Kapitel 5

 

 

Die Mysteriumsparty lief ab wie jedes Jahr: Die Erwachsenen tranken mehr, als ihnen guttat, und begannen zu singen, und die jüngeren Partygäste lieferten sich heiße Kämpfe mit Brettspielen.

Nach ein paar Stunden hatten Colin und Danny genug. Ein kleiner Spaziergang schien ihnen interessanter, als Colins Onkel Norman zuzuhören, der die Gäste mit denselben alten Witzen unterhalten wollte, die er auch schon vor einem Jahr erzählt hatte.

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her, die Schultern hochgezogen, da es heftig regnete, bis Colin sicher war, dass sich niemand mehr in Hörweite befand.

»Also, erzähl endlich, wie du das gemacht hast, Dan!«

»Wie ich was gemacht hab?«

»Du weißt genau, wovon ich rede. Wie hast du dich so schnell bewegen können, um Susie zu retten?«

Danny zuckte die Schultern. »Reines Glück, nehme ich an.«

»Hatte mit Glück nichts zu tun.«

»Was hätte es sonst sein sollen?«

»Darüber mache ich mir schon den ganzen Tag lang Gedanken. Der Bus kam dermaßen schnell um die Ecke … Ich bin heute Nachmittag hingegangen, um mir die Stelle noch mal anzuschauen. Völlig unmöglich, dass ein normaler Mensch so schnell laufen kann.«

»Na, ich anscheinend schon.«

»Aber du bist eben kein normaler Mensch, stimmt’s, Dan? Du bist ein Supermensch.«

Danny lachte laut auf. »Du hast sie wohl nicht mehr alle!«

»Hast du ein Glück! Ich würde alles dafür geben, wenn ich ein Supermensch wäre!«

»Ich bin kein Supermensch!«

»Okay, okay«, winkte Colin ab. Doch nach ein paar Sekunden fuhr er fort: »Also – war es das erste Mal?«

»War was das erste Mal?«

»Verdammt, du weißt genau, was ich meine! Ist dir so was schon mal passiert?«

»Nein, natürlich nicht. Reiner Zufallstreffer.«

»Was sagten deine Eltern dazu?«

»Ach, du weißt doch, wie Eltern sind. Meine Mutter hat immer nur Nebensächliches gefragt – was Susie mitten auf der Straße zu suchen hatte, warum ich nach der Schule nicht sofort nach Hause gekommen bin … und so weiter.«

»Und dein Vater?«

»Der sagte nur: ›Gut gemacht!‹«

»Und das war alles? Du rettest einem Mädchen das Leben, und er sagt nur: ›Gut gemacht‹?«

»Was hätte er denn sonst noch sagen sollen?«

Colin überlegte sich die Antwort sorgfältig. »Er hätte dich dasselbe fragen können, was ich dich frage. Ob du ein Supermensch bist.«

Danny zögerte. »Okay. Er hat mich aber nicht gefragt.«

»Aber ich frage dich.«

»Ist mir klar.«

»Und?«

»Und ich versuche, dir seit Stunden zu erklären, dass ich kein Supermensch bin. Okay? Hör endlich auf damit.« Er ging davon. »Ich gehe nach Hause. Danke für die Einladung.«

Colin zögerte einen Augenblick, dann lief er ihm nach. »He, warte.«

Ohne sich umzudrehen oder langsamer zu gehen, fragte Danny über die Schulter. »Was denn noch?«

»Sag mir nur einfach die Wahrheit. Bitte. Ich schwöre, dass ich niemandem etwas erzählen werde! Aber ich muss es wissen. Wenn du es mir nicht erzählst, werde ich mir darüber für den Rest meines Lebens den Kopf zerbrechen.«

»Es gibt nichts zu erzählen.«

»Nichts, was du mir erzählen willst. Und dabei bin ich angeblich dein bester Freund!«

Danny blieb stehen und ließ die Schultern hängen.

»Schwörst du, dass du es niemandem erzählen wirst?«

»Ich schwöre es.«

»Vor allem nicht Brian, okay?«

»Ich schwöre es.«

Danny holte tief Luft und schaute weg. »Es fing vor ein paar Monaten an. Ich hörte irgendeinen Song im Radio, und plötzlich wurde der Song ganz langsam, als hätte jemand auf einem alten Plattenspieler die falsche Geschwindigkeit eingestellt. Dann, an einem Samstagmorgen, wollte ich meine Runde mit dem Rad um den Park drehen. Dafür brauche ich normalerweise eine Viertelstunde. An dem Tag schaffte ich es in weniger als fünf Minuten. Aber es kam mir nicht so vor, als hätte ich mich schneller bewegt als sonst, sondern eher als sei alles andere langsamer geworden. Irgendwas … irgendwas in mir verändert sich … macht mir richtig Angst, kann ich dir sagen. Als hätte ich keinerlei Kontrolle darüber. Ich meine, ich könnte jetzt zum Beispiel nach Hause laufen und dort ankommen, bevor du nur einmal blinzeln kannst. Oder es würde überhaupt nicht funktionieren.«

Die beiden Freunde starrten einander an.

