Kapitel 37

 

 

»Der Nukleus ist jetzt operativ, Sir«, sagte Rachel. »Einsatzbereit. Sobald wir auf diesen Schalter hier drücken, braucht er nur noch ein paar Minuten, um hochzufahren. Wenn er die höchste Leistungsstufe erreicht hat, aktiviert er sich selbst.«

Max nickte. »Dann tu es.«

Rachel streckte die Hand zum Steuerungspanel aus, doch dann zögerte sie. »Sir …«

»Kriegst du jetzt auch noch Gewissensbisse?«, fauchte Max und stieß sie zur Seite. »Dann mach ich es eben selbst.« Er legte den Finger auf den »START-Schalter« – und prallte plötzlich auf der anderen Seite des Raumes gegen die Wand, fiel zu Boden und blieb liegen.

Colin stand mit geballten Fäusten und vor Wut blitzenden Augen über ihm.

Hinter ihm zerschmetterte Renata mit einem einzigen Hieb den Computermonitor, der Funken sprühend explodierte.

Max hustete und spuckte ein wenig Blut aus. »Zu spät. Ich hab ihn schon gestartet.«

Colin packte ihn am Hemd, riss ihn mühelos hoch und schleuderte ihn quer durch den Raum, wo er auf die Computerkonsole krachte.

Die beiden Wächter hoben die Waffen – und standen plötzlich Renata gegenüber. »Würde ich an eurer Stelle nicht tun.«

Im selben Augenblick schimmerte ihr Körper, wurde durchsichtig und glänzend, dann wieder normal.

»Ihr könnt mich nicht verletzen«, sagte sie. »Die Kugeln würden von mir abprallen – und ihr wollt doch sicher nicht von den Querschlägern getroffen werden, oder?« Sie packte ihre Waffen an den Läufen und riss sie ihnen aus den Händen.

Colin drehte sich zu Rachel um. »Wie kann ich das Ding ausschalten?«

Rachel wich vor ihm zurück. »Du kannst ihn nicht mehr anhalten!«

»Wo ist die Maschine?«

Rachel presste die Lippen zusammen, aber Renata sagte: »Ich hab sie gesehen – sie befindet sich auf der untersten Ebene. Ich bringe dich hin.«

»Nein, bleib hier. Beschütze meine Eltern.« Colin packte Rachel am Arm. »Du zeigst mir den Weg!« Er lief zur Tür und zerrte sie hinter sich her.

 

 

Solomon Cord starrte die Silberkugel an, die mitten in der Halle in der Luft schwebte. »Das ist er? Dieses Ding ist der Debilitator?«

»Ja.«

Danny blickte sich um. »Wie können wir ihn abschalten?«

»Ganz einfach«, sagte Facade. Er ging zu einem Kontrollpanel, das in die Wand eingelassen war, und gab auf der Tastatur einen Code ein. »Jetzt nur noch die Eingabetaste drücken … wartet mal …«

Er versuchte es noch einmal. »Verdammt. Die Steuerung ist gesperrt.«

»Dann zieh den Stecker raus!«, brüllte Danny.

»So funktioniert das Ding nicht! Sobald die Maschine aktiviert wird, ist sie vollkommen unabhängig. Und sie ist so konstruiert, dass sie praktisch unbegrenzte Zeit aktiviert bleibt – für den Fall, dass jemals wieder ein neuer Supermensch geboren wird.«

»Gibt es denn keinen Notschalter?«, fragte Solomon.

»Nein, gibt es nicht! Es gibt keine Möglichkeit, das System herunterzufahren.«

»Wie viel Zeit bleibt uns noch?«, wollte Danny wissen.

Facade deutete auf den Computermonitor. »Nicht mehr lange.« Auf dem Bildschirm leuchtete eine digitale Zeitanzeige: 00:02:54. Die Sekunden tickten dahin.

Solomon machte einen Schritt auf die Kugel zu, aber Facade hielt ihn zurück. »Nicht! Wenn du der Maschine zu nahe kommst, stirbst du! Sie wird von einem Nullfeld geschützt!«

»Und was zum Henker ist ein Nullfeld?«

»Das ist wie … wie ein Magnetfeld, eine dünne Schicht um die Kugel, in der praktisch nichts existieren kann. Was immer in das Feld eindringt, verschwindet einfach.«

Sie zuckten zusammen, als plötzlich eine Sirene losheulte.

