Kapitel 25
Danny Cooper stand mit nacktem Oberkörper mitten im Untersuchungsraum. Rachel befestigte eine Reihe von weißen Plastikpunkten auf seiner Brust.
»Deine Muskeln scheinen für einen Jungen deines Alters ein wenig unterentwickelt zu sein. Du treibst wohl nicht viel Sport?«
Danny ging nicht auf die Bemerkung ein. Überhaupt hatte er seit dem Gespräch mit seinem Vater kein Wort mehr von sich gegeben.
»Und wie steht es um deinen Stoffwechsel?«, fragte Rachel weiter. »Isst du regelmäßig?«
Nicht seit ich hier angekommen bin, dachte Danny.
Rachel schien es nichts auszumachen, dass er sie ignorierte. Sie überprüfte, ob alle Plastikpunkte gut saßen, wobei sie die Punkte nacheinander auf der Liste abhakte, die auf seiner Patientenkarte steckte.
»Okay, Danny. Die Maschine dort drüben erfasst jeden einzelnen Markierungspunkt und verzeichnet seine Position. Sobald du dich bewegst, können wir messen, wie viel Kraft deine Muskeln dafür aufwenden. Leider kann der Scanner nicht genügend Punkte erfassen, um deinen ganzen Körper auf einmal zu untersuchen, deshalb müssen wir später dieselbe Prozedur mit deinen Beinen durchführen. Aber es dürfte dann ziemlich einfach sein, die Daten miteinander zu kombinieren.«
Während Rachel die Basisdaten in den Computer eingab, versetzte Danny heimlich ein paar der Plastikpunkte. Sie schien es nicht zu bemerken. »Das ist ziemlich ähnlich wie das System, das beim Film benutzt wird, wenn man eine Bewegungserfassung per Computer durchführt. Du weißt doch, was das ist? Sie zeichnen die Bewegungen eines Schauspielers auf, damit sie später mit dem Computer genau dieselben Bewegungen reproduzieren können. Okay … Fangen wir an. Zuerst gehst du ein paar Schritte durch den Raum.«
Danny rührte sich nicht vom Fleck.
Rachel seufzte und zog ihren Elektroschockstift aus der Brusttasche. »Muss ich noch mal davon Gebrauch machen?«
Mach schon, dachte Danny. Vielleicht bringt der Elektroschock die Daten in deiner Maschine durcheinander. Irgendwann werde ich von hier abhauen können. Okay, meine Superkräfte funktionieren noch nicht so zuverlässig, aber jedenfalls bin ich der Einzige hier, der überhaupt solche Kräfte besitzt. Wenn ich mich wieder so schnell bewegen könnte wie bei dem Zwischenfall mit Susie, als der Bus auf sie zuraste, können sie mich nicht aufhalten.
Nur gab es da eben ein Problem: die schwere Metalltür und die beiden Wächter, die auf beiden Seiten der Tür standen. Seit sein Vater den Raum verlassen hatte, war die Tür nur einmal ganz kurz geöffnet worden.
Danny konnte immer noch nicht glauben, was ihm sein Vater erklärt hatte. Vor vierzehn Jahren hatte er eine Vision, die mit mir zu tun hatte, und deshalb hat er mein ganzes Leben ruiniert!
Rachel fragte ihn etwas, aber Danny achtete nicht darauf.
Dann spürte er plötzlich, dass sie sich ihm von hinten mit dem Schocker näherte.
Er wirbelte herum und schlug ihr den Schocker aus der Hand.
Rachel starrte ihn an. »Wie hast du …? Mein Gott!« Sie drehte sich zu den Technikern um. »Habt ihr das registriert? Habt ihr es?«
»Ja, wir haben es! Wir korrelieren gerade die Daten!«
Auf dem Bildschirm des Technikers erschien eine Reihe von Punkten. Rachel drehte sich zu Danny um. »Schau dir das mal an!«
Die Neugier war stärker; Danny trat neben sie und schaute auf den Monitor.
Der Techniker klickte auf ein Icon mit der Aufschrift »Replay«. Einen Augenblick lang verschwammen die Punkte.
»Verbinde mal die Punkte, dann wird das Bild schärfer«, befahl Rachel dem Techniker. »Übrigens, Danny, es spielt keine Rolle, ob du die Kontakte versetzt hast oder nicht. Netter Versuch, aber nutzlos.«
Auf dem Monitor verbanden sich die Punkte nun zu einem Netzwerk aus Linien, die ungefähr die Umrisse der Brust und Arme eines Mannes wiedergaben. »Das bist du, solange du still stehst«, erklärte Rachel. »Siehst du das Auf- und Abschwellen hier? Das sind deine Atemzüge.«
Dann stand die Figur plötzlich andersherum; ein Arm war ausgestreckt.
