Kapitel 13

 

 

Wäre das nicht super, wenn ich jetzt entdecken würde, dass ich fliegen kann?, dachte Colin.

Seit einer Stunde hielt er sich unter einem Transporter auf dem obersten Deck eines der Flughafen-Parkhäuser versteckt. Falls sich Davison an die Flughafenpolizei gewandt hatte, um Colin mithilfe der Überwachungskameras zu suchen, würde er ihn hier wahrscheinlich nicht entdecken können.

Sein Gehör – sein einziger Vorteil gegenüber Davison – funktionierte jetzt wieder völlig durchschnittlich. Doch davor hatte er noch Facades Stimme gehört, der offenbar mit Colins Eltern und Danny in das Privatflugzeug eingestiegen war. Facade hatte ihnen erklärt, Colin würde mit einem späteren Flug nachkommen.

Das gab Colin ein wenig Hoffnung, denn solange Facade glaubte, dass Colin wieder eingefangen werden könne, waren die anderen noch in Sicherheit.

Allerdings war er keineswegs überzeugt, dass er selbst in Sicherheit war. Schließlich befand er sich mutterseelenallein in einem Land, über das er kaum etwas wusste, hatte kein Geld, nichts zu essen und nur die Kleider, die er auf dem Leib trug. Außerdem hatte er absolut keine Ahnung, wie er nach New York gelangen sollte, um Max Dalton oder Solomon Cord zu finden.

Er wusste nicht einmal, wie weit New York von hier entfernt war.

Vielleicht hätte ich in Geografie doch ab und zu besser aufpassen sollen, dachte er reumütig.

Da Max Dalton seine Wohnung in Manhattan fast nie verließ, würde Colin ihn wohl leicht finden können – aber es würde fast unmöglich sein, zu Dalton vorzudringen. Der Mann war schließlich Boss eines riesigen Unternehmens und außerdem weltberühmt. Nach einigem Nachdenken kam Colin zu dem Schluss, dass er es zuerst doch besser mit Solomon Cord versuchen sollte.

Ganz kurz spielte er mit dem Gedanken, sein Versteck zu verlassen und sich Davison oder dem anderen Soldaten freiwillig zu stellen, in der Hoffnung, dass sich vielleicht später eine bessere Chance ergeben würde zu fliehen.

Aber diese Idee verwarf er sofort wieder: Wenn sie ihn jetzt wieder zu fassen bekamen, würden sie ihn so scharf bewachen, dass er keine Chance zur Flucht mehr bekäme.

Das ist die einzige Chance, die ich bekomme, dachte er. Ich muss das Beste daraus machen.

Eins war ihm klar: Er musste so schnell wie möglich aus Florida fliehen und dafür brauchte er Geld. Er musste sich also erst einmal genug Geld beschaffen, um das Ticket für einen Bus oder Zug nach New York kaufen zu können. Über die Suche nach Cord würde er sich erst den Kopf zerbrechen, wenn er dort war.

Doch dann wurde ihm klar, dass er nicht einfach in einen Busterminal oder Bahnhof spazieren konnte. Facades Männer würden ganz bestimmt nach ihm Ausschau halten.

Außerdem wusste er noch nicht, wie er unbeobachtet aus dem Flughafengelände kommen sollte. Vielleicht konnte er sich einfach unter einem der Trucks festbinden? Er untersuchte die Unterseite des Lastwagens genauer, unter dem er lag, und gab dann die Idee wieder auf. Das Fahrzeug müsste sehr niedrig gebaut sein, sodass man ihn nicht sehen konnte, aber dann würde jedes Schlagloch in der Straße für Colin zu einer sehr schmerzhaften Angelegenheit werden.

Er rollte sich unter dem Truck hervor, stand auf und machte sich auf die Suche nach einem Auto mit New Yorker Kennzeichen. Er fand nur ein einziges, eine Fließhecklimousine, deren Karosserie allerdings aus mehr Rost als Metall zu bestehen schien. Und der Kofferraum war auch nicht groß genug; er würde sich darin nicht verstecken können, selbst wenn er eine Möglichkeit gefunden hätte, die Heckklappe zu öffnen. Außerdem konnte es durchaus sein, dass der Fahrer gar nicht nach New York fahren wollte.