»Verdammt! Jetzt wurden auch noch die anderen Schutzanlagen aktiviert! Alle raus hier, schnell!«

Noch während Facade sprach, senkten sich mehrere seltsame Geräte langsam von der Decke herab und schwenkten suchend wie Überwachungskameras herum.

Facade trieb die anderen grob zur Tür hinaus. »Kommt schon! Schnell!«

Sie stürzten aus der Halle und gingen im Stollen in Deckung. »Selbstschussanlagen«, erklärte Facade. »Ausgestattet mit Bewegungsmeldern. Außerdem reagieren sie auf Körperwärme.« Er wandte sich an Cord. »Es sind Railguns, 30-Millimeter-Munition, Projektile aus abgesichertem Uran.«

»Was heißt das?«, fragte Colin.

»Das heißt«, antwortete Cord, »dass die Projektile viel schneller fliegen als normale Kugeln – und deshalb auch viel größere Durchschlagskraft haben. Danny – glaubst du, dass du noch schneller als die Kugeln sein könntest?«

»Ich kann es probieren.«

»Würde nichts bringen«, mischte sich Facade wieder ein. »Selbst wenn du den Schüssen ausweichen könntest, ist immer noch das Nullfeld da. Du kannst nicht durch das Feld dringen! Und selbst wenn du irgendwie den Nullfeldgenerator ausschalten könntest, ist da noch die Kugel selbst – sie dreht sich mit ein paar Millionen Umdrehungen pro Sekunde! Und ist außerdem aus Panzerstahl!«

Mit ohrenbetäubendem Lärm brach die Decke über ihnen auf. Ein Hagel von teilweise faustgroßen Felsbrocken prasselte auf sie herab und eine Staubwolke senkte sich in den Stollen.

Mitten in der Staubwolke landete Colin leichtfüßig auf dem Boden.

Durch das Loch in der Decke spähte Rachel herunter.

»Ist das hier das Ding?«, fragte Colin und deutete auf die Kugel in der Halle.

Facade nickte. »Wir können die Maschine nicht mehr abschalten. Können nicht mal näher ran.«

»Wie viel Zeit haben wir noch?«

»Eine Minute und siebenundvierzig Sekunden. Colin, kannst du an den Selbstschussanlagen vorbeikommen? An der Wand gegenüber ist das Steuerungspanel für die Sensoren der Selbstschussanlage. Wenn wir sie zerstören könnten, funktionieren die Waffen nicht mehr.«

»Ich glaube nicht, dass ich schusssicher bin«, sagte Colin.

»Ich kenne jemanden, der es ist«, sagte Danny. Er holte tief Atem und konzentrierte sich. Bisher hatte sich seine Superschnelligkeit von selbst aktiviert; er hatte noch nie versucht, sie selbst auszulösen.

Dieses Mal muss es funktionieren.

»Nein … es geht nicht! Ich komme nicht in den Zeitlupenmodus!«

Cord schlug Danny kräftig auf den Hinterkopf.

Danny wirbelte herum und starrte Cord wütend an. Seine Wut wirkte – plötzlich befand er sich wieder im Zeitlupenmodus.

Er raste durch die Schächte zu dem Raum zurück, in dem Colin gefangen gehalten worden war.

An der Tür blieb er kurz stehen und prüfte die Lage. Seine Eltern trugen keine Handschellen mehr. Seine Mutter hielt die beiden Wächter in Schach, während sich sein Vater gerade über Max beugte, der noch am Boden lag. Renata stand in der Nähe.

Danny packte sie, warf sie sich über die Schulter und raste zurück.

 

 

Colin zuckte zusammen. Noch vor einer Sekunde hatte Cord Danny einen Schlag versetzt. Jetzt stand Danny an einer anderen Stelle und neben ihm stand das Mädchen.

Renata blickte sich verwirrt um. »Was …? Wie …?«

»Du sagst, du bist unverwundbar, richtig? Kugelsicher?«, fragte Danny drängend.

»Ja. Aber nur in Kristallform. Warum?«

»Keine Zeit für Fragen! Tu es! Jetzt!«

Renata nickte und wurde sofort starr und transparent.

Colin begriff, was Danny tun wollte. Er hob Diamond hoch und trug sie wie einen Schild vor sich her, als er in die Halle rannte.

Facade brüllte ihm nach: »Colin, bleib von der Silberkugel weg!«

Der Lärm war ohrenbetäubend. Kugeln prasselten gegen Diamonds starren Körper, so heftig, dass er fast aus Colins Händen gerissen wurde.

