Kapitel 15
»Tut mir leid, es gibt keinen Eintrag für Solomon Cord in New York«, sagte die Frauenstimme der Telefonauskunft. »Vielleicht hat Ihr Gesprächspartner die Nummer nicht freigegeben.«
»Okay, trotzdem vielen Dank«, sagte Colin und legte auf.
Er befand sich in einem großen Einkaufszentrum ungefähr sieben Kilometer vom Flughafen entfernt. Genau in der Mitte des Einkaufszentrums stand eine kunstvoll verzierte, große Uhr in einem Brunnenbecken. Es war kurz nach ein Uhr mittags.
Die zehn Dollar, die Marie ihm gegeben hatte, besaß er noch. Obwohl sein Magen heftig knurrte, gab er der Versuchung nicht nach, einen der köstlich duftenden Doughnuts zu kaufen, die in einem Stehcafe genau gegenüber den Telefonzellen angeboten wurden.
Er hatte den kostenlosen Busshuttle benutzt, der ihn vom Flughafen hierhergebracht hatte.
Gerade als er sich wieder in Bewegung setzen wollte, bemerkte er ein Poster, auf dem Ausreißern Hilfe angeboten wurde. Unter einem Foto, das einen Jungen mit weit aufgerissenen Augen zeigte, stand: »Du bist von zu Hause weggelaufen? Oder hast Angst, nach Hause zurückzukehren? Wir können dir helfen! Ruf an! Anruf kostenlos unter der Nummer 1-800-HERE-4-YOU. Alles bleibt vertraulich.«
Könnte ich ja mal probieren, dachte Colin und wählte die Nummer.
»Hallo«, sagte eine Frauenstimme. »Wie kann ich dir helfen?«
»Ich …«, begann Colin, aber dann wusste er nicht mehr, wie er seine Situation erklären sollte.
Die Frau nahm an, dass sein Zögern nichts anderes als Angst bedeutete. »Hast du dich verlaufen? Erzähle mir einfach, was bei dir los ist.«
»Verlaufen? Ja, irgendwie schon. Äh – ich heiße Colin Wagner. Ich … Jemand hat mich gekidnappt. Ich konnte abhauen, hab aber keine Ahnung, wo ich bin.«
»Ah, ich verstehe. Von wo rufst du an?«
»Ein Einkaufszentrum. Es heißt Twin Pines oder so ähnlich.«
»Das kenne ich. Möchtest du, dass ich die Polizei benachrichtige?«
»Nein! Nein, tut mir leid, aber der Polizei traue ich nicht.«
»Erklärst du mir, warum?«
»Die Kidnapper sagten, dass sie mit Leuten bei der Polizei zusammenarbeiten.«
»Ah – also gut«, sagte die Frau zögernd. »Wie alt bist du? Woher kommst du? Und wie bist du ihnen entkommen?«
Colin erzählte ihr eine Kurzfassung seiner Erlebnisse – die Sache mit dem früheren Leben seiner Eltern ließ er jedoch weg. Schließlich sagte er: »Ich hab zehn Dollar. Wie weit komme ich damit?«
»Höchstens bis zum nächsten Ausgang«, sagte die Frau und lachte. »Im Ernst: Falls du glaubst, dass du mit zehn Dollar nach New York kommen kannst, musst du erst mal eine Zeitreise rückwärts machen – um ungefähr hundert Jahre.«
Obwohl seine Situation nicht zum Lachen war, musste Colin grinsen. »Was soll ich denn tun?«
»Wenn du wirklich nicht mit der Polizei reden willst, können wir jemanden schicken, der dich abholt. Er bringt dich für die Nacht in ein Heim. Zumindest gibt es dort ein Bett und eine warme Mahlzeit. Und du kannst dort auch mit einem Berater sprechen, wenn du möchtest.«
Eine knappe Stunde später saß Colin auf dem Rand des Brunnenbeckens, als sich ein kleiner, untersetzter Mann näherte. »Heißt du Co-lin?«, fragte der Mann. Er schien ein bisschen nervös zu sein und sprach den Namen recht zögernd aus.
Colin nickte.