Zum hundertsten Mal überlegte Colin, ob er nicht doch zur Polizei gehen sollte. Das schien nur logisch, aber sein Vater hatte ihn gewarnt, dass die Organisation, die ihn gekidnappt hatte, ihre Spione wohl überall platziert hatte.

Er ging zur Liftanlage des Parkhauses, wo zwei kleine Gruppen warteten. So wie sie vor dem Lift standen, folgerte Colin, dass sie nicht zusammengehörten. Er stellte sich zwischen die beiden Gruppen und hoffte, dass jede Gruppe vermutete, er gehöre zur anderen.

Als der Lift endlich kam, schlüpfte auch Colin mit hinein und bemühte sich, so zu tun, als gehöre er dazu.

Er begleitete die beiden Familien aus dem Lift, folgte ihnen durch die langen Flure bis in die Abflughalle und zu den Check-in-Schaltern. Jetzt war er wieder da, wo seine Flucht angefangen hatte.

Weder von Davison noch von den anderen Soldaten war etwas zu sehen; trotzdem fühlte sich Colin nicht wohl.

Er schloss sich einer anderen Gruppe an, hauptsächlich Erwachsene, die auf den Hauptausgang zuhielten, und schaffte es, sich mitten unter sie zu mischen. Gelächter und Schulterklopfen ringsum, und viele der Leute sahen sich ziemlich ähnlich, vor allem die älteren Männer. Es handelte sich wohl um ein Familientreffen.

Aber dieses Mal wurde jemand auf ihn aufmerksam. Ein Mädchen, ungefähr in seinem Alter, ging neben ihm her. Sie trug verwaschene schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift »Hau ab!«.

»Hü«, sagte sie. »Du bist bestimmt David. Und ich bin Marie.«

»Hi«, antwortete Colin und bemühte sich, so neutral wie möglich zu klingen.

»Du bist doch Steves Sohn, stimmt’s? Hat er nicht gesagt, dass du nicht mitkommen wolltest?«

»Hab’s mir anders überlegt«, murmelte Colin, während er hektisch überlegte, wie lange er damit wohl durchkommen würde.

»Als ich dich das letzte Mal gesehen hab, warst du ungefähr fünf.« Sie schaute ihn prüfend an. »Eigentlich siehst du überhaupt nicht aus wie auf den Fotos.«

»Na, du doch auch nicht, oder?«, gab er zurück.

Sie lachte. »Oh Gott, nein, brauchst du mir nicht erst zu sagen! Für die Fotos musste ich immer ein Kleid anziehen und vorher zum Friseur gehen!«

Colin spürte, dass jetzt irgendeine Antwort von ihm erwartet wurde. »Und wie alt bist du jetzt?«

»Dreizehn. He, übrigens, wo ist denn dein Zeug?«

Inzwischen waren sie draußen angekommen. Die Erwachsenen waren genau vor den großen Glastüren stehen geblieben, immer noch scherzten und lachten sie und achteten nicht auf die anderen Reisenden, die sich an ihnen vorbeidrängen mussten.

»Mein Zeug?«, fragte Colin.

»Na ja, deine Tasche und so.«

»Steve hat sie.« Das war’s, dachte er. Jetzt fliege ich auf.

Marie sagte: »Nein, er hat nur eine.«

»Oh verdammt. Ich hab sie in der Halle vergessen«, stöhnte Colin und rannte in die Halle zurück. Wieder ganz am Anfang, dachte er.

Doch plötzlich tauchte das Mädchen neben ihm auf. »Hey!«

Colin wandte sich zu ihr um. »Hör mal, Marie … Ich bin nicht … David. Kenne ihn überhaupt nicht. Und Steve auch nicht, überhaupt keinen von deinen Leuten.«

Marie wich einen Schritt zurück, schaute ihn aber belustigt an. »Und warum hast du dann so getan, als ob?«

»Das würdest du mir doch nicht glauben, wenn ich es dir erzählte. In Kurzfassung: Ich muss so schnell und so weit weg von hier, wie es nur geht.«

