Kapitel 32

 

 

Caroline Wagner fuhr hoch, als die Tür zu ihrer Zelle aufgeschlossen wurde. Schon früher am Tag hatten sie von draußen Befehle und Brüllen gehört, aber davon abgesehen, war jetzt schon seit mehreren Stunden nichts mehr zu hören gewesen, und es hatte sich auch niemand mehr blicken lassen.

Warren, der auf einem der Betten lag, setzte sich auf.

Noch bevor die Tür ganz aufgegangen war, sprang Warren vom Bett, rollte sich über den Boden bis hinter die Tür und riss sie vollends auf. Das war ein Trick, den er schon einmal angewandt hatte, damals als er noch seine Superkräfte besessen hatte. Er war damals von Brawn gefangen genommen und eingesperrt worden. Einer der Schurken hatte nach dem Gefangenen schauen wollen, war aber nicht auf die Idee gekommen, nach unten zu blicken. Warren hatte auf dem Boden gekauert, hatte sich gegen seine Beine geworfen und den Mann zu Fall gebracht. Dann war er geflohen.

Dieses Mal jedoch blickte er direkt in die Mündung einer Pistole.

Er lächelte, als er Max Dalton erblickte, der von drei schwarz gekleideten Uniformierten begleitet wurde. Warren stand auf. »Ah – das Rettungsteam ist endlich da!«

Dann wurde ihm klar, dass Max seine Waffe nicht senkte – und dass er die drei Soldaten schon früher gesehen hatte. »Du bist involviert? Was zum Teufel wird hier eigentlich gespielt, Dalton?«

»Ich bringe dich zu deinem Sohn.«

»Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?«, fragte Caroline besorgt.

»Im Moment schon.« Max wandte sich an die Soldaten. »Handschellen.«

Als sie durch die Stollen geführt wurden, fragte Caroline: »Wo ist Danny?«

»Ich fürchte, dass er entkommen ist.«

»Gut!«

»Gut? Gut?« Max blieb abrupt stehen. »Soweit ich weiß, hat euch Quantum doch alles erklärt, oder nicht? Habt ihr noch nicht begriffen, wie wichtig es ist, dass wir Danny wieder zu fassen bekommen?«

»Oh ja, er hat es uns erzählt«, sagte Warren. »Und ich denke, ich glaube ihm sogar. Aber es ist nicht richtig, einen unschuldigen Jungen für das zu verurteilen, was er vielleicht einmal tun wird, oder auch nicht.«

»Danny Cooper ist meilenweit davon entfernt, unschuldig zu sein«, sagte Max. »Er hat seinen eigenen Vater umgebracht.«

Warren und Caroline starrten ihn an. Schließlich fragte Warren: »Welchen? Den echten Vater oder den falschen, der sich elf Jahre lang als sein Vater ausgab?«

»Seinen wirklichen Vater.«

»Wie kam es dazu?«

»Dannys Kräfte sind jetzt fast vollständig entwickelt, aber er hat noch nicht gelernt, wie er sie kontrollieren kann. Er ist extrem schnell. Er hat seinem Vater einen Pistolenknauf an den Kopf geschlagen. Das geschah wahrscheinlich aus Wut. Ich bezweifle, dass er ihm wirklich Schaden zufügen wollte, aber genau das hat er getan. Er hat einen Menschen getötet.«

»Ich bin sicher, dass das jeder Richter als Selbstverteidigung durchgehen lassen würde«, sagte Caroline. »Deine Leute hatten ihn schließlich gefangen genommen.«

Max zuckte die Schultern. »Mag sein.« Er drehte sich um und ging weiter. »Ich bringe euch zu Colin. Wir müssen ein paar Dinge besprechen.«

 

 

»Um Himmels willen! Was habt ihr mit ihm gemacht?«, schrie Caroline.

Colin befand sich im Untersuchungsraum. Man hatte ihn mit Kabeln an den Handgelenken an die Decke gehängt, die Arme ausgebreitet. Sein Oberkörper war nackt und auf der Brust klebten Hunderte Elektroden. Kabel führten von einer Computerkonsole zu dem Helm, den er auf dem Kopf trug und der sein Gesicht völlig bedeckte.