Colin sah das Steuerungspanel vor sich. Er hielt Diamond mit einem Arm eng an sich gepresst; die andere Hand ballte er zur Faust und zerschmetterte das Panel.

Sofort erstarb der Lärm. Die anderen stürzten in die Halle.

»Einundachtzig Sekunden!«, sagte Facade.

Colin blickte die anderen an. »Und was jetzt?«

Danny deutete auf den Nukleus. »Dieses Ding hier – das ist das Herz der Maschine. Wir müssen sie ausschalten. Aber sie hat ein Kraftfeld als Schutzschild.«

»Kein Problem«, sagte Colin und machte einen Schritt darauf zu.

»Nein, warte!«, rief Facade. »So einfach ist das nicht. Dieses Kraftfeld kann alles töten, sogar dich. Wenn du näher als drei Meter an das Nullfeld herankommst, wirst du Stück für Stück einfach verschwinden. Das ist kein normales Kraftfeld, sondern ein Nullfeld – es zerstört jede Art von Materie.«

Solomon Cord sagte leise: »Wartet mal … wenn wir durch das Feld hindurchschauen können, bedeutet das, dass es Licht durchlässt. Vielleicht kann jemand durchkommen, der sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt? Danny?«

Danny wich zurück. »Nein – unmöglich! So schnell bin ich nicht!«

»Du musst es versuchen, Danny!«, sagte Facade. »Wenn du durchkommst, kannst du das Kontrollpanel am Nukleus erreichen. Es befindet sich in einem kleinen Schaltkasten an der Kugel. Reiß die Kabel heraus, dann wird das Nullfeld deaktiviert.«

»Das bringt mich um!«

Facade sagte: »Danny, wenn die Maschine aktiviert wird, stirbst du sowieso. Und Colin und Diamond. Und Zigtausende unschuldiger Menschen. Du kannst es, mein Junge! Ich vertraue dir!«

Colin nickte Danny zu. »Er hat recht, Danny. Du schaffst es!«

Die beiden Freunde sahen sich an.

Danny schluckte. »In Ordnung.« Er zwang sich zu einem schiefen Grinsen. »Wenn ich es nicht schaffe, kannst du mein Mountainbike haben.«

Er konzentrierte sich darauf, sich in den Zeitlupenmodus zu versetzen. Die Silberkugel rotierte nun langsamer, sodass er ihre Rotationen wenigstens sehen konnte. Aber immer noch viel zu schnell.

Ich muss schneller sein.

Wieder konzentrierte er sich – die Kugel wurde noch langsamer, aber zugleich wurde der Raum dunkler.

Wunderbar!, dachte er. Wenn ich schneller als Licht werde, kann ich überhaupt nichts mehr sehen!

Er drehte sich frontal zum Nukleus. Noch einmal äußerste Konzentration.

Die Kugel stoppte. Es wurde dunkel.

Danny raste los – bis er sicher war, dass er das Nullfeld hinter sich hatte.

Er hielt nicht völlig an, sondern wurde nur ein wenig langsamer. Ein leichtes Dämmerlicht kehrte zurück; undeutlich konnte er den Nukleus direkt vor sich ausmachen, der sich langsam drehte. Die Kontrollöffnung kam in Sicht. Sie war nicht viel größer als seine Hand.

Danny steckte die Hand hinein und griff nach den Kabeln. Er riss sie heraus.

War’s das schon? Hat es geklappt?

Er drehte sich um. Die anderen schauten noch auf die Stelle, an der er gestanden hatte.

»Geschafft.«

Alle Köpfe fuhren zu ihm herum.

»Bist du sicher?«, fragte Solomon.

»Gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden«, sagte Renata. Sie ging direkt auf Danny zu und grinste. »Bin ich tot? Nein. Also hat es geklappt.«

»Wir sind noch nicht fertig«, sagte Facade. »Wir müssen den Nukleus zerstören.«

»Darum kümmere ich mich«, sagte Colin. Er trat an die Kugel und schlug zu, so hart er nur konnte.

Doch der Nukleus rotierte immer noch so schnell wie zuvor. Seine Faust wurde einfach weggeschleudert.

»Oh-oh. Wie kann man das Ding anhalten?«

»Wahrscheinlich am Sockel«, meinte Facade. »Unter der Kugel befindet sich ein Magnetfeldgenerator, der die Kugel im Schwebezustand hält.«

Colin trieb die Faust durch den Sockel unter der Kugel.

Der Nukleus wurde langsamer, begann zu wackeln, dann krachte er auf den Sockel und stand still.

