Kapitel 23
Der Kombiwagen der Porbles stand immer noch auf dem Parkplatz; Viola Buddleys roter Flitzer stand direkt daneben. »Das ist ja merkwürdig«, sagte Peter. »Ich frage mich, warum Sieglinde noch hier ist. Ich hätte gedacht, daß sie es nicht erwarten kann, nach Hause zu eilen, um vor der Heimkehr ihres Wikingers noch schnell ein paar Heringe kleinzuhacken.«
»Aber es scheint ihr gutzugehen«, sagte Winifred. »Ich kann sie sehen, sie sitzt an meinem Schreibtisch und trinkt Tee. Jedenfalls nehme ich an, daß es Tee ist. Meine Güte, ist das etwa Viola? Und wer ist die grauhaarige Dame da drüben? Soll ich als erste ins Haus gehen, Peter?«
»Ja, warum nicht? Sopwith, können Sie durch das Fenster etwas erkennen?«
»Nein, ich scheine dummerweise nur meine Lesebrille bei mir zu haben.« Sopwith tastete vergeblich seine diversen Taschen ab. »Wie ärgerlich.«
»Dann können wir genausogut den Damen Gesellschaft leisten. Gehen Sie ganz langsam, und halten Sie den Kopf gesenkt, damit man Ihr Gesicht nicht sofort erkennt.«
Winifred war jetzt im Empfangsraum, begrüßte Sieglinde und machte sich mit der grauhaarigen Dame bekannt. Viola stand, wie Peter durchs Fenster sah, im Hintergrund und blickte selbstgefällig drein. Sie hatte sich tatsächlich umgezogen und trug jetzt ein rüschenverziertes enganliegendes Kleid in dem gleichen Grünton wie ein nagelneuer Fünfzig-Dollar-Schein. Das Zusammentreffen mit ihrem ehemaligen Bekannten konnte man angemessen mit dem Wort elektrisierend beschreiben. Sobald sie das Haus betreten hatten und Sopwith nahe genug war, um Viola zu erkennen, reagierte er, als wäre er mit nackten Füßen auf ein Starkstromkabel getreten.
»Toots!«
»Ach, grüß dich, Malcolm. Was machst du denn hier?« Viola war genauso vom Donner gerührt wie ihr Gegenüber, versuchte dies jedoch mit allen Mitteln zu überspielen. »Hallo, Professor Shandy. Mrs. Svenson kennen Sie ja wahrscheinlich. Und das hier ist meine Vermieterin, Genevieve. Ich habe sie mitgebracht, damit sie uns ein bißchen aushilft.«
»Wie nett von Ihnen«, sagte Peter.
Er sah sich die Vermieterin genau an. Sie trug einen frisch gebügelten schwarzen Rock und ein smaragdgrünes T-Shirt, das sie falsch herum unter einem dunkelroten Pullover angezogen hatte. Sie besaß eine verdächtig üppige Haarpracht, und ihr Gesicht war auffälliger zurechtgemacht, als man es bei einer älteren Dame, deren Füße in Gummistiefeln steckten, erwarten würde. Als sie Anstalten machte aufzustehen, drückte Peter sie unsanft zurück auf den Stuhl, zog ihr die graue Perücke über die Augen, stemmte sein Knie auf ihre gut gepolsterte Brust und packte ihre wild um sich schlagenden Arme mit festem Griff.
»Nicht schlecht, Fanshaw. Halten Sie still, oder ich muß andere Saiten aufziehen.«
»Loslassen! Lassen Sie mich sofort los, verdammt noch mal!«
Fanshaw fluchte und kratzte, Viola sprang in Peters Rücken und versuchte, ihn fortzuziehen. Sopwith stand händeringend da und stieß Protestrufe aus. Winifred und Sieglinde schritten zur Tat.
Peter konnte nicht sehen, was die beiden mit Viola machten, doch es war zweifellos effektiv. Als er Fanshaw endlich mit einer kräftigen Ohrfeige ruhiggestellt hatte, hatten die beiden Damen die junge Frau bereits auf den Boden verfrachtet und mit dem Seil, das die sparsame Winifred von Violas zwei vorangegangenen Fesselaktionen aufbewahrt hatte, wie eine Weihnachtsgans verschnürt. In bewundernswerter Teamarbeit verschnürten sie danach auch Fanshaw. Als Debenham eintraf, war bereits alles überstanden, und die Gefangenen konnten nur noch schreien.