»Also stimmt es doch«, sagte Colin langsam. »Du bist ein Supermensch.«

»Sieht so aus.« Danny grinste schüchtern. »Hätte ich dir wirklich nicht erzählen sollen.«

»Mann, hast du ein Glück! Weißt du, was ich an deiner Stelle tun würde? Ich würde mich für das Athletenteam anmelden. Würde jedes Mal den ersten Platz belegen! Das wäre doch großartig!«

Danny schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht.«

»Im Ernst«, sagte Colin. »Das solltest du tun. Du könntest der nächste …« Er unterbrach sich. »Wer ist denn zurzeit der schnellste Läufer?«

»Ich wäre lieber Fußballspieler.«

»Das könntest du auch noch werden. Du könntest dich sogar bei Manchester United bewerben – die würden dich in einer Sekunde nehmen!«

Danny grinste. »Oder ich könnte mich bei einem der wirklich guten Teams bewerben.«

»Also los, zeig mir was!«

»Vielleicht funktioniert es ja gar nicht.«

»Versuch es wenigstens.«

Danny blickte die Straße entlang. Niemand war in der Nähe. »Also, pass auf!« Er bückte sich, hob einen kleinen weißen Stein auf und gab ihn Colin. »Würdest du den Stein wiedererkennen?«

Colin betrachtete den Stein genau von allen Seiten. »Ich glaube schon.«

»Also – wirf ihn weg, so weit du kannst.«

»Wohin?«

»Die Straße entlang.«

»Okay.« Danny holte aus und schleuderte den Stein in die Dunkelheit. Er konnte nicht sehen, wo der Stein aufschlug, aber weil er auch nichts hörte, musste er wohl in einem der Gärten auf das Gras gefallen sein.

Er wandte sich wieder zu Danny um. »Na, was ist?«

Danny grinste, streckte ihm die Faust hin und öffnete sie. Der Stein lag auf seiner Handfläche.

»Wie …?«

»Hab ihn aufgefangen«, erklärte Danny.

»Aber du hast dich doch überhaupt nicht bewegt!«

»Doch – ich bin dem Stein nachgelaufen und hab ihn noch in der Luft erwischt.«

Colin lachte. »Wahnsinn!«

Danny runzelte die Stirn. »Jetzt ist die Kraft plötzlich wieder weg. Vermutlich werde ich irgendwann lernen, sie an- und abzuschalten, wie ich will. Aber solange das nicht funktioniert, muss ich vorsichtig sein – und du darfst auf keinen Fall irgendjemandem davon erzählen!«

»Werde ich auch nicht. Also wirst du wohl ein Supermensch werden. Mein Gott, wie ich mir wünsche, ich wäre auch einer! Wie fühlt es sich denn an?«

»Ziemlich unheimlich … Es ist, als würde ich schneller leben. Wenn ich schnell laufe, merke ich gar nicht, dass ich so schnell laufe. Es kommt mir eher so vor, als würde alles um mich herum langsamer, als ob die ganze Welt auf Zeitlupe umgeschaltet hätte. Und je mehr ich mich darauf konzentriere, desto langsamer kommt mir alles andere vor.«

»Willst du deinen Eltern nichts sagen?«

»Na ja … das ist das Seltsamste bei dieser ganzen Sache.« Danny zögerte. »Also gut, ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Das Seltsame ist, dass sie selbst es mir gesagt haben, in gewisser Weise jedenfalls. Als sie die Sache mit Susie erfuhren, erzählte Dad mir alles. Er sagte, ich würde es schließlich doch herausfinden. Er will mir beibringen, wie man die Kraft unter Kontrolle bringt. Er sagte, man muss sich darauf konzentrieren, es sei wie eine Art Meditation. Du musst dich völlig entspannen, alle anderen Gedanken ausschalten und nur noch an die Kraft denken. Das kann ich noch nicht, aber Dad sagt, dass man dazu eine ganze Weile braucht.«

»Woher weiß er das alles?«

»Schwörst du, es niemandem zu erzählen?«

»Ich schwöre.«

»Manchmal – aber nicht immer – wird die Kraft vererbt. Dad war auch mal ein Superheld.«

Colin blieb der Mund offen stehen. »Machst du jetzt Witze?«

»Nein.«

»War er … war er berühmt?«

»Ob du es glaubst oder nicht: Mein Vater war Quantum.«