Solomon hob die AK-47, um auf die Stahlkugel zu schießen. »Alle in Deckung!«

»Das funktioniert nicht, Cord!«, sagte Facade. »Das Ding kann fast jedem Angriff widerstehen. Es ist aus armiertem Titanium.«

Colin kletterte auf die Kugel und hieb mit der Faust darauf ein.

»So kommst du nicht mal durch die Verkleidung!«, meinte Facade.

»Ach nein?«, fragte Colin durch zusammengebissene Zähne.

Er hämmerte noch stärker auf die Kugel ein. Eine kleine, aber immerhin deutlich sichtbare Delle entstand auf der Oberfläche.

»Achtundzwanzig Sekunden«, sagte Facade.

Colin hieb noch heftiger, immer wieder auf dieselbe Stelle. Die Beule vertiefte sich, aber es geschah viel zu langsam.

Solomon wandte sich an Renata. »Du musst ihm helfen, Diamond! Reiß ein Loch in die Verkleidung, tu was!«

Sie legte die Hände auf die Kugel. Wie bei der Stahltür an Solomons Zelle krallte sie die Finger in das Metall und zog daran. »Es klappt!«

Colin sprang herab, um ihr zu helfen. Er riss die Metallstücke der Panzerverkleidung vollends heraus.

Darunter war eine weitere armierte Schicht.

Wieder legte Diamond ihre Hände auf das Metall, doch dieses Mal gelang es ihr nicht, die Finger hineinzugraben. »Geht nicht. Es ist zu hart für mich.«

Colin schlug auf das Metall ein.

»Wenn wir nur mehr Zeit hätten!«, sagte Diamond. »Dann könnte ich es schaffen.«

»Neunzehn Sek…« Facade wandte sich plötzlich an Danny. »Mehr Zeit? Sie hat recht! Danny – jetzt bist du dran, Sohn! Du musst Colin in ein anderes Zeitfenster versetzen. In Zeitlupe, so langsam, dass er genug Zeit hat, die Hülle zu zertrümmern!«

Danny nickte und versetzte sich in Zeitlupenmodus.

Er trat neben Colin, der nun mit solch irrer Schnelligkeit auf die Kugel einzuhauen schien, dass selbst Danny seine Fäuste fast nicht mehr sehen konnte.

Colins Hiebe waren absolut geräuschlos. Danny zögerte.

Wie soll ich das machen?, fragte er sich verzweifelt. Er legte dem Freund die Hand auf die Schulter und hoffte, dass Colin nun feststellen würde, dass sich die Zeit verlangsamt hatte, aber die Wirkung schien auszubleiben.

Schnell blickte er zum Computermonitor hinüber. Noch achtzehn Sekunden.

Danny geriet in Panik. Was soll ich nur tun?

Und dann fragte er sich zum ersten Mal: Was hätte mein Vater getan?

Instinktiv wusste er die Antwort: Er hätte sich durch die Armierung in die Kugel gebeamt und den Nukleus von innen ausgeschaltet. Aber könnte ich denn eine so komplizierte Maschine überhaupt ausschalten? Ich kann ja nicht mal eine Steckdose anschließen! Und im Phasenzustand ist mein Körper nicht mehr solide – ich könnte gar nichts anfassen!

In diesem Augenblick wurde Danny klar, was er zu tun hatte.

Er kehrte in Normalzeit zurück. Siebzehn Sekunden. »Colin! Hör auf! Aus dem Weg!«

Colin schüttelte den Kopf und schlug weiter auf die Kugel ein. »Nein! Ich bin fast durch!«

»Du schaffst es nicht rechtzeitig!« Danny packte Colin an den Armen und riss ihn vom Nukleus weg.

Dann wandte er sich wieder der Maschine zu. Okay. Ich bin schon mal durch eine massive Stahltür gesprungen. Irgendwie. Jedenfalls weiß ich, dass ich es kann.

Er konzentrierte sich auf seinen rechten Arm, bis er spürte, dass er keine Substanz mehr hatte – und dann, fast wie nebenbei, schob sich sein Arm durch die Armierung direkt in die Kugel hinein.

»Drei Sekunden!«, sagte Facade.

Danny schluckte.

Das wird wehtun.

Er schloss die Augen. Konzentrierte sich erneut.

Sein rechter Arm wurde wieder solide.

Der Schmerz schoss durch seinen ganzen Körper, als sein Arm mit dem Innern des Nukleus verschmolz.

Danny Cooper schrie ununterbrochen, bis er endlich bewusstlos zusammenbrach.