Kapitel 6

 

 

Joseph stieg aus dem Helikopter und blickte sich um. Er trug eine Sonnenbrille, die ihm einer der Soldaten geliehen hatte, aber trotzdem schmerzte das Licht der untergehenden Sonne in seinen Augen.

Der Hubschrauber war in der Sohle eines kleinen Canyons gelandet, der kaum hundert Meter breit war. Auf einer Seite befand sich ein riesiges Stahltor in der Felswand.

»Wer sind Sie?«, fragte er die Frau. »Und wo sind wir?«

»Nennen Sie mich einfach Rachel. Wir sind in Kalifornien. Das hier ist eine verlassene Goldmine.«

»Wie lange war ich gefangen?«

»Zehn Jahre, fast genau auf den Tag. Ich muss unbedingt wissen … was ist mit Ihren Kräften?«

Er lächelte schwach. »Sind natürlich verschwunden. Oder glauben Sie wirklich, dass ich zehn Jahre lang eingesperrt geblieben wäre, wenn ich meine Kräfte noch gehabt hätte? Die Zellenwände bestanden schließlich nur aus Beton. Warum … warum haben Sie so lange gewartet?«

»Nachdem der Kampfpanzer zerstört wurde, fiel auch alles andere auseinander. Wir haben die ganze Zeit gebraucht, um alles wieder aufzubauen. Schließlich können wir nicht in aller Öffentlichkeit arbeiten. Außerdem wusste niemand, wo Sie waren.«

Sie gingen auf das Stahltor zu. Ein Torflügel schwang langsam und mit lautem Quietschen auf.

Ein junger Mann trat heraus und blieb vor ihnen stehen. »Joseph, wie ich annehme?«

Joseph nickte. »Wer sind Sie?«

»Das ist Victor Cross«, stellte ihn Rachel vor. »Der Mann, der Sie aufgespürt hat.«

Cross nickte. »Wir haben eine Unterkunft für Sie vorbereitet. Wird auf jeden Fall sehr viel angenehmer sein als Ihre Gefängniszelle.«

»Sie wissen also, wer ich bin?«

»Aber selbstverständlich. Ich weiß absolut alles über Sie.«

Joseph schwieg ein paar Sekunden lang, dann meinte er: »Mir ist klar, dass ich nicht mehr der Mann bin, der ich früher war, Mr Cross, und ich fürchte sehr, dass mir die lange Gefangenschaft stark geschadet hat. Ich kann mich nur noch schwer konzentrieren und lasse mich von den nebensächlichsten Dingen ablenken. Aber ich bin nicht völlig dumm. Also: Warum haben Sie so lange gewartet, bis Sie mich herausgeholt haben?«

Victor betrachtete ihn einen Augenblick lang nachdenklich. »Soll ich ganz aufrichtig sein?«

»Bitte. Seien Sie ganz aufrichtig.«

»Bis heute haben wir Sie nicht gebraucht.«

»Ah. Ich verstehe. Ich fühle mich jetzt … anders … sehe alles klarer. Haben die mit mir im Gefängnis irgendetwas gemacht? Mich unter Drogen gesetzt – um mich ruhigzustellen?«

»Höchstwahrscheinlich«, sagte Victor.

»Und was ist mit dem Jungen? Was passiert mit ihm?«

Victor überhörte die Fragen und rief nach zwei Wärtern. »Begleitet diesen Herrn ins Medizinlabor. Wir kommen gleich nach. Gebt ihm alles, was er haben will, ist das klar?«

Joseph lächelte. »Wie alt sind Sie, Cross?«

»Fast einundzwanzig.«

»Sie sind also zu jung, um zu uns gehört zu haben, nicht wahr? Sie waren kein Supermensch?«

»Nein. Ich war ja nur zehn Jahre alt, als Ragnarök mit seinem Panzer durch die Gegend fuhr.«

Joseph lächelte wieder und nickte.

Rachel und Victor blickten ihm nach, als er von den beiden Wärtern weggeführt wurde.

»Was hältst du von ihm?«, wollte Victor wissen.

Sie zuckte die Schultern. »Im Gefängnis haben sie ihn ganz ohne Zweifel unter Drogen gesetzt. Irgendeine Art von Scopolamin in einer sehr schwachen Dosis, um ihn ruhigzustellen und gefügig zu machen. Das Zeug wird wohl in ein paar Stunden völlig aus seinem System verschwunden sein.«

»Das sollte besser nicht passieren«, sagte Victor. »Wir wollen ihn nämlich auch hübsch ruhig und gefügig halten. Sorge dafür, dass er in dem Zustand bleibt, verstanden?«

»Alles klar.«

Sie folgte Victor in den Minenschacht. »Die Operation im Gefängnis war ein voller Erfolg.«

»Offensichtlich.«

»Ich schreibe einen vollständigen Bericht für dich.«

Ohne sie anzublicken, sagte Victor: »Wir haben Joseph und ihr wurdet nicht erwischt. Was gäbe es denn darüber noch zu berichten?«

»Wir haben den Wärter weiterleben lassen, aber es wird noch ein paar Stunden dauern, bis er wieder zu sich kommt.«

Victor nickte nur.

Rachel folgte ihm die Metalltreppe hinauf. »Willst du denn nicht wissen, wer die anderen Gefangenen waren?«

»Eigentlich nicht.«

»Es war großartig, wie du das Gefängnis lokalisiert hast.«

Victor blieb vor seinem Büro stehen und wandte sich zu ihr um. »Rachel, ich muss noch arbeiten. Wenn du ein Schwätzchen halten willst, musst du dir jemand anderen suchen.«

Er betrat sein Büro, schloss die Tür vor ihrer Nase und setzte sich an den Schreibtisch. Nachdem er den Computer hochgefahren hatte, tippte er eine Nummer in sein Mobiltelefon.

Der Anruf wurde sofort entgegengenommen. Wieder war die elektronisch verzerrte Stimme am anderen Ende.

»Also – was gibt’s?«

»Wir haben ihn«, antwortete Victor.

»Gut. Sitzt du an deinem eigenen Computer?«

Victor bejahte.

»Suche nach einer Datei namens Protege. Das Passwort lautet Apotheose. In der Datei findest du alles, was du wissen musst. Hast du das alles verstanden?«

»Habe ich.« Victor legte auf und begann zu tippen.

Er fand die Datei, gab das Passwort ein und las die Dokumente durch.

Dann nahm er sein Telefon zur Hand und tippte eine neue Nummer ein. Nach ein paar Sekunden meldete sich eine Männerstimme. »Hallo?«

Victor warf einen Blick auf den Bildschirm und sagte: »Eisbrecher.«

Der Gesprächspartner gab ein paar Sekunden lang keine Antwort, dann sagte er: »Sagen Sie das noch mal.«

»Eisbrecher.«

Wieder trat eine kurze Pause ein. Der Mann seufzte. Dann sagte er: »Damokles.«

Victor las den Gegencode vom Bildschirm ab. »Ultimatum.«

Die Männerstimme sagte: »Ich … ich verstehe.« Nach kurzem Zögern gab er Victor seinen Aufenthaltsort durch und fragte: »Wann?«

»Innerhalb einer Stunde. Halten Sie sich bereit. Es handelt sich um eine Extraktion der Codestufe eins. Sie wissen, was das bedeutet?«

»Ja. Es bedeutet, dass Sie die Jungen haben wollen, koste es, was es wolle. Alles andere ist zweitrangig. Auf andere Menschenleben ist keine Rücksicht zu nehmen. Das gilt auch für mein eigenes.«