Was sie auch aus Leibeskräften taten. Als sie endlich begriffen, daß sie ihr Spiel verloren hatten, waren sie nur allzu bereit, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben. Da beide gleichzeitig brüllten, konnte man kein Wort mehr verstehen. Obwohl die Anwesenden sich nach Kräften bemühten, das saubere Pärchen solange zum Schweigen zu bringen, daß man eine Verständigung mit ihnen versuchen konnte, hatte der Lärmpegel unerträgliche Ausmaße erreicht, als der Streifenwagen der Polizei von Clavaton, in dem auch Thorkjeld Svenson saß, endlich vorfuhr.
Peter lief zur Tür. »Präsident, kommen Sie schnell! Sagen Sie den Polizisten, sie sollen sich beeilen, es gibt Arbeit für sie.«
»Menschenskind, Shandy! Schon wieder Fanshaw?«
»Allerdings. Und auch sein Boss, wenn ich mich nicht irre.«
»Da laus mich doch der Affe!« Svenson war im Nu aus dem Auto gesprungen und ins Haus gerannt. Doch zunächst hatte er nur Augen für eine einzige Person.
»Weib!«
»Gatte!«
Die Svensons ließen sich ausnahmsweise sogar zu einer ziemlich keuschen Umarmung hinreißen, doch sofort danach ging Sieglinde wieder zur Tagesordnung über. Diesmal brauchte sie nicht einmal laut zu werden. Sobald das Pärchen die beiden Polizisten und die ehrfurchtsgebietende Gestalt des Präsidenten erblickt hatte, herrschte nämlich Totenstille.
»Gut, daß Sie hier sind. Wie Sie sehen, gibt es genügend zu tun. Die Person zu meiner Rechten ist übrigens ein Mann, lassen Sie sich durch den Rock nicht täuschen. Er hat viele Namen und eine Menge auf dem Kerbholz. Zu meiner Linken sehen Sie die angebliche Assistentin unserer hochgeschätzten Kollegin Professor Binks. Sie nennt sich zwar Viola Buddley, hört aber auch auf den Namen Toots.«
»Einen Moment noch«, wandte sich Winifred an die beiden Polizisten. »Um Sie nicht noch mehr zu verwirren, sollten wir uns vielleicht kurz vorstellen. Ich bin Professor Binks, und die Dame drüben am Schreibtisch ist Mrs. Svenson, was Sie sicher bereits erraten haben. Die beiden Herren hier sind Präsident Svenson und Professor Shandy, dies hier ist mein Vermögensverwalter Mr. Sopwith, und dieser Gentleman ist mein lieber Freund und langjähriger Anwalt Mr. Debenham. Jetzt können Sie fortfahren, Sieglinde.«
»Vielen Dank, Winifred. Sicher hat mein Gatte, der sehr wohl in der Lage ist, sich klar auszudrücken, wenn er nur will, Sie bereits über die Geschehnisse der vergangenen Tage informiert. Ich möchte daher nicht ausschweifen. Als er mich heute morgen aus Briscoe anrief, hat er unter anderem gesagt, daß sich möglicherweise niemand um die
Forschungsstation kümmern würde, darum bin ich hergekommen. Zuerst war ich allein, doch dann erschien Miss Buddley in einem reichlich unziemlichen Aufzug, woraufhin ich sie wieder nach Hause geschickt habe, um sich etwas Passenderes anzuziehen, was sie leider immer noch nicht getan hat.«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß es das einzige Kleid ist, das ich besitze«, protestierte Viola.
»Das haben Sie, und ich habe Ihren Versuch auch zur Kenntnis genommen, selbst wenn ich das Resultat für beklagenswert und Ihre Beweggründe für wenig glaubhaft halte. Noch weniger glaubhaft erschien mir allerdings die Person, die Miss Buddley mitgebracht und als ihre Vermieterin vorgestellt hat. Mir war klar, daß die beiden erwarteten, daß ich sie allein lassen würde, denn sie planten, sich an unserer verehrten Winifred zu rächen, sobald sie zurückkehrte.«
Einer der Polizisten hatte begonnen, sich Notizen zu machen. Er schaute von seinem Notizbuch hoch. »Woher wußten Sie das, Mrs. Svenson?«
»Die beiden haben sich unterhalten, während ich Kaffee kochte. Wahrscheinlich haben sie geglaubt, ich könnte sie nicht hören, was jedoch völlig absurd war. Sie haben sich zu viel auf ihre eigene Schlauheit eingebildet und alle anderen unterschätzt. Das war ihr großer Fehler. Sie nahmen an, Mr. Debenham würde Winifred zu-rückbringen, wie er es immer tut, wenn sie in Clavaton ist, und glaubten, daß sie ihn leicht überwältigen könnten. Was natürlich ebenfalls ein Fehler war. Jeder, der Augen im Kopf hat, sieht ihm an, daß er ein überaus kluger Mann ist und den Mut eines Löwen besitzt. Nicht wahr, Winifred?«
»Das habe ich auch immer schon gedacht, Sieglinde.«
Grundgütiger, dachte Peter, jetzt ist sie tatsächlich rot geworden.
»Also«, fuhr Sieglinde fort, »habe ich mich taub gestellt und bin geblieben. Mein Gatte wußte, daß ich zur Forschungsstation fahren würde. Ich nahm an, daß er sofort nach seiner Ankunft in Clavaton bei uns zu Hause anrufen würde. Falls ich nicht dort sein sollte, würde er sicher auf dem schnellsten Weg herkommen, was er ja auch getan hat, und dann hätte ich ihm die beiden überlassen. Es tut dir bestimmt leid, liebster Gatte, daß du den Kampf verpaßt hast, doch laß dir versichern, daß diese beiden Gauner sowieso keine angemessenen Gegner für dich sind. Zudem wäre es unziemlich gewesen, mit einer Frau zu kämpfen, die unmoralische Neigungen und einen schlechten Geschmack hat. Was die zweite Person betrifft, wurde mir sehr schnell klar, daß es sich nur um einen verkleideten Mann handeln konnte. Außerdem habe ich sofort gesehen, daß Sie seinen Anzug tragen, Peter, der Sie übrigens nicht sonderlich gut kleidet. Thorkjeld, hast du daran gedacht, Peters Kleidungsstücke vom Schleppkahn mitzubringen?«
»Das habe ich, Weib. Haben die beiden geredet?«
»Ununterbrochen. Leider hat man nichts verstehen können, weil sie nicht geredet, sondern gebrüllt haben, und zwar gleichzeitig und mit den unflätigsten Schimpfwörtern. Vielleicht können die beiden Polizisten sie jetzt festnehmen und abführen.«
»Den Gefallen tun wir Ihnen gern«, sagte der Mann, bei dem es sich nach den Streifen auf seinem Ärmel zu urteilen um einen Sergeant handelte. »Welcher Straftatbestand?«
»Gute Frage. Welcher Straftatbestand, Peter?«
»Tja, mal überlegen. Der Mann mit den Gummistiefeln wurde am Samstag von Polizeichef Ottermole aus Balaclava Junction als Mr. Fanshaw festgenommen. Unter diesem Namen hatte er sich bei seinem ersten Besuch in der Forschungsstation vorgestellt. Zu diesem Zeitpunkt gab er noch vor, bei der Meadowsweet Construction Company angestellt zu sein und nach einem Mann namens Emmerick zu suchen, der in der vorhergehenden Nacht ermordet worden war, wie Sie sich bestimmt erinnern werden. In Balaclava Junction wird er demnach als entflohener Häftling gesucht. Als Präsident Svenson und ich ihn auf dem Schleppkahn fanden, wo er gemeinsam mit einem Kumpan Professor Binks gefangen hielt, nannte er sich Annie Brennan. Ihre Wasserschutzpolizei hat ihn wegen Entführung festgenommen, doch er ist leider ein zweites Mal entwischt. Haben Sie den anderen Kerl übrigens sicher hinter Schloß und Riegel?«
»O ja. Er behauptet, dieser Bursche hier heiße Dewey.«
»Dann hätten wir also bisher drei Namen und drei Tatbestände. Ich vermute, Sie könnten ihn auch wegen Hochstapelei belangen, oder wie auch immer man das nennen mag, obwohl mir dies fast überflüssig erscheint. Wie wäre es mit versuchtem Mord? Man kann sehr wohl davon ausgehen, daß er gehofft hat, wir würden ertrinken, als er das Boot vom Ufer losmachte. Was zweifellos auch der Fall gewesen wäre, wenn Professor Svenson sich nicht als so ein ausgezeichneter Steuermann erwiesen hätte.«
