Kapitel 33

 

 

Renatas Wächter hielt nun schon seit über einer halben Stunde den Mund. Seine endlosen Tiraden und Belehrungen über Moral und Anstand waren ins Leere gelaufen, nachdem sie angefangen hatte, absolut allem zuzustimmen, was er sagte.

Sie grinste in sich hinein. Denselben Trick hatten sie und ihre Schwester immer angewendet, wenn ihre Mutter wieder mal endlos über irgendetwas jammerte.

Möchte aber gern wissen, wo sie jetzt sind, dachte sie. Es ist jetzt zehn Jahre her. Vielleicht sind sie woanders hingezogen. Dad hat doch immer gesagt, dass er in die Nähe von Denver ziehen wollte. Oder vielleicht sind sie am selben Ort geblieben, nachdem ich verschwunden war, und hofften noch eine Weile, dass ich irgendwann zurückkommen würde … Oder … oder sie denken, ich sei tot … Oh mein Gott, hoffentlich nicht! Nein, Max hat ihnen bestimmt gesagt, was mit mir geschehen war. Aber sie wussten doch nicht mal, dass ich ein Supermensch bin! In dem Zeitungsartikel stand doch, dass Max behauptet hat, das Oberkommando sei beim letzten Gefecht mit Ragnarök gar nicht dabei gewesen! Aber sie waren doch dabei, alle! Warum leugnen sie es jetzt? Und warum hat Max behauptet, Energy und Titan seien ebenfalls umgekommen?

Renata zuckte heftig zusammen, als sich plötzlich die Tür öffnete.

Ein Soldat trat ein. »Wir sollen sie runter ins Labor schaffen«, sagte er zu Escher.

Sie näherten sich ihr vorsichtig von beiden Seiten. »Komm mit.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Dann müssen wir dich tragen.«

Renata stand auf und ging zur Tür.

»Wir wissen, wozu du fähig bist«, sagte Escher. »Du gehst vor uns her.«

Die Tür führte auf einen der Kontrollstege hinaus, die sich an den Wänden der großen Halle hinzogen. Eine lange, steile Metalltreppe führte bis zur untersten Ebene hinab.

Renata stieg die Treppe hinunter. Nach ein paar Stufen zuckte sie plötzlich zusammen und griff sich ans Bein.

»Autsch! Ein Krampf! Wahrscheinlich weil ich zu lang in derselben Position sitzen musste!«

Sie blickte zurück. Die beiden Männer standen unmittelbar hinter ihr.

Wenn ich mich kristallisiere, werden sie mich einfach hinuntertragen. Und solange ich vor ihnen bin, kann ich sie nicht entwaffnen. Ich könnte mich über das Geländer schwingen und kristallisieren, bevor ich unten aufschlage, aber dann lösen sie einfach den Alarm aus.

Einer der Soldaten stieß ihr mit dem Gewehrkolben zwischen die Schulterblätter. »Los, geh weiter!«

Renata richtete sich auf und streckte sich. »Brauche nur eine Sekunde.« Sie drehte sich um, wobei sie mit einem Fuß aufstampfte. »Geht schon wieder besser.«

Sie stand jetzt den Soldaten direkt gegenüber, am oberen Ende der Treppe.

Langsam streckte sie die Arme aus, die Handgelenke eng aneinandergelegt. »Na – warum legt ihr mir keine Handschellen an?«

Bevor sie antworten konnten, packte Renata beide Soldaten und warf sich zurück.

Im selben Augenblick kristallisierte sie sich.

Alle drei stürzten die Treppe hinunter.

Starr und unverletzlich, wie Renata war, hatte der Sturz keinerlei Wirkung auf sie. Aber auf die Soldaten. Bis sie auf dem nächsten Treppenabsatz aufschlugen, hatten sie zahlreiche Prellungen erlitten und das Bewusstsein verloren.

Renata verwandelte sich wieder in einen Menschen.

Was für ein Supertrick!

Sie sprang auf, jagte die restlichen Stufen hinunter und lief los.

 

 

Colin konnte nichts sehen oder hören, spürte aber immer noch Schmerzen. Die Kabel schnitten tief in seine Handgelenke. Hätten seine Füße den Boden berührt, hätte er sich vielleicht kräftig genug abstoßen können, um die Kabel zu lockern. Aber leider hingen seine Füße ungefähr einen Meter über dem Boden.

Die Frau – Rachel – hatte ihn zuerst auf dem Untersuchungstisch festgeschnallt, aber er hatte die Lederriemen zerrissen, als seien sie aus Papier.

Rachel hatte ihren Schocker einsetzen müssen, den sie zuvor auf die höchste Stromstärke eingestellt hatte. Als sich Colin von dem Schock erholte, hing er bereits gefesselt an der Decke.

Und jetzt hatte er Mühe, überhaupt bei Bewusstsein zu bleiben.

Er versuchte, sein Gewicht auf einen Arm zu verlagern, am anderen Kabel zu ziehen und sich auf seine Muskeln zu konzentrieren, aber das Rauschen im Kopfhörer war ohrenbetäubend und lenkte ihn zu sehr ab.

Ich muss irgendwie höher hinauf. Wenn ich mich ein wenig anheben kann, könnte ich vielleicht eine Hand aus der Schlinge ziehen.

Aber es gab eben keine Möglichkeit, sich selbst höher hinaufzuziehen. Und hin- und herschwingen? Vielleicht würde er mit den Füßen gegen etwas stoßen, von dem er sich abstoßen konnte. Aber das hatte er schon ein paar Mal versucht und jedes Mal den Schocker zu spüren bekommen.