»Hi. Ich heiße Gene.« Er zeigte Colin seinen Ausweis. »Ich soll dich zum Heim bringen. Bist du einverstanden?«
»Danke«, antwortete Colin höflich und sprang vom Beckenrand. Überrascht stellte er fest, dass er größer war als Gene. »Was hat Ihnen die Frau am Telefon über mich gesagt?«
»Nur dass ich dich abholen soll. Wir erfahren nur das, was absolut nötig ist. Aber du kannst natürlich über alles mit mir reden, wenn du möchtest. Ich mache gerade eine Ausbildung zum Jugendberater.«
Sie verließen das Einkaufszentrum und gingen über den Parkplatz. »Du bist wohl nicht aus dieser Gegend?«, erkundigte sich Gene.
»Nö.«
»Okay.«
Genes Auto war ein riesiger, nagelneuer Geländewagen. Gene bemerkte, wie überrascht Colin war. »Ganz nett, nicht wahr?«, fragte er stolz.
Colin nickte. »Super. Unser Auto ist nicht mal halb so groß.« War, dachte er. Alles Vergangenheit.
»Kleine Autos verbrauchen weniger Benzin«, bemerkte Gene. »Wie viel verbraucht euer Auto denn?«
»Ich hab keine Ahnung«, gestand Colin.
»Der hier verbraucht ungefähr 12 Liter im Stadtverkehr und 15 Liter auf Landstraßen«, erklärte Gene.
»Nicht schlecht«, kommentierte Colin, obwohl er nicht wusste, ob der Verbrauch gut oder schlecht war.
Gene setzte sich hinter das Lenkrad und legte den Gurt um. »Okay, fahren wir.«
Er steuerte den Wagen aus dem Parkplatz und bog so oft in alle möglichen Richtungen ab, dass Colin schließlich völlig verwirrt war. Schließlich fuhren sie auf eine Autobahn. Was Colin am meisten irritierte war, dass er auf der Seite saß, auf der in seinem eigenen Land der Fahrer sitzen würde.
»Wie lange machen Sie das schon?«, fragte er Gene. »Kindern helfen, meine ich.«
»Ein oder zwei Jahre. Ich habe mich vorzeitig pensionieren lassen. Wurde mir dann aber zu Hause zu langweilig, deshalb habe ich mich beworben.« Er grinste Colin kurz an. »Im Moment bin ich nur als Fahrer tätig. Aber die Arbeit macht Spaß. Man tut was Gutes.«
»Müssen Sie viele Kinder abholen?«
»Im Schnitt ungefähr zwei pro Woche. In der Ferienzeit gibt’s allerdings ein bisschen mehr zu tun. Viele Kinder halten es dann zu Hause nicht mehr aus. War das bei dir auch so?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Okay«, sagte Gene. »Willst du nicht darüber reden?«
»Nein, tut mir leid.«
»Schon okay.«
Colin musste unwillkürlich grinsen. Für diesen Mann schien alles okay zu sein.
»Feiert man den Mysteriumstag auch dort, wo du herkommst?«
»Ja«, antwortete Colin. »Wird er nicht überall gefeiert?«
»Vermutlich schon. In Jacksonville gab es ein großes Straßenfest, eine Unmenge Jungs verkleideten sich als Superhelden. Natürlich wollten die meisten Titan sein. Du wirst es nicht glauben, aber ich hab ihn sogar mal persönlich kennengelernt.«
»Sie haben Titan kennengelernt?«
»Klar doch. Hat mir das Leben gerettet. Das war … ach, ungefähr vor sechzehn Jahren. Erinnerst du dich an einen Schurken namens Terrain?« Doch bevor Colin antworten konnte, fuhr Gene fort: »Nein, natürlich nicht. Du bist zu jung dafür. Aber bestimmt hast du schon von ihm gehört?«
Colin nickte.