Rachel fragte: »Wie ist die Zeitresolution?«
Der Techniker öffnete ein weiteres Bildschirmfenster und scrollte durch eine lange Liste von Zahlen. »Wir haben eintausendvierundzwanzig Bilder pro Sekunde. Das ist optimal.«
»Also gut. Ich möchte die Sequenz noch einmal sehen, aber in Echtzeit, nicht im Zeitraffer.«
»Rachel, das war Echtzeit. Er hat sich wirklich so schnell umgedreht.«
»Großer Gott … Dann lass es noch einmal laufen, aber mit einem Zehntel der Geschwindigkeit.«
Doch selbst im gestreckten Zeitmodus drehte sich die Figur auf dem Monitor schneller um, als das Auge folgen konnte.
»Lass mal bis kurz vor der Drehung vorlaufen, dann schaltest du auf ein Bild pro Sekunde.«
Der Techniker gab den Befehl auf dem Keyboard ein. »Okay.«
Auf dem Bildschirm schien die Figur vollständig zu erstarren, dann spannten sich ihre Muskeln, und sie drehte sich um, wobei sie zugleich die Hand vorschleuderte. Der ganze Vorgang benötigte genau zehn Bilder.
»Wahnsinn! In Echtzeit wäre das also weniger als eine Hundertstelsekunde!«, staunte Rachel. »Jetzt wiederholen wir den Prozess noch mal, ich muss wissen, wie sich seine Beine bewegen.« Sie wandte sich an Danny. »Zieh den Rest aus, Danny. Die Unterhose darfst du anlassen. Sei so gut.«
Zum ersten Mal seit Stunden gab Danny wieder ein Wort von sich. »Nein.«
»Wir hatten aber noch nie die Gelegenheit, einen Supermenschen zu untersuchen, Danny. Vor zehn Jahren gab es diese Maschinen und Instrumente noch gar nicht. Wir wollen alles sehen, was du tun kannst.«
Doch Danny weigerte sich. »Nein.«
»Wir müssen wissen, wie schnell du wirklich bist.«
Danny hielt seine rechte Hand hoch und öffnete sie. »Schnell genug, um Ihnen das hier wegzunehmen, ohne dass Sie es bemerkt haben.« In der Hand lag Rachels Elektroschocker.
Blitzschnell stieß er ihn gegen ihren Nacken und drückte auf den Schalter.
Rachel schrie auf und taumelte zurück.
»Tut weh, nicht wahr?«
Einer der Soldaten an der Tür zog die Waffe und zielte auf Danny – der aber nicht mehr da war.
Der Mann hatte kaum gesagt: »Wo …?«, als er ebenfalls den Elektroschocker zu spüren bekam. Noch bevor er reagieren konnte, hatte Danny den zweiten Soldaten geschockt, ihm die Schlüssel abgenommen und die Tür aufgeschlossen.
Auf der anderen Seite des Einwegspiegels warf Victor Cross einen Blick auf das Instrument an seinem Handgelenk. Es sah aus wie eine Armbanduhr.
Aber es war keine.
Danny raste durch die düsteren Minenstollen. Kein Problem, den vielen Wächtern und Technikern auszuweichen, die sich so langsam zu bewegen schienen, dass es für ihn aussah, als seien sie mitten im Schritt erstarrt.
Er hatte keine Ahnung, wohin er lief, aber darüber machte er sich keine großen Gedanken. Er bewegte sich so schnell, dass er absolut sicher sein konnte, einen der Ausgänge zu finden, bevor ihn jemand zu fassen bekam. Das einzige Problem war, dass die Tunnels immer dunkler wurden, je schneller er sich bewegte.
In einer kleineren Nebenhöhle blieb er einen Augenblick lang stehen und beobachtete zwei Arbeiter, die dabei waren, ein Leck in der Wasserleitung zu reparieren.
Die Männer bewegten sich in ruckartiger Zeitlupe, wie auch das Wasser, das aus der defekten Leitung spritzte. Danny sah einen einzelnen Tropfen Wasser in hohem Bogen auf sich zufliegen, aber so langsam, dass er einen Schritt zur Seite treten und zuschauen konnte, wie der Tropfen an ihm vorbeiglitt und geräuschlos auf dem Boden aufschlug und zerspritzte, wobei eine winzige Staubwolke aufstieg.
Es ist, als hätte sich mein Zeitgefühl verändert, dachte Danny. Es ist nicht so, dass ich mich schneller bewege, sondern ich lebe schneller.
Als Experiment nahm er einen kleinen Felsbrocken, hielt ihn auf Schulterhöhe und ließ ihn fallen. In seiner Wahrnehmung brauchte der Stein über zwanzig Sekunden, bevor er auf dem Boden aufschlug.
Er hob den Stein wieder auf und schleuderte ihn, so hart er konnte, gegen die Felswand. Es kam ihm so vor, als würde der Stein mit einigermaßen normaler Geschwindigkeit fliegen, aber als er gegen die Wand prallte, zersplitterte er geräuschlos in kleinste Partikel, als sei der Steinbrocken nichts weiter als eine Handvoll trockener Lehm gewesen.
Ihm wurde klar, dass er in dieser Geschwindigkeit nichts hören konnte: Die Schallwellen waren zu langsam, sodass sie sein Gehör nicht erreichten.