»Dazu kommt noch Vorbereitung einer Straftat«, fügte Sopwith hinzu. »Ich muß gestehen, daß ich eine Weile gebraucht habe, um seine Verkleidung zu durchschauen, aber damals, als er in einer Angelegenheit an mich herangetreten ist, die ich - äh - momentan lieber nicht näher erläutern möchte, ohne den Rat meines Anwaltes einzuholen, trug er einen Bart. Ich kann ihn inzwischen jedoch eindeutig als jenen George Dewey identifizieren, der damals be-hauptet hat, einer der Vizepräsidenten von Lackovites zu sein. Die - äh - Dame in seiner Begleitung war ebenfalls an der Vorbereitung der Straftat beteiligt.«
»Wenn ich mich nicht irre, war die - eh - Dame sogar die treibende Kraft«, sagte Peter. »Mr. Sopwith, würden Sie uns freundlicherweise mitteilen, ob Sie an dem Samstagmorgen nach dem Gespräch, in dem Miss Binks Sie beauftragt hat, gewisse Aktien abzustoßen und die Gewinne in eine - eh - andere Gesellschaft zu investieren, von Miss Buddley angehalten wurden, die Pläne Ihrer Kundin unter allen Umständen zu vereiteln?«
»Ähem - äh - dazu möchte ich mich lieber nicht äußern.«
»Das reicht schon. Haben Sie Miss Buddley daraufhin mit dem Wagen ein Stück mitgenommen, als Sie sie allein an der Straße stehen sahen, und dann an einem Baum gefesselt allein zurückgelassen?«
»Sie hat mich dazu gezwungen!«
»Kann ich mir lebhaft vorstellen. Hat sie damit beabsichtigt, sich selbst glaubhaft als unschuldiges Opfer darzustellen, um nicht als Komplizin der Verbrecher entlarvt zu werden, die in der vorhergehenden Nacht in einen Mordfall verwickelt wurden?«
»Ich - äh - habe keine Ahnung.«
»Haben Sie sie damals schon als die Frau erkannt, die Sie vor einiger Zeit in Boston unter dem Namen Toots kennengelernt hatten?«
»Ich hatte meine Brille nicht dabei.«
»In Clavaton haben Sie uns heute nachmittag mitgeteilt, daß Sie von einem gewissen Mr. Emory kontaktiert wurden, nachdem Sie Miss Buddley, die Sie nur als Toots kannten, kennengelernt hatten. Sie hielten ihn für einen Geschäftspartner von Mr. Dewey, richtig?«
»Ich hatte gute Gründe für diese Annahme.«
»Wußten Sie, daß der Herr, der sich Ihnen als Emory vorstellte, sich hier in der Station als Emory Emmerick ausgab und behauptete, Ingenieur der Meadowsweet Construction Company zu sein?«
»Nein!«
»Sie haben ihn also nicht aufgrund der Mitteilungen in der Presse als den Mann identifiziert, der Freitag nacht ermordet wurde?«
»Natürlich nicht, er hat doch mir gegenüber einen anderen Namen benutzt!«
Peter ging nicht näher auf dieses Problem ein, denn Sopwith sah wieder aus, als könne er jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Um noch einmal auf Miss Buddley zurückzukommen: Als Sie sich Samstagmorgen hier mit Miss Binks und den übrigen Personen getroffen haben, brachten Sie einen gewissen Mr. Tangent mit, den Sie uns als den für das Binks-Vermögen zuständigen Buchhalter vorstellten. War diese Angabe richtig?«
»Absolut. Er arbeitet seit vielen Jahren in unserer Bank.«
»War er an der vorgetäuschten Entführung von Miss Buddley beteiligt?«
»Nein, Tangent hat mit alldem nicht das geringste zu tun. Folgendes ist passiert« - Sopwith wollte zwar nicht reden, konnte aber anscheinend nicht anders -, »kurz nachdem wir mit meinem Wagen losgefahren waren, kam Miss Buddley aus dem Wald gelaufen und hielt uns an. Sie hat behauptet, sie müsse dringend nach Whitting-ton, und bat mich, sie mitzunehmen. Da Tangent in Whittington wohnt, habe ich mich bereit erklärt, sie mitzunehmen, und Tangent zuerst zu Hause abgesetzt.«
»Weil Sie glaubten, daß Miss Buddley mit Ihnen allein sein wollte, um etwas mit Ihnen zu besprechen, das Ihr gemeinsames Unterfangen betraf?«
»Sie hat mir zu verstehen gegeben, daß ihre Absichten eher - äh - persönlicher Natur waren.«
»Aber Sie wußten doch, was sie wirklich von Ihnen wollte«, sagte der Sergeant.