»Also, ich arbeitete damals auf dem Bau. Wir bauten ein Haus mit mehreren Apartments. Ziemlich teuer, Blick über den Fluss und so weiter. Ich war Maurer und arbeitete gerade ziemlich weit oben, als plötzlich alles zu beben anfing. ›Erdbeben!‹, dachten wir alle und rannten aus dem Bau, so schnell wir konnten. Aber als wir draußen waren, sahen wir nur Titan und Terrain, die versuchten, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Terrain setzte seine Superkraft ein und bewarf Titan mit Ziegeln und riesigen Betonstücken, die er aus dem Gehwegpflaster gerissen hatte. Dann sah er uns vor dem Bau stehen und machte eine seltsame Geste mit der Hand.« Gene hielt die Hand mit der Handfläche nach außen, ballte sie dann plötzlich und zog sie dann ruckartig zu sich zurück. »Und schon krachte hinter uns der ganze verdammte Bau zusammen. Aber Titan flog blitzschnell heran, packte mich und meinen Kumpel und riss uns weg, damit wir nicht von den Trümmern getroffen wurden. Hatte nicht mal Zeit, mich zu bedanken, denn Terrain hatte die Gelegenheit benutzt und war geflohen, und Titan jagte hinter ihm her. Cool, nicht wahr?«
»Aber echt.«
»Hattet ihr auch ein paar Superhelden in deinem Land?«
»Ein paar.«
»Ich wünschte, ich wüsste, was aus ihnen geworden ist. Eine Menge Leute behaupten, dass alle ums Leben gekommen sind, aber ich glaube das nicht. Unmöglich, dass alle getötet wurden. Einige waren an diesem Tag gar nicht in Pittsburgh – was ist aus denen geworden? Warum haben sie sich seither nicht mehr blicken lassen?«
»Vielleicht haben sie sich zur Ruhe gesetzt.«
»Glaube ich nicht. Oder würdest du dich zur Ruhe setzen, wenn du ein Supermensch wärst? Ich sag dir, was meine Frau glaubt. Sie glaubt, dass es eigentlich nie Superhelden gegeben hat. Das sei alles ein Riesenschwindel gewesen, den die Regierung erfunden habe, um den Verbrechern Angst einzujagen. Sie sollten glauben, dass es noch stärkere Kräfte gibt als die Polizei. Aber ich sag dauernd zu ihr: ›Bridget, wenn es keine Superhelden gegeben hätte, wäre ich damals von tausend Tonnen Beton und Stahl plattgemacht worden, und die letzten sechzehn Jahre meines Lebens hätte ich mir nur eingebildet.‹« Er lachte.
»Wenn jemand das alles nur inszeniert hätte«, fragte Colin, »warum haben sie dann plötzlich aufgehört?«
Gene nickte. »Gute Frage. Sehr gute Frage.«
»Wissen Sie, was aus Paragon wurde?«
»Ach, der. Bridget nannte ihn immer den Gruseligen, weil er immer so düster war und irgendwie im Schatten blieb. Ich nehme an, dass er dasselbe Schicksal erlitt wie alle anderen, was immer das auch gewesen sein mag.«
»Ich frage nur, weil ich über ihn sehr oft nachdenke. Alle Supermenschen führten ja ein völlig normales Leben, wenn sie nicht gerade als Supermenschen kämpfen mussten, aber eben unter anderen Namen, die geheim waren und die niemand kennt. Wenn alle Supermenschen starben oder jedenfalls einfach verschwanden, was ist dann mit ihren Deckpersonen geschehen? Sie hatten doch Freunde, Familie, Nachbarn. Hätten sich diese Leute denn nicht fragen müssen: ›Wo ist eigentlich Onkel Pete? Hab ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen – genau genommen seit dem Tag, als die Supermenschen verschwanden.‹ Ich meine, das hätte doch irgendjemandem auffallen müssen!«
»Du bist ein ziemlich cleverer Junge, Colin.«
»Danke.«
»In der Schule läuft es bei dir gut?«
»Ach, ich bin nur Durchschnitt.«
»Hast du Geschwister?«
»Nein, ich bin ein Einzelkind.« Colin beschloss, das Gespräch wieder von sich abzulenken. »Und was ist mit Ihnen? Haben Sie Kinder?«
»Wir haben einen Sohn, der Medizin studiert. Wenn er seinen Abschluss gemacht hat, will er heiraten. Ein sehr nettes Mädchen. Ich muss sagen, ich bin wirklich stolz auf ihn. Ich hätte auch so was machen sollen, ich meine, einen Beruf ergreifen, in dem man Leuten helfen kann.«
»Mein Vater ist Rettungssanitäter.«
»Wirklich?« Gene steuerte den Wagen in eine Autobahnausfahrt. »Guter Beruf. Und was ist mit dir? Wirst du auch Sanitäter werden wie dein Vater?«
»Ich hoffe es.« Colin konnte nicht vermeiden, dass sich die Sorgen wieder meldeten – wo sich seine Eltern jetzt befinden mochten und ob er sie jemals wiedersehen würde.