Dafür hörten die beiden Arbeiter, dass etwas vor sich ging. Danny beobachtete fasziniert, wie sie auf das Geräusch reagierten: Langsam und methodisch drehten sie sich in die Richtung, in der der Stein gegen die Wand geprallt war.
Wahnsinn!, dachte Danny. Ich könnte alles tun!
Er trat vor einen der Männer und blieb direkt vor ihm stehen. Kann er mich überhaupt sehen?, wunderte er sich.
Der Gesichtsausdruck des Arbeiters veränderte sich; seine Augen weiteten sich, dann fokussierte sich sein Blick auf Danny. Offensichtlich konnte er Danny sehen, wenn dieser lang genug still stand.
Ich bin also nicht unsichtbar. Schade.
Er verließ die Höhle und kehrte in das Gewirr der unterirdischen Gänge zurück. Dieses Mal bewegte er sich mit einer Geschwindigkeit, die ihm verhältnismäßig langsam erschien, aber immer noch so schnell war, dass niemand reagieren konnte.
Plötzlich fand er sich in dem Stollen wieder, der zum Untersuchungszimmer führte. Dort entdeckte er Facade, der auf den Raum zurannte – aber mit der Schnelligkeit eines Eisgletschers.
Danny flitzte an ihm vorbei, wandte sich nach links und fand sich am Eingang eines sehr langen, breiten Stollens, der leicht nach oben führte. Auf dem Boden waren lehmverdreckte Reifenspuren zu sehen.
Hier geht’s wohl ins Freie, dachte Danny.
Er rannte den Stollen entlang. Er mündete in eine große Halle. Dutzende von Arbeitern, die meisten bewaffnet, waren dabei, Ausrüstungsgegenstände aus großen Trucks auszuladen. Am hinteren Ende der Höhle befanden sich zwei riesige Tore aus armiertem Stahl.
Die Tore waren verschlossen, und zwar gründlich: drei gewaltige Stahlbolzen, jeder mindestens zwanzig Zentimeter stark, waren vorgeschoben.
Es muss doch einen anderen Ausgang geben!, dachte er.
Wieder kehrte er um und begann, das Bergwerk systematisch zu erkunden.
Wo immer er hinkam, sah er Uniformierte, die irgendwelche Maschinen oder Gegenstände trugen, die Türen oder Tore bewachten oder andere Leute in weißen Kitteln begleiteten. Und sie alle wirkten, als seien sie mitten im Schritt erstarrt oder festgefroren.
Komisch, dachte Danny. Alles wird eindeutig dunkler, je schneller ich mich bewege.
Facade stürzte in den Untersuchungsraum, in dem die beiden Wärter Rachel gerade wieder auf die Füße halfen.
»Was zum Teufel ist passiert?«
»Er ist einfach verschwunden!«, sagte Rachel. »Seine Kraft … Mein Gott, so was hab ich noch nie gesehen!«
»Wie lange hält seine Superkraft an?«
Rachel zuckte die Schultern. »Ich habe keine Ahnung.«
»Er könnte jetzt schon tausend Meilen entfernt sein«, knurrte Facade wütend.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das Tor ist unpassierbar. Ohne persönlichen Code kann er nicht raus.«
»Würde der Debilitator nicht auf ihn wirken, egal wo er ist?«, fragte Facade.
»Ich glaube nicht, dass wir dieses Risiko eingehen dürfen. Wir sind nicht sicher, ob unsere Maschine so gut funktioniert wie Ragnaröks Gerät. Ich denke, wir sollten alle unbenutzten Nebenstollen schließen, damit er nur noch wenige Möglichkeiten hat, ein Versteck zu finden.«
Eine Stimme hinter ihnen ertönte. »Und ich denke, wir sollten ihn laufen lassen.«
Rachel und Facade drehten sich um. Victor Cross und Joseph standen unter der Tür. »Lassen wir ihn laufen«, wiederholte Victor. »Wenn wir ihn hier gefangen halten, könnte er vielleicht etwas zerstören.«
»Aber wir brauchen ihn doch, Victor!«, widersprach Rachel. »Wir haben noch nicht genügend Daten, um den Debilitator richtig kalibrieren zu können!«
»Nein, wir brauchen ihn nicht«, antwortete Victor. »Wir haben ja noch das Mädchen. Sie ist auch ein Supermensch, also können wir auch sie benutzen. Außerdem ist sie viel stabiler als Danny. Rachel, gib den Wächtern den Befehl, das Tor zu öffnen.«
Rachel nahm das Funkgerät vom Gürtel, schaltete es ein und begann, den Befehl durchzugeben.
Im selben Augenblick verschwand das Funkgerät aus ihrer Hand.
Rachel sah verblüfft ihre leere Hand an. »Was zum T…?« Sie blickte zu Victor auf. »Hast du das gesehen?«
Aber Victor starrte über ihre Schulter.
Rachel drehte sich rasch um.
Neben der zweiten Tür stand Danny Cooper. In der einen Hand wedelte er mit Rachels Funkgerät. In der anderen Hand hielt er eine Pistole, die er dem Wächter abgenommen hatte.