Vielleicht kann ich mich doch höher hinaufziehen.

Er drehte die rechte Hand herum, sodass seine Finger um das Kabel griffen. Zuerst zog er nur versuchsweise daran und stellte fest, dass seine Superkraft immer noch funktionierte. Er schaffte es, sich um ungefähr einen Zentimeter in die Höhe zu ziehen, aber dadurch wurde nur der Zug an der anderen Hand stärker.

Was kann ich sonst noch ausprobieren? Vielleicht eine Turnübung – ich schwinge mich so hoch, dass sich die Handgelenke unter mir befinden.

Er spannte seine Bauchmuskeln, dann hob er die Beine an und ließ sie wieder fallen. Nach und nach geriet er ins Schwingen. Doch dann spürte er den Schocker wieder, dieses Mal so stark, dass sich sein linkes Bein wie abgestorben anfühlte.

 

 

Warren erkannte, was sein Sohn tun wollte. Und er sah die junge Frau, die zu Colin lief und ihm ein kleines Gerät gegen das Bein presste.

Er setzte sich in Bewegung, wurde aber sofort von zwei der Soldaten gepackt. »Wenn ihr ihn noch einmal anrührt, bringe ich euch um!«, brüllte Warren.

Max betrachtete Warren, als sei er nichts weiter als ein besonders interessanter Käfer im Labor. »Warren, du befindest dich in einer Lage, die deine Drohungen ziemlich lächerlich erscheinen lässt. Du hast es nur meiner Freundlichkeit zu verdanken, dass du überhaupt hier bist. Vergiss das nicht.«

Facade kam in den Raum geeilt und wandte sich an Max. »Cross ist abgehauen. Er hat in einem der kleineren Labore an etwas gearbeitet. Mit vier Assistenten, alle persönlich ausgewählt. Drei von ihnen sind tot. Keine Spur vom vierten. Und was immer sie da entwickelt haben, ist ebenfalls verschwunden.«

Max fluchte. »Aber das ist unmöglich! Ich kenne ihn seit Jahren – er würde mich nie verraten!«

»Du kanntest ihn vielleicht doch nicht so gut, wie du gedacht hast«, kommentierte Facade trocken.

Max ignorierte die Bemerkung. »Hast du irgendeine Idee, woran er gearbeitet hat?«

Facade schüttelte den Kopf. »Nein. Auf seinen Computern hat er sämtliche Daten gelöscht und alle Papiere vernichtet.«

Rachel wandte sich um. »Max, ich glaube, wir haben es. Ich glaube, wir sind so weit!«

»Du glaubst es?«

»Ohne Victor kann ich es nicht sicher sagen. Sämtliche Sicherungen sind so weit, dass sie angeschaltet werden können. Der Nukleus scheint auch genau nach den Spezifikationen zu funktionieren, aber… es könnte trotzdem gewisse Probleme geben. Dieses Gerät arbeitet nicht genau so wie Ragnaröks Maschine. Seine Wirkung wird lokal begrenzt sein. Victor hat eine Simulation durchgeführt, demnach hätten wir eine Reichweite von ungefähr drei Meilen, vielleicht auch vier. Für Ragnaröks Debilitator wurde ein Tachyonengenerator eingesetzt, der ihm praktisch unbegrenzte Reichweite gab, aber wir kriegen das nicht zum Laufen. Aber davon abgesehen, sind wir ziemlich sicher, dass es funktioniert. Sobald du den Befehl gibst. Danach dauert es ein paar Minuten, bis wir ihn hochgefahren haben. Aber die Sicherungen werden sofort aktiviert.«

»Die Reichweite von drei oder vier Meilen reicht nicht. Der Junge könnte inzwischen überall sein. Ich will ihn nicht suchen lassen müssen.«

Rachel nickte. »Wir könnten tatsächlich den Output steigern, aber das könnte gefährlich werden.«

»Warum gefährlich?«

»Wir gehen dann ein ziemlich hohes Risiko ein, dass eine nicht reversible Überspannung entsteht.«

»Und das heißt?«

»Das heißt, dass es Dannys Hirn versengen könnte, wahrscheinlich käme er sogar ums Leben.« Sie blickte zu Colin hinüber. »Colin und das Mädchen ebenfalls. Und nicht nur sie … auch viele normale Menschen werden davon betroffen sein. Möglicherweise wird einer von hunderttausend Menschen eine Art Anfall erleben. In den meisten Fällen wird die Sache nicht tödlich verlaufen, aber sie werden auf Dauer geschwächt sein.«

»Das kommt überhaupt nicht infrage«, warf Facade ein. »Diese ganze Sache dient dem Zweck, unschuldige Menschen zu retten, und nicht, sie umzubringen. Finde eine andere Lösung.«

Rachel zuckte die Schultern. »Es gibt keine andere Lösung. Wenn du willst, dass der Debilitator über größere Reichweiten wirkt, sind die Anfälle unvermeidlich.«

Max Dalton blickte Facade und Rachel nacheinander an. »Eine Person unter hunderttausend … das macht weltweit ungefähr sechzigtausend Menschen.« Ein paar Sekunden lang schwieg er, dann fuhr er fort: »Das sind weit weniger Menschen, als im Krieg sterben würden. Kollateralschaden. Tu es, Rachel. Jetzt sofort.«