Und vor ihm lag eine unmöglich zu lösende Aufgabe – eine wahrhaftige Mission Impossible.
Vor einer Woche war meine größte Sorge, wie ich meine Hausaufgaben so schnell wie möglich erledige oder wann ich wieder mit Kartoffelschälen dran bin.
Sein Mund war plötzlich wie ausgetrocknet; es fühlte sich an, als müsste er Sand schlucken.
Und jetzt bin ich mutterseelenallein in Wer-weiß-wo und meine Eltern und mein bester Freund werden als Geiseln gefangen gehalten. Vielleicht sind sie sogar schon tot?
»Hey«, sagte Gene, »alles okay bei dir, Colin?«
Colin wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ja, klar, alles okay. Das ist nur meine Allergie …«
»Mmm-hmm. Bist du sicher, dass du mir nicht erzählen willst, was eigentlich los ist?«
»Würde ich wirklich gerne, aber es ist … ziemlich kompliziert. Tut mir leid.«
»Braucht dir nicht leidzutun – ist okay. Wir sind dafür da, die Dinge für junge Menschen wie dich ein wenig leichter zu machen und nicht, um euch Steine in den Weg zu werfen. Du musst mir rein gar nichts erzählen, wenn du nicht willst.« Und ohne Pause redete Gene gleich weiter und wechselte das Thema. »Wir brauchen noch ungefähr dreißig Minuten bis zum Heim. Im Stadtzentrum ist der Verkehr absolut irre. Ist in den letzten Jahren immer schlimmer geworden.« Er bog rechts in ein Wohnviertel ein, wo er wieder einen verwirrenden Kurs durch die vielen Straßen steuerte.
Colin schaute zum Fenster hinaus. »Manche der Häuser sind einfach riesig!«
»Ja, man könnte das hier als ein teures Wohnviertel bezeichnen. Aber ich muss dir sagen, Colin, das Heim liegt nicht gerade im besten Viertel. Manchmal geht es dort sogar ziemlich rau zu. Ich werde den Wagen mehr als eine halbe Meile vom Heim entfernt parken müssen. Macht es dir was aus, den Rest zu Fuß zu gehen?«
»Nein. Danke für alles. Ich kann Ihnen leider nicht mal Geld …«
»Du schuldest mir nichts. Dazu sind wir ja da, wir wollen helfen. Wenn mein Junge in Schwierigkeiten geraten würde, wäre es auch für mich beruhigend zu wissen, dass jemand da ist, der ihm hilft.«
Schließlich lenkte Gene den Wagen in einen Parkplatz, der zu einem kleinen Einkaufszentrum gehörte, parkte ihn und schaltete den Motor aus. »Okay, Colin – hast du schon jemals eine Nacht in einem Asylheim verbracht?«
»Nein.«
»Dachte ich mir. Es gibt da ein paar Dinge, über die du Bescheid wissen solltest. Du bist ungefähr zwölf oder dreizehn, nicht wahr? Nun, die meisten Jungs dort sind um die fünfzehn, sechzehn und manche sind noch ein wenig älter. Sie können ziemlich rau werden. Ich begleite dich zum Heim und übergebe dich dort einem der Betreuer. Es wäre gut, wenn du dich an ihn halten würdest. Tu alles, was er sagt. Wenn dir die anderen Jungs Schwierigkeiten machen, wendest du dich an einen der Betreuer. Aber für den Fall, dass grade keiner da ist, musst du mir versprechen, dass du von den anderen Jungs nichts annimmst. Hast du das verstanden?«
Colin nickte stumm.
»Ich meine es ernst. Du darfst nichts essen, trinken oder rauchen, wenn das Zeug von den anderen Jungs kommt, egal was sie auch sagen. Die schlimmeren Jungs haben sich zu kleinen Banden von drei oder vier zusammengeschlossen. Sie werden versuchen, dich auf die Probe zu stellen. Wird am besten sein, wenn du so wenig wie möglich sagst. Vermeide Blickkontakt, wenn du kannst. Wenn sie dich provozieren oder beschimpfen, hörst du einfach nicht hin.«
»Okay«, sagte Colin. »Danke.«
»Gut, gehen wir.«