»Der Helm hat Lautsprecher, die ein Rauschen übertragen, damit er nicht hören kann, was wir hier besprechen«, erklärte Max. »Und was die Kabel angeht … er wollte eben nicht kooperieren. Die Kabel sind die einzige Möglichkeit, ihn unter Kontrolle zu halten. Glaubt mir, er hat keine Schmerzen. Die Tests, die wir schon durchgeführt haben, lassen vermuten, dass er sehr stark werden wird, wusstet ihr das? Vielleicht sogar stärker, als du jemals warst, Warren.«

Warren fauchte: »Max, hol meinen Sohn runter und nimm ihm das Zeug vom Leib, sonst wirst du teuer dafür bezahlen, das schwöre ich!«

»Das ist notwendig. Wir müssen jeden Quadratzentimeter seines Körpers erfassen. Wir müssen sehen, welche Wirkung der Debilitator hat, während es geschieht.«

»Und – funktioniert deine Maschine?«

»Beinahe. Der Nukleus ist im operativen Zustand, aber wir müssen ihn noch kalibrieren. Unglücklicherweise steht uns jetzt Josephs Wissen nicht mehr zur Verfügung, deshalb haben wir gewisse Probleme. Wir sind auf Vermutungen angewiesen. Aber das wird eben ein wenig länger dauern.«

»Und das alles tust du nur, weil dir Quantum gesagt hat, er habe die Zukunft gesehen?«, fragte Caroline.

»Er hatte auch andere Visionen – alle sind eingetroffen, mit Ausnahme einiger weniger Ereignisse, die wir noch abwenden konnten. Ich habe keinerlei Zweifel, dass auch die Vision Wirklichkeit wird, um die es hier geht. Wenn es uns nicht gelingt, den Debilitator fertig zu bauen.«

»Das warst du, stimmt’s?«, fragte Caroline. »Du hast die Fähigkeit, andere Menschen einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Und diese Fähigkeit hast du auch benutzt, um Quantum zu manipulieren, damit er allem zustimmt, was du entscheidest.«

Max zögerte eine Sekunde, bis er antwortete: »Ja. Quantum war seit Langem psychisch nicht mehr stabil, lange vor dem Mysteriumstag. All diese Visionen, die er im Laufe der Jahre hatte, haben ihn … wie soll ich sagen … verwirrt. Es fiel ihm immer schwerer, zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. Aber vergesst eins nicht: Er kam zu mir. Er wollte, dass ich ihm dabei half, seine Visionen unter Kontrolle zu bringen, oder zumindest seine Reaktion auf die Visionen.«

»Aber du hast darin eine Gelegenheit gesehen, uns alle auf einen Schlag loszuwerden?«

»Nein, nein, überhaupt nicht! Caroline, ich kann zwar ein paar Leute kontrollieren, aber doch nicht alle! Jedenfalls bei Weitem nicht genug, um die Welt zu retten! Ich sah nur einen einzigen Weg, uns alle davor zu bewahren, dass wir durch Supermenschen ums Leben kommen: den Supermenschen die Superkräfte zu nehmen.«

»Auch deine eigenen?«, fragte Warren.

»Ja, auch meine eigenen. Das alles tun wir nur, weil es eben getan werden muss! Danny Cooper wird einer der mächtigsten und damit gefährlichsten Menschen auf diesem Planeten werden. Er wird eine ganze Armee ausheben und einen Krieg anzetteln. Es wird ein katastrophaler Krieg sein. Milliarden Menschen werden dabei ums Leben kommen, und wer den Krieg übersteht, wird auf einem ausgebrannten, zerstörten Planeten leben müssen. Keine Nahrungsmittel mehr, Natur und Umwelt vergiftet, die Meere verseucht. Ganze Städte ein Raub der Flammen. Seuchen, radioaktive Strahlung, Hungersnöte … Selbst den Überlebenden wird es leidtun, nicht auch im Krieg umgekommen zu sein. Wir können das alles verhindern. Aber dazu müssen wir den Debilitator fertigstellen.«

»Und Danny wird sonst nichts geschehen?«

»Natürlich nicht«, sagte Max. »Ragnaröks Maschine hat uns schließlich damals auch keinen bleibenden körperlichen Schaden zugefügt, oder? Und wenn dir das alles nicht gefällt, Warren, dann muss ich dir eine unangenehme Wahrheit in Erinnerung rufen: Du allein bist schuld, dass alles so gekommen ist! Du hast Ragnaröks Kampfpanzer so viel Schaden zugefügt, dass sein Debilitator zerstört wurde, nur Sekunden, nachdem er zum ersten Mal aktiviert worden war. Wenn er weiter funktioniert hätte, hätte Danny niemals seine Superkräfte entwickeln können – dann würden wir uns jetzt nicht in dieser katastrophalen Lage befinden. Aber dieses Mal muss die Maschine ständig funktionsfähig bleiben. Für immer! Dafür wird Danny seine Superkräfte einbüßen, aber ihr werdet doch wohl zugeben, dass das ein sehr bescheidener Preis ist, den wir für die Rettung zu zahlen haben.«

Caroline biss sich auf die Unterlippe. »Warren – er könnte recht haben.«

Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Er verurteilt Danny damit bereits, bevor der Junge auch nur irgendetwas getan hat!«

Max sagte: »Warren. Danny hat bereits einen Menschen getötet.«

Warren schwieg.

»Ich will mit Colin reden«, verlangte Caroline.

»Tut mir leid. Das ist nicht möglich.«

»Er wird sich beruhigen, sobald er sieht, dass es uns gut geht.«

»Nein, tut mir leid.« Max wandte sich an Rachel. »Hol das Mädchen hierher, Rachel. Wenn Colin nicht aufhört, sich zu wehren, müssen wir ihm vielleicht ein Beruhigungsmittel injizieren. Für die Tests sollten wir aber einen Supermenschen haben, der bei vollem Bewusstsein ist.«

Rachel nickte und ging zur Tür.

Max rief ihr nach: »Und frag mal die Leute, ob jemand Victor Cross gesehen hat!«

Rachel blieb stehen. »Warten Sie … Soll das heißen, Sie haben ihn noch nicht zu sehen bekommen?«

»Genau das heißt es.«

Sie runzelte die Stirn. »Das klingt gar nicht gut. Ich hab ihn seit Dannys Flucht nicht mehr gesehen.«

 

 

Victor Cross lud die letzten Stücke seiner Ausrüstung in den Laderaum des StratoTrucks. »Steigen Sie ein, Mr Laurie«, sagte er.

Der Techniker zögerte. »Mr Cross – ich denke, das ist keine sehr gute Idee.«

»Überlassen Sie das Denken ruhig mir.«

Laurie öffnete die Beifahrertür und stieg ein.

Victor setzte sich auf den Fahrersitz. »Gut so weit … wir haben Nahrung, Wasser, Waffen, Munition. Und wir haben dieses kleine hübsche Ding hier.« Er deutete auf das Gerät an seinem Handgelenk, das einer Armbanduhr glich. »Außerdem haben wir über fünf Millionen Dollar, die wir uns bei Max Dalton geliehen haben. Wir sind bereit.« Er drehte den Anlasser und der Truck sprang röhrend an.

Laurie starrte auf den winzigen Kraftfeldgenerator an Victors Handgelenk. »Ich dachte, der Minigenerator sei für Danny Cooper bestimmt, um ihn gegen den Debilitator zu schützen?«

»Dann haben Sie eben falsch gedacht. Das Ding ist für eine ganz besondere Person bestimmt, die ihre supermenschlichen Fähigkeiten auf keinen Fall verlieren will.«

»Aber die anderen Techniker, die an diesem Minigenerator mitgearbeitet haben … werden sie Dalton nicht erzählen, was Sie getan haben?«

»Nein, werden sie nicht.«

»Wie können Sie das wissen?«

»Tote sind nicht sehr gesprächig, Mr Laurie. Und tote Frauen auch nicht.«