Das war zuviel für Sopwith. »Ich weigere mich, dieses Verhör weiter über mich ergehen zu lassen, bevor ich nicht mit meinem Anwalt gesprochen habe. Debenham, Sie sind doch Anwalt, können Sie mir nicht beistehen und dieser Nötigung ein Ende bereiten?«
»Ich sehe nicht ganz, worin diese angebliche Nötigung bestehen soll, Mr. Sopwith. Außerdem kann ich Sie sowieso nicht vertreten, da ich bereits die Interessen von Miss Binks vertrete.«
»Aber ich kooperiere doch in ihrem Interesse. Ich habe schließlich freiwillig Informationen geliefert.«
»Das ist immerhin Ihre Bürgerpflicht, Mr. Sopwith. Ich bin sicher, Miss Binks hat nichts dagegen, wenn Sie ihr Telefon benutzen, um Ihren eigenen Anwalt anzurufen.«
»Natürlich nicht«, sagte Winifred. »Telefonieren Sie ruhig, Mr. Sopwith. Je schneller, desto besser, würde ich sagen.«
»Äh - ähem - vielen Dank.« Der äußerst geknickt wirkende Vermögensverwalter schlich zu dem Stuhl, den Sieglinde inzwischen für ihn frei gemacht hatte.
»Und jetzt«, fuhr Winifred energisch fort, »zurück zu den anderen beiden. Wie wäre es, wenn Sie uns endlich Ihren richtigen Namen verraten würden, Mr. Fanshaw? Oder soll ich lieber Miss Atakuku sagen?«
»Halt bloß den Mund, Chuck«, fauchte Viola. »Du sagst denen gar nichts.«
Peter lächelte. »Dann sind Sie also der Kopf der Bande, Miss Buddley. Der Gedanke ist mir bereits bei Ihrer ersten Entführung gekommen, ganz sicher war ich mir dann, als wir heute morgen Ihrer Schwester begegnet sind, die Sie als Sekretärin bei Golden Apples eingeschleust hatten, um alle Nachrichten, die Ihnen gefährlich werden konnten, von den Compotes fernzuhalten. Eine ziemlich hysterische junge Dame, finden Sie nicht? Ich nehme an, deshalb haben Sie sie auch von Fanshaw hypnotisieren lassen.«
Er nahm die Goldmünze und ließ sie an der Goldkette unmittelbar über ihren Köpfen hin und her pendeln. »Sehen Sie mal, Fanshaw, ich habe Ihren kleinen Glücksbringer gefunden. Schauen Sie genau hin, Fanshaw. Schauen Sie genau hin, Miss Buddley. Konzentrieren Sie sich, Fanshaw. Konzentrieren Sie sich, Miss Buddley. Sehen Sie genau hin. Hin und her, hin und her. Sie werden müde, Fanshaw. Entspannen Sie sich, Miss Buddley. Ihre Augenlider werden ganz schwer. Sie wollen nur noch schlafen. Schließen Sie die Augen, schlafen Sie. Sie schlafen tief und fest.«
Grundgütiger! Es funktionierte tatsächlich! Die Augen der beiden Gefangenen fielen zu, sie atmeten tief und regelmäßig. Ob sie ihnen nur etwas vormachten? Peter pendelte vorsichtshalber weiter und redete mit leiser Stimme auf sie ein. Nein, es klappte wirklich. Sieglinde und der Präsident beobachteten seine Vorstellung andächtig, Winifred und Debenham ebenfalls. Auch die beiden Polizisten von Clavaton waren fasziniert, obwohl der Gesichtsausdruck des einen Beamten ein klein wenig Ähnlichkeit mit dem von Ottermole und Dorkin am Samstagmorgen hatte. Peter hielt es für das beste, die nächste Phase anzugehen.