»Du steckst wohl ganz schön tief in der Patsche, wie?«

Er nickte. »Tiefer geht’s nicht.«

»Und du bist auch kein Amerikaner, richtig? Hör ich an deinem Akzent.«

»Nein.«

»Na gut – wo willst du denn hin?«

»Ich muss jemanden finden, einen alten Freund von meinem Vater. Weiß aber nicht, wie ich das anstellen soll.«

»Aber er lebt in Florida, oder?«

»Das glaube ich nicht. Mein Vater sagt, als er zum letzten Mal von ihm gehört hat, wohnte sein Freund in New York.«

Marie schüttelte den Kopf. »Dann hast du noch eine lange Reise vor dir.«

»Ich weiß nicht mal genau, wo wir jetzt sind.«

»Jacksonville«, erklärte Marie, und als sie seinen verständnislosen Gesichtsausdruck sah, fügte sie hinzu: »Liegt im Nordosten von Florida. Aber wie kommt es, dass du nicht mal weißt, wo du bist?«

Colin holte tief Luft. »Hör mal, ich mache das wirklich nicht gerne, aber ich brauche deine Hilfe. Kannst du mir helfen? Ich hab kein Geld und keine Kleider. Überhaupt nichts.«

»Was ist denn mit dir passiert?«

»Ob du’s glaubst oder nicht: Ich wurde gekidnappt. Ich konnte ihnen entkommen, aber wahrscheinlich sind sie immer noch irgendwo hier und suchen nach mir.«

»Du wirst lachen: Ich glaub’s dir tatsächlich nicht. Kein einziges Wort.«

Colin musste unwillkürlich grinsen. »Würde ich auch nicht, wenn ich du wäre. Leider stimmt es aber. Schau mal.« Er griff in beide Hosentaschen und stülpte sie nach außen. »Siehst du? Kein einziger Cent. Überhaupt kein Geld. Das hier ist ein Kassenzettel vom Laden an der Ecke in meiner Stadt. Hier steht sogar die Adresse und alles drauf. Du siehst, wir haben ganz anderes Geld als ihr.«

»Gut, nehmen wir mal an, dass es stimmt. Was hast du jetzt vor?«

»Ich weiß nicht, womit ich anfangen soll. Sag mal, wenn ich nur den Namen einer Person kenne, wie würde ich dann herausfinden können, wo diese Person wohnt?«

»Bist du blöd oder was? Du hängst dich ans Telefon und rufst die Auskunft an. Oder du gehst zur Polizei.«

»Das würde ich lieber nicht tun.«

»Nun sag bloß, du glaubst, die Polizei steckt auch mit drin?«

»Wahrscheinlich nicht, aber das Risiko will ich nicht eingehen.«

Marie betrachtete ihn eine Weile aufmerksam und mit gerunzelter Stirn, dann sagte sie zögernd: »Okay … ich denke, ich vertraue dir.« Sie griff in ihre Tasche und zog einen Zehn-Dollar-Schein heraus. »Das ist alles, was ich habe. Vielleicht hilft es dir weiter.«

»Danke. Ich zahle es dir zurück.«

Sie grinste. »Ach ja? Und wie?«

Colin lachte. »Du könntest mir doch deine Adresse geben, dann schicke ich dir das Geld, sobald die ganze Sache vorbei ist.«

»Ich bin doch nicht blöd und gebe irgendeinem Typen meine Adresse, den ich grad erst kennengelernt habe!« Sie fummelte in ihrer Tasche herum, zog einen Kuli heraus und schrieb eine Telefonnummer auf die Rückseite des Kassenzettels. »Ruf mich an.«

»Danke. Ich bin dir wirklich sehr dankbar.« Er blickte sich um. »Und nun sollte ich wirklich verschwinden.«

Sie gingen wieder nach draußen, wo Maries Familie bereits ungeduldig wartete.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Marie leise.

»Colin Wagner.«

»Na, dann viel Glück, Colin. Hoffentlich kommst du heil aus der Sache raus.«

»Das hoffe ich auch. Und nochmals danke!«

Er schaute ihr nach, bis sie wieder bei ihrer Familie war, dann drehte er sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung.

Allerdings hatte er immer noch keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte.