Kapitel 1

 

 

Es war ein Donnerstag im Oktober, am frühen Nachmittag.

Normalerweise konnte sich Colin Wagner um diese Zeit hinter dem Jungen verstecken, der in der Bank vor ihm saß, denn Donnerstagnachmittag fand das statt, was sein Lehrer »Diskussionsrunde« nannte. Das bedeutete, dass Mr Stone ein Thema auswählte, das er interessant fand, und sein Bestes gab, um dafür zu sorgen, dass keiner seiner Schüler dieses Thema jemals interessant finden würde.

In der vorigen Woche hatte ihnen Mr Stone ein fünfminütiges Video vorgeführt, das Vögel beim Nestbau zeigte, und die Klasse dann aufgefordert, über Vögel, Nestbau und die Frage zu diskutieren, warum er, Stone, Spatzen für bösartiger hielt als Elstern. Aber heute hatte Mr Stone zur Abwechslung mal ein echt interessantes Thema ausgesucht.

Heute diskutierten sie über den Mysteriumstag.

Mr Stone wartete, bis Ruhe eingekehrt war. »Also … morgen ist der Mysteriumstag«, begann er. »Genau zehn Jahre seit dem Verschwinden sämtlicher Supermenschen. Als das alles begann, nämlich am ersten Jahrestag, also vor neun Jahren, hielt man das Ganze noch für einen normalen Gedenktag. Aber irgendwie hat sich der Tag im Laufe der Jahre zu einem verdammten Feiertag entwickelt! Statt die Superhelden dafür zu ehren, dass sie ihr Leben geopfert haben, wird jetzt mit Ballons und Partys gefeiert, und die Leute bauen Marktstände an den Straßen auf und verkaufen Titan-Figuren, und Titan-T-Shirts gibt’s als Sonderangebot. Und wenn ihr glaubt, dass der ganze Trubel hier in unserem Land schon schlimm genug ist, kann ich euch versichern, dass er in Amerika noch zehnmal schlimmer ist!«

Stone nahm die weiße Kreide und wandte sich zur Tafel.

Titan, schrieb er und unterstrich den Namen doppelt. Podermeninas schrieb er darunter, unterstrich das Wort aber nur einmal. Danach setzte er noch eine ganze Reihe weiterer Namen darunter: Paragon, Apex, Impervia, Thalamus, Thunder, Inferno, Energy, Quantum und Zephyr.

Schließlich nahm er die rote Kreide und schrieb Ragnarök, darunter schrieb er Rayboy, Glyph, Terrain, Shark, Slaughter, Dioxin und Brawn.

»Okay.« Mr Stone drehte sich wieder zur Klasse um. »Superhelden.« Er deutete auf die weiß geschriebenen Namen. »Und Superschurken.« Er klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers auf die Namen in Rot. »Wer waren sie? Woher kamen sie? Wie erwarben sie ihre besonderen Kräfte?«

»Das weiß niemand, Sir«, sagte Colin.

»Hatten sie ihre Kräfte nicht geerbt?«, vermutete Brian McDonald.

»Das wäre eine Erklärung für die Leute, die zum Oberkommando gehörten: Max, Josh und Roz Dalton«, antwortete Mr Stone.

Malcolm O’Neill hob die Hand. »Ich hab gehört, sie kamen alle von einem anderen Planeten.«

»Spekulation«, sagte Mr Stone. »Reine Spekulation. Wir wollen uns doch bitte an die Tatsachen halten: ihre Fähigkeiten – also ihre Superkräfte – und ihre besonderen Stärken. Titan zum Beispiel konnte fliegen und war so stark wie hundert Männer. Energy konnte fast jede Art von Energie absorbieren und wieder abgeben. Und Quantum soll sich so schnell bewegt haben können, dass er einem Überschallflugzeug davonlaufen konnte. Aber dann, vor zehn Jahren, wurden mindestens fünfundzwanzig Superhelden und bis zu hundert Schurken in einen Kampf verwickelt, der östlich von Pittsburgh in den USA stattfand. Ragnarök hatte einen riesigen Kampfpanzer oder vielmehr eine mobile Festung gebaut. Dieses Ungetüm richtete verheerende Zerstörungen an, als es quer durch die Vereinigten Staaten in Richtung New York City rumpelte. Drei ganze Städte mussten evakuiert werden. Es gibt Berichte über eine gewaltige Explosion und dann … nichts. Was also könnte mit all den Superhelden geschehen sein? Ja, Colin?«

»Sie verschwanden, Sir«, antwortete Colin.

Der Lehrer nickte langsam. »Sie verschwanden. Einfach weg. Aber wohin? Danny?«

»Das weiß niemand«, antwortete Danny Cooper. »Und es sind nicht nur die Helden verschwunden, sondern auch die Schurken. In dem zerstörten Panzer wurden keine Leichen gefunden. Vermutlich hat die Regierung alles vertuscht.«

»Sie sind auf ihren Heimatplaneten zurückgekehrt«, erklärte Malcolm O’Neill voller Überzeugung.

Adam Gilmore lachte höhnisch. »Hör endlich auf mit deinem Planeten, Mal! Wahrscheinlich wurden sie bei der Explosion einfach in Fetzen gerissen!«

»Das kann nicht sein«, erklärte Colin. »Brawn oder Impervia hätten jede Explosion überlebt. Energy hätte die Druckwelle einfach absorbiert. Und Quantum hätte vor ihr davonlaufen können.«

»Genau«, fügte Danny Cooper hinzu. »Und Max Dalton und die übrigen Mitglieder des Oberkommandos haben die ganze Sache überlebt.«

»Klar, sie waren ja nicht dabei«, sagte Adam.

»Adam hat eine interessante Frage aufgeworfen«, mischte sich Mr Stone wieder ein. »Obwohl manche Augenzeugen das Gegenteil behaupteten, wurde offiziell verlautbart, dass die Daltons während des Angriffs nicht anwesend waren. Soweit wir wissen, sind sie die einzigen Supermenschen, die den Mysteriumstag überlebt haben. Jeder andere Supermensch, ob er nun bei Ragnaröks Angriff dabei war oder nicht, ist verschwunden.« Er zuckte die Schultern. »Heute Abend wird Max Dalton zum ersten Mal seit zehn Jahren ein Interview geben. Es wird auch das erste Mal sein, dass er seit seinem Rückzug in der Öffentlichkeit erscheint.« Der Lehrer ging um seinen Tisch und lehnte sich dagegen. »Hat jemand von euch eine Vermutung, was er sagen wird?«

Brian wandte sich zu Malcolm O’Neill um. »Hey, Mal, vielleicht erklärt er uns, dass er dich auf deinen Heimatplaneten zurückschießen will!«

Die Klasse lachte. »Na, Brian«, sagte Mr Stone, »mit dieser Bemerkung hast du dir wirklich eine Belohnung verdient. Du darfst bestimmen, welche Hausaufgaben wir der Klasse aufgeben.«

»Meinen Sie das im Ernst?«

»Sehe ich wie ein Spaßmacher aus?«

Brian blickte sich zögernd um. Sämtliche Jungen starrten ihn mit demselben drohenden Ausdruck an – und schickten Brian dieselbe telepathische Mitteilung: Mach die Aufgabe superleicht, sonst kannst du schon mal deinen Sarg bestellen.

Colin murmelte leise: »Keine Hausaufgaben! Keine Hausaufgaben!«

»Nun, was ist, Brian?«, drängte der Lehrer.

»Ich finde, dass wir als Hausaufgabe gründlich darüber nachdenken sollten, wie man sich als Supermensch fühlen würde.«

»Gründlich nachdenken?«

»Genau.« Brian nickte heftig.

»Wunderbar. Ihr werdet also alle gründlich darüber nachdenken. So tiefe Gedanken sind natürlich nur dann nützlich, wenn man sie irgendwie festhält. Wenn ihr dann also mit dem gründlichen Nachdenken fertig seid, schreibt ihr eure Gedanken als Aufsatz nieder.«

Alle stöhnten auf. Jemand schrie: »Echte Superleistung, Brian!«

»Das ist nicht so schlimm, wie es sich anhört«, meinte Mr Stone. »Morgen ist ohnehin keine Schule, also habt ihr ein ganzes verlängertes Wochenende Zeit, um den Aufsatz zu schreiben. Vier Seiten werden reichen, denke ich. Und mit Seiten meine ich DIN A 4-Papier! Wehe, es gibt wieder einer von euch vier Post-it-Zettel ab!«

 

 

Colin, Danny und Brian wohnten in verschiedenen Stadtvierteln, aber an jedem Schultag führten sie ihr »Heimwegritual« durch: Sie schlenderten gemeinsam bis zur Nordwestecke des Parks, wo Colin dann in östlicher, Brian in westlicher und Danny in nördlicher Richtung zu den Wohnblocks weitergehen würde. Doch sie setzten sich auch immer noch für eine gute Stunde auf die niedrige Parkmauer, redeten und hielten Ausschau nach scharfen Autos oder hübschen Mädchen.

Auch heute saßen sie unter den riesigen Fichten, deren Geäst über den Weg hing und sie vor dem leichten Nieselregen schützte, als Brian seine jüngere Schwester erblickte, die auf dem Fahrrad daherradelte und sich größte Mühe gab, allen Pfützen auszuweichen.

»Hey, da kommt dein Fan, Danny«, sagte Brian.

»Oh. Ha-ha«, machte Danny.

Sie blickten Susie entgegen, die wie betrunken zwischen den Wasserlachen herumkurvte und schließlich direkt vor Danny bremste. »Hi, Danny!«

Danny murmelte einen kaum hörbaren Gruß und vermied es geflissentlich, Susie anzuschauen.

»Was willst du schon wieder?«, wollte Brian wissen.

»Mama sagt, du sollst jetzt sofort nach Hause kommen und nicht ewig herumtrödeln.«

»So, sagt sie das?«

»Ja!«

Brian dachte nach. »Na gut. Wir machen ein Wettrennen. Wetten, dass ich zu Fuß schneller bin als du auf dem Fahrrad?«

Susie wollte keine Gelegenheit auslassen, um vor Danny zu glänzen. »Okay, ich mach mit.«

»Ich geb dir sogar einen Vorsprung!«, sagte Brian großzügig. »Und zwar bis zum Ende der Straße!«

Sie starrte ihn misstrauisch an. »Nein. Das ist wieder einer von deinen fiesen Tricks.«

»Fiese Tricks? Ich?« Brian blickte sie mit höchst unschuldig aufgerissenen Augen an. »Niemals. Ich doch nicht. Danny würde ohne Weiteres für mich die Hand ins Feuer legen. Stimmt doch, Dan?«

»Äh. Ja, klar«, sagte Danny zögernd.

Mehr brauchte Susie nicht. Sie riss das Rad herum und radelte wie verrückt die Straße entlang.

Brian schaute ihr gelassen nach. »Dumpfnudel.« Er wandte sich wieder an die anderen Jungs. »War doch cool, die Sache mit den Hausaufgaben, nicht wahr? Viel besser als Mathe oder Geo.«

»Hättest du dir nicht was Einfacheres einfallen lassen können?«, fragte Colin vorwurfsvoll.

»War doch nicht meine Schuld! Wie hätte ich denn wissen sollen, dass er uns einen Aufsatz aufbrummt?«

»Ich werde über Thalamus schreiben«, sagte Danny. »Mein dritter Lieblingsheld nach Titan und Paragon.«

»Warum schreibst du dann nicht über Paragon?«, wollte Brian wissen.

»Weil der bei allen auf dem zweiten Platz steht. Welchen hast du dir denn ausgesucht?«

»Thunder.«

Danny lachte spöttisch. »Das ist der mit den absolut blödesten Superkräften! Wozu soll das denn gut sein, den Regen zu kontrollieren? Von dem hört man doch höchstens, dass er mal mit seinen Kräften ein bisschen Theaterdonner erzeugt oder einen Platzregen verursacht! Warum wählst du nicht Apex? Der war doch ziemlich cool.«

»Stimmt, aber über den weiß kaum jemand etwas«, mischte sich Colin ein.

»Deshalb wäre er ja eine besonders gute Wahl.«

Brian meinte: »Denk zumindest mal drüber nach. Ich geb ja zu, Danny, dass Thunder wirklich eine schlechte Wahl ist, aber ich hab schon ein paar Ideen, wie die Sache trotzdem funktionieren könnte. Und wen hast du ausgewählt, Col?«

Colin zuckte mit den Schultern. »Weiß ich noch nicht. Wahrscheinlich werde ich die Sache glatt vergessen und dann mit dem Aufsatz erst am Montagmorgen beim Frühstück anfangen.« Er grinste. »Offenbar kann ich mich besser konzentrieren, wenn mein Vater vor mir steht und mich ausschimpft, dass ich immer alles auf den letzten Drücker mache.«

»Du könntest den Aufsatz doch aus der Sicht eines Schurken schreiben«, schlug Brian vor.

Danny rollte voller Abscheu die Augen. »Brian, du bist ein Knallkopf. Er hat doch gesagt, wir sollen über einen der Superhelden schreiben, oder nicht?«

»Ja, klar, stimmt, aber man kann die Sache auch ganz anders sehen. Nehmen wir mal an, Ragnarök sei überzeugt gewesen, dass er ein Held sei und kein Schurke …«

Colin blickte plötzlich auf. »Ja, er hat jedenfalls immer geglaubt, dass er das Richtige tut.«

Danny nickte. »Das stimmt, aber wir sollten uns nichts vormachen: Ragnarök war total daneben. Kann denn jemand im Ernst glauben, Banküberfälle oder die Erpressung der ganzen Welt seien gute Taten? Wenn du was Böses tust, bist du eben böse, egal aus welchem Grund du es tust.«

Das Gespräch verstummte, als vier Mädchen in der St. Mary-Schuluniform näher kamen.

Eines der Mädchen blickte herüber, als sie vorbeiging. »Hi, Danny!«

Danny zuckte verlegen zusammen. »Oh, hi, äh …«

»Judy«, murmelte ihm Brian zu.

»Hi, Julie!«, sagte Danny.

Das Mädchen hörte auf zu lächeln, warf ihm einen finsteren Blick zu und ging schnell ihren Freundinnen nach.

Brian rammte Danny den Ellbogen in die Rippen. »Du Vollidiot! Judy, hab ich gesagt, nicht Julie!«

Danny rieb sich die Rippen. »Woher soll ich das wissen? Hab sie noch nie im Leben gesehen!«

Brian seufzte. »Danny, vor zwei Wochen hat sie eine Stunde lang geduldig zugehört, während du sie über Manchester City zugelabert hast – du hast ihr lang und breit erklärt, warum City das großartigste Fußballteam der Welt sei. Und sie hatte Augen und Ohren nur für dich!«

»Ach, die war das?«

»Wie machst du das nur?«, wollte Brian wissen. Er sprang von der Mauer, schob den Ärmel zurück und ließ seine Muskeln spielen. »Hier, schaut euch das mal an! Ich hab Muskeln! Jeder weiß, dass Mädchen Muskeln mögen, aber dieser Schlacks da hat eine größere Fangemeinde als wir beide zusammen!«

Danny grinste. »Manche stehen eben auf Intelligenz und nicht auf Muskelprotzerei.«

Brian seufzte erneut, schüttelte den Kopf und schwang sich wieder auf die Mauer. »Wann steigt denn die Party morgen Abend, Col?«

»So gegen acht.« Wie viele Leute veranstalteten Colins Eltern am Mysteriumstag eine Party. Für Colins Mutter war es allerdings nichts weiter als eine gute Gelegenheit, um die Verwandtschaft einzuladen. Manchmal dachte Colin, seine Eltern veranstalteten solche Partys nur, um ihn vor seinen Cousinen und Cousins zu blamieren. »Du kommst also?«

»Ja, schon … aber, na ja, es gibt da noch ein kleines Problem. Meine Eltern wollen ausgehen und haben noch keinen Babysitter für Susie gefunden. Ihr wisst ja, sie mag nicht allein zu Hause bleiben. Deshalb soll ich dich fragen, ob ich Susie zu eurer Party mitbringen darf.«

»Meinen Eltern würde das nichts ausmachen, da bin ich sicher. Und vielleicht kann sie dabei helfen, meine kleinen Cousinen zu beschäftigen.«

»Wenn man vom Teufel spricht …«, stöhnte Brian.

Die anderen blickten auf. Susie kam zurückgeradelt, und es war ziemlich klar, dass sie vor Wut kochte.

»Sie sieht nicht besonders glücklich aus«, meinte Colin.

Susie vollführte mitten auf der Straße eine Vollbremsung und starrte ihren Bruder wütend an. »Brian!«

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Das sag ich Mama!«, schrie sie.

Brian lachte und sprang von der Mauer. »Okay, okay, ich komm ja schon!« Er wandte sich noch einmal zu Colin und Danny um. »Okay, wir sehen uns morgen. Was hast du gesagt, um wie viel Uhr die Party losgeht, Col?«

»Um acht«, antwortete Colin. »Du kommst doch auch, Danny, oder nicht?«

Aber Danny achtete nicht auf ihn. Er war aufgesprungen und starrte ins Leere.

»Danny?«

Plötzlich schrie Danny auf. »Susie! Weg von der Straße!«

Colin wirbelte herum und sah einen Bus mit jaulenden Reifen um die Ecke rasen. Der Fahrer hatte offenbar jede Kontrolle darüber verloren. Und er schoss genau auf Susie zu.

 

 

Zelle 18 maß vier Meter im Quadrat und war knapp über drei Meter hoch. Sie enthielt ein schmales, unbequemes Bett, einen einzigen Stuhl, einen kleinen Tisch, ein großes, zum Bersten gefülltes Buchregal, ein Handwaschbecken und eine Toilette.

Die Wände bestanden aus armiertem Beton. Es gab keine Fenster. Die einzige Lichtquelle waren zwei kleine, aber starke Glühbirnen an der Decke, die von unzerbrechlichem Glas geschützt wurden.

Mitten in der Zelle stand ein Mann. Er starrte die nackte Wand an. Seit über einer Stunde hatte er sich nicht bewegt.

Später würde er sich auf das Bett setzen oder sich vielleicht darauf ausstrecken; das hatte er noch nicht entschieden. Oder vielleicht würde er einfach nur stehen bleiben.

Die Wärter nannten ihn Joseph.

Er war Anfang vierzig. Ein großer Mann, jetzt schlanker, als er vor zehn Jahren gewesen war, aber keineswegs mager, mit langem, wirrem schwarzen Haar und allmählich grau werdendem Bart.

Vor zehn Jahren hatte man Joseph bewusstlos in diese Zelle getragen. Es gab Tage, an denen er sich seiner Situation und seiner Umgebung vollkommen bewusst war; an diesen Tagen war ihm klar, dass er offiziell kein Gefangener war – es hatte weder einen Strafprozess noch irgendein anderes rechtskräftiges Verfahren gegen ihn gegeben. Allerdings hatte er keine Ahnung, wo sich seine Zelle befand. Aber diese klaren Tage waren selten; die meiste Zeit existierte Joseph nur in seinem eigenen Kopf, lebte nur mit seinen Erinnerungen – und seinen Albträumen.

Immer noch starrte Joseph die Wand an. Vergangene Nacht hatte er wieder einen dieser Albträume gehabt, denselben entsetzlichen und immer wiederkehrenden Traum: eine einzige Vision von Blut, Qual, Mord und Tod, doch alles in einer grauenhaften Dimension.

Oft war Joseph froh, dass er hier gefangen gehalten wurde. Hier war er in Sicherheit. Niemand konnte ihm etwas antun. Und auch er konnte niemandem etwas antun.

Solange ich hier bin, sagte er sich manchmal, sind alle in Sicherheit.

Doch diesem Gedanken folgte fast immer ein widersprüchlicher zweiter Gedanke: Aber ich bin nicht nur hier. Ich bin auch dort draußen. Und wenn ich dort draußen bin, ist niemand in Sicherheit.

Joseph drehte sich langsam um und betrachtete das Bett. Ich könnte mich hinsetzen. Oder hinlegen.

Er lächelte.

Warum auch nicht? Zwischen liegen und lügen war kaum ein Unterschied. Und gelogen habe ich ohnehin schon. Manchmal glaube ich, dass mein ganzes Leben eine einzige Lüge geworden ist.

Er fragte sich, wie lange er schon hier war.

Dann fragte er sich, wie viel Zeit ihm wohl noch bleiben würde.

Wie viel Zeit der Welt noch bliebe.