»Können Sie mich hören, Fanshaw?«
»Ja, ich höre Sie.« Die Stimme klang schläfrig, entspannt.
»Wie heißen Sie wirklich?«
»Chuck Smith.«
»Sind Sie mit einem gewissen Fred Smith verwandt, der bei Golden Apples arbeitet?«
»Nein. Hier wimmelt es nur so von Smiths. Ich hasse es, Chuck Smith zu sein. Ich möchte lieber Francis Fanshaw sein. Oder George Dewey, ich möchte lieber-«
»Das genügt. Wir verstehen, was Sie meinen.« Peter hatte keine Lust, die ganze Nacht zuzuhören, wie dieses menschliche Chamäleon sein Rollenrepertoire abspulte. »Erzählen Sie uns, was Freitag nacht passiert ist, Fanshaw. Welche Rolle haben Sie dabei gespielt?«
»Ich bin mit dem Bus von Clavaton nach Hoddersville gefahren. Dann habe ich ein Taxi nach Balaclava Junction genommen und bin zu der Stelle gegangen, wo Emory seinen Mietwagen geparkt hatte. Der Schlüssel lag unter dem Sitz. Es war spät. Ich bin irgendwohin aufs Land gefahren und habe die restliche Nacht im Wagen verbracht.«
»Sonst nichts? Sie hatten mit den Ereignissen bei der Eulenzählung nichts zu tun?« »Nein, gar nichts.«
»Aber Sie wußten, was dort passieren würde?«
»Nein. Als Viola mich engagiert hat, sagte sie nur, wir würden die Erbin kidnappen und sie versteckt halten, bis sie sich bereit erklärt hätte, ihre Golden-Apples-Aktien zu verkaufen, aber ich habe ihr gesagt, nur ohne Gewalt, ich bin ein Schwindler und Hochstapler, aber kein Schläger. In Ordnung, hat sie gesagt, dann denk dir einen schönen Schwindel aus. Und das habe ich auch gemacht.«
»Geschah dies alles im Auftrag von Lackovites?«
»Ja. Es war ein wunderbarer Schwindel, er wäre die Krönung meiner Laufbahn geworden. Aber Viola hat alles verdorben, indem sie Gewalt angewendet hat. Ich hätte es wissen müssen.«
»Dann hatten Sie Samstagmorgen, als Sie hier aufgetaucht sind, tatsächlich keine Ahnung, daß Emmerick ermordet worden war?«
»Sie hätte gar keine Gewalt anzuwenden brauchen. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.«
»Tut mir leid für Sie. Sie sagten eben, Viola habe Sie engagiert. Dann war sie der Boss?«
»Sie hatte die richtigen Beziehungen.« »Wieviel hat sie Ihnen gezahlt?«
»Es ist unfein, über Geld zu reden. Sie hat von zweihunderttausend Dollar gesprochen, aber vielleicht war es ihr damit auch nicht ernst. Ich traue ihr nicht mehr.«
»Wer war der angebliche Anwalt, der auf dem Polizeirevier aufgekreuzt ist?«
»Violas Bruder Herman. Früher war er auf Postbetrug spezialisiert, aber dann hat er eine Allergie gegen die Briefmarkengummierung bekommen, deshalb setzt sie ihn jetzt für Gelegenheitsarbeiten ein.«
»Warum haben Sie Samstag morgen nach Emmerick gesucht?«
»Das gehörte zu unserem Plan. Sopwith traf sich mit der Erbin. Ich hatte ihn bearbeitet, er tat, was ich wollte. Emmerick hