche euch, dass er jetzt an einem besseren Ort ist.« Er sah zu Levi, der den Leichnam seines Vaters anstarrte. Wasserrinnsale aus seinem nassen Haar vermischten sich mit den Tränen, die ihm übers Gesicht liefen. Aaron legte ihm die Hand auf die Schulter. »Coyote ist nicht tot. Seine Energie ist überall um uns herum.« Er sah die Gruppe an. »Aber auch die negativen Energien, die den Unfall verursacht haben.« Ein verwirrtes Flüstern ging durch die Gruppe, die Leute waren unsicher, was Aaron meinte. Er sagte: »Ein Mitglied hat meine Vision zurückgewiesen, deshalb wurden wir bestraft.«

Endlich begriff auch der Letzte. Unterschwellige Unmutsäußerungen wehten Willow entgegen, als sie die Verbindung herstellten. Willow wich zurück. Zum ersten Mal sah sie ängstlich aus.

Aaron starrte sie einen Moment an, dann wandte er sich ab. »Wir müssen daraus lernen, oder wir sind nicht in der Lage, zur nächsten spirituellen Ebene aufzusteigen und unseren Bruder wiederzutreffen. Coyote hat uns ein großartiges Geschenk gemacht. Wir sollten nicht trauern, wir sollten dankbar sein.«

Die Kommune murmelte aufgeregt. Wir waren Zeugen seines Todes, aber Aarons Glauben, dass Coyotes Geist immer noch lebendig war, gab uns Hoffnung, und wir griffen danach. Niemand wollte sich der Tatsache stellen, dass wir Coyote nie wiedersehen würden.

Aaron sagte: »Jetzt lasst uns zurück an die Arbeit gehen, und später zur Meditation. Einige von uns können vielleicht mit Coyote in Verbindung treten.« Er wandte sich an Willow. »Nach der Meditation sprechen wir über deinen spirituellen Weg.«

Sie nickte beklommen.


Die Polizei kam und nahm Aussagen auf, und der Coroner fuhr mit Coyotes Leichnam davon. Ein paar Stunden später erlitt Heidi eine Fehlgeburt. Für den Rest des Tages war die Kommune in Aufruhr, alle sprachen mit gedämpften Stimmen, sahen ängstlich dem nächsten Satsang entgegen und gingen Willow aus dem Weg. Keiner von ihnen wollte enden wie Coyote oder Heidi.

Aaron hatte Willow zu einer privaten Meditation mit in seine Hütte genommen, und als sie wieder herauskamen, verkündete er, dass Willow jetzt bereit war, »seine Visionen zu akzeptieren«. Willow stimmte zu, aber sie wirkte aufgewühlt.

Am nächsten Nachmittag bemerkte ich, wie Willow während unseres sonntäglichen spirituellen Unterrichts erneut die Stirn runzelte, als Aaron uns daran erinnerte, dass wir all unsere Besitztümer teilen müssten, andernfalls würden wir nicht wirklich als Familie zusammenleben. Viele Mitglieder gingen in ihre Zelte und schleppten ihre Habseligkeiten an, tauschten sie mit anderen und dankten ihnen mit Lächeln und Umarmungen. Nach dem Abendessen schickte Aaron uns auf unseren Besinnungsspaziergang, wies jedoch Willow an, im Camp zu bleiben und darüber zu meditieren, was sie aus den Ereignissen des gestrigen Tages gelernt hatte. Joseph begleitete uns, aber Aaron würde ebenfalls zurückbleiben und die Tiere versorgen.

Als ich der Gruppe folgte, blickte ich zurück und sah Willow und Robbie am Waldrand miteinander sprechen. Dann wirbelte Robbie herum und verschwand in Richtung Schotterpiste, die von unserer Kommune fortführte. Ich nahm eine Bewegung neben dem Stall wahr und begriff, dass Aaron die Szene ebenfalls gesehen hatte. Willow ging zum Fluss. Aaron folgte ihr. Ich wollte mich hinunter zum Camp schleichen und sehen, was sie taten, doch als ich mich umschaute, waren die anderen auf dem steilen Pfad bereits ein ganzes Stück vor mir, und meine Mutter winkte mich zu sich.

Die Mitglieder teilten sich in kleine Gruppen auf oder suchten sich ein ruhiges Plätzchen, wo sie allein meditieren konnten. Joseph streifte durch den Wald. Ein Mitglied musste stets unten im Camp bleiben und die Glocken läuten, um anzuzeigen, dass unser Besinnungsspaziergang vorbei war. Aaron hatte gesagt, er würde das diesmal übernehmen. Er ließ uns ziemlich lange meditieren, und als wir zurückkamen, dunkelte es bereits. Die Gruppe beschloss, noch einmal eine späte Schwimmrunde einzulegen. Mir fiel auf, dass Robbie und Willow fehlten, doch Aaron gesellte sich zu uns an den Fluss. Nachdem die Kinder in ihre Hütte geschickt worden waren, blieb ich wach, aus Sorge um Robbie. Ich versuchte, die Stimmen am Lagerfeuer zu erkennen, und konnte Aaron ausmachen, ab und zu auch meine Mutter und andere Mitglieder, doch Robbie hörte ich immer noch nicht.

Am nächsten Tag zum Frühstück stellte ich erleichtert fest, dass Robbie wieder da war, doch als ich auf ihn zurannte, merkte ich, dass irgendetwas nicht stimmte, und blieb stehen, als würde sich eine unsichtbare Mauer zwischen uns auftürmen. Er war blass, die Haare zerzaust, nasse Locken klebten an seiner Stirn. Die Augen waren rotgerändert und blutunterlaufen. Er hielt seine Hände ganz merkwürdig, als hätte er Schmerzen, und die Knöchel waren aufgeschürft. Ich fragte mich, wo er die ganze Nacht gesteckt hatte. Mein nächster Gedanke war: Er sollte Willow nach etwas Salbe fragen. Doch als ich mich umschaute, entdeckte ich sie nirgends.

Alle versammelten sich zur Morgenmeditation, doch ehe Aaron die Chants anleitete, winkte er uns zu sich und erzählte uns, Willow sei heute früh fortgegangen. »Ich habe versucht, es ihr auszureden, aber sie hat nicht auf mich gehört. Sie sagte, sie sei es leid, immer an einem Ort zu leben, und wolle wieder reisen.«

Als Aaron uns losschickte, um zu meditieren und uns von den schlechten Gefühlen zu reinigen, die Willows plötzlicher Weggang hervorgerufen hatte, schlich ich mich in ihr Zelt, auf der Suche nach einer Nachricht, einer Erklärung, irgendetwas. Alles, was ich fand, war eine handgenähte Patchworktasche unter ihrem Kissen. Darin befanden sich ein paar Kleidungsstücke und selbstgemachte Toilettenartikel.

Aaron betrat das Zelt. »Was machst du hier?«

Ich presste Willows Besitztümer an meine Brust, während ich zu ihm hochstarrte. In meinen Ohren rauschte das Blut. »Ich verstehe nicht, warum Willow gegangen ist.«

In diesem Moment fiel mir auf, dass er Willows Weste trug.

Er sah mich ruhig an, doch seine Stimme hatte einen warnenden Unterton. »Das Leben in einer Gruppe gefällt ihr nicht, deshalb ist das hier nicht der richtige Ort für sie. Jedes Mitglied muss tun, was gut für alle ist, nicht nur für einen selbst, oder wir leiden alle.«

Die Frage entschlüpfte mir, ehe ich mich bremsen konnte. »Warum hast du ihre Weste an?«

»Sie hat sie am Morgen beim Lagerfeuer liegengelassen.« Er schaute daran herunter und zupfte an einer der Fransen. »Das Licht wollte, dass ich sie bekomme.«


Einige Mitglieder waren verärgert, weil Willow gegangen war, und das so kurz nach Coyotes Tod, doch Aaron sagte, wir sollten nicht vergessen, dass es ihre negativen Schwingungen gewesen waren, die zu Coyotes Tod geführt hatten, und dass sie der Kommune Probleme gemacht habe. Ohne sie seien wir besser dran. Die Einzigen, die je Probleme mit ihr hatten, waren Joseph und Aaron, aber jetzt, wo sie fort war, vergaß die Gruppe dieses Detail rasch. Aaron ermahnte uns, wir dürften nicht zulassen, dass Coyote umsonst gestorben sei, und müssten versuchen, aus seinen und Willows Fehlern zu lernen. Ab diesem Zeitpunkt nannte die Kommune sich The River of Life, und einer der Männer schnitzte ein Schild für den Baum am Eingang: zwei Hände, die sich zum Licht emporreckten.


Ich weiß nicht, wie lange wir in der Kommune gelebt hätten, wenn der kleine Junge nicht gestorben wäre. Er hieß Finn und war achtzehn Monate alt, als er davonlief, während alle anderen bis spät nachts am Lagerfeuer saßen. Es war Ende September, und als seine bekifften Eltern, die noch ein zwei Monate altes Baby hatten, begriffen, dass er weg war, war er bereits seit Stunden unterwegs. Alle wurden geweckt, und wir suchten überall, konnten ihn aber nirgends finden. Die Kommune hielt eine Versammlung ab, um zu entscheiden, ob wir die Polizei einschalten sollten. Es war riskant, denn im Stall trockneten die Marihuanapflanzen, und wir hatten bereits durch Coyotes Tod unliebsame Aufmerksamkeit auf uns gezogen.

Schließlich meditierte Aaron in der Schwitzhütte und berichtete anschließend von seiner Vision, dass Finn sich an einem warmen Ort versteckte. Weil man ihm beigebracht hatte, Beeren zu essen und Wasser zu finden, ginge es ihm gut. Am Morgen konnten wir ihn immer noch nicht finden, also meditierten wir in der Gruppe und chanteten, um ihn nach Hause zu bringen, doch Aaron sagte, unsere Angst blockiere seine Verbindungen mit der anderen Seite. Finns Eltern nahmen einen der Trucks und fuhren zur Polizeiwache. Stunden später fand die Polizei Finn, kopfüber in einer Pfütze, die winzige Hand noch fleckig vom Saft der Beeren. Er war an Erschöpfung und Unterkühlung gestorben.

Alle waren am Boden zerstört. Selbst Aaron wirkte bestürzt und umklammerte das Holzpferd, das er Finn geschenkt hatte. Doch dann richtete er sich auf und sagte: »In meiner Vision ging es Finn gut. Ich dachte, es würde bedeuten, dass er noch unter uns weilt, aber jetzt begreife ich, dass es ein Zeichen war, dass er sicher auf der anderen Seite ist.« In den folgenden Tagen arbeitete Aaron intensiv mit uns daran, Finns Geist zu erreichen. Seine Miene verriet seine starke Gefühlsregung, wenn er die Chants leitete, seine Stimme klang sicher und kräftig. Hin und wieder fing Finns Mutter während der Meditation an zu weinen. Sie sagte, sie habe ihren Sohn gesehen, er habe ganz friedlich ausgesehen und sei vom Licht umhüllt gewesen. Andere erzählten das Gleiche, aber egal, wie sehr ich mich auch anstrengte, ich sah ihn nie.

Nach Finns Tod meditierte meine Mutter oft und lange privat mit Aaron, aber es schien ihr nicht zu helfen. Sie blieb stundenlang in ihrer Hütte und weinte viel. Oft sah ich sie bekümmert mit den anderen Frauen sprechen. Seit Willow fort war, verbrachte Robbie seine Zeit hauptsächlich damit, am Fluss zu angeln. Ich versuchte, mit ihm über Mom zu reden, und er sagte, ich solle mir ihretwegen keine Sorgen machen, sie sei nur aufgewühlt wegen Finn. Er würde mit ihr reden. Nicht lange danach kam endlich unser Vater, um uns zu holen.


Ein Truck kam ins Camp, als wir mitten beim Abendessen waren. Ich erkannte ihn sofort und sprang mit den Worten »Das ist mein Dad!« vom Tisch auf. Robbie stand ebenfalls auf, doch unsere Mutter blieb sitzen und sah uns beklommen an.

Ein paar Schritte von uns entfernt blieb der Truck stehen. Dad stieg aus, die schmutzige Baseballmütze saß schief auf dem Kopf. Er sah wütend aus, seine Hände waren zu Fäusten geballt.

Aaron stand auf und sagte: »Können wir dir helfen?«

»Ich bin hier, um meine Familie zu holen.« Dad winkte uns zu sich. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, doch dann hob Aaron eine Hand in die Höhe. Ich blieb stehen. Robbie war ebenfalls stehen geblieben, doch er wirkte überaus erleichtert, als er unseren Vater ansah. Unsere Mutter hatte sich nicht gerührt. Ich schaute zu ihr hinüber. Mit weitaufgerissenen Augen und offenem Mund starrte sie ihren Mann an.

Aaron sagte: »Sie haben jetzt eine neue Familie.«

»Kinder, holt eure Sachen«, sagte mein Dad.

Ich spürte eine Bewegung zu meiner Linken. Meine Mutter erhob sich, aber ganz langsam, vorsichtig, mit angstvollem Blick. Sie sah meinen Dad an, dann Aaron. Ihr war anzusehen, wie sie hin- und herschwankte. Furcht überwältigte mich. Ich wollte fort, aber ich hatte Angst, dass mein Dad uns bestrafen würde, weil wir davongelaufen waren. Ich wusste nicht, wovor meine Mom sich fürchtete – vor meinem Dad oder davor, wegzugehen. Robbie ging zu seinem Zelt, aber ganz langsam. Abwartend schaute er zurück zu Mom. Schließlich setzte auch sie sich in Richtung ihrer Hütte in Bewegung, doch als sie an Aaron vorbeikam, packte er sie am Arm.

»Kate, überleg dir gut, was du tust. Deine Kinder sind hier sicher.«

Mein Dad stand immer noch neben seinem Truck. »An Ihrer Stelle würde ich das bleibenlassen.«

Aaron schaute ihn an und ließ meine Mutter augenblicklich los. Ich sah zu meinem Vater und entdeckte das Gewehr, das er mit dem Lauf nach unten in der Hand hielt. Es musste auf dem Boden der Fahrerkabine gelegen haben.

»Meine Familie wird ihre Siebensachen und unsere Tiere einsammeln. Dann werden sie mit mir fahren. Haben Sie ein Problem damit?«

Aaron lächelte besonnen. »Hey, Mann. Wir wollen hier keine Probleme. Wenn sie gehen wollen, können sie das jederzeit machen.«

Der Anhänger stand immer noch hinter dem Stall, und Mom und Robbie luden rasch die Pferde ein. Aus Furcht vor dem, was uns möglicherweise zu Hause erwartete, und benommen, weil mein Vater nach all den Monaten plötzlich hier auftauchte, stand ich wie angewurzelt da und sah ihnen zu. Robbie winkte mir zu, mich nützlich zu machen. Ich schnappte mir Jake und die Katzen und packte sie ins Fahrerhaus des Trucks, zusammen mit einer Tasche mit meinen Habseligkeiten. Immer wieder blickte ich zum Tisch, von wo aus die Gruppe uns beobachtete. Einige wirkten verstört, andere verärgert. Ich wollte mich verabschieden, doch als ich auf den Tisch zuging, packte Robbie mich am Arm. »Wir müssen los.«

Das war das letzte Mal, dass ich einen von ihnen sah.

Blick in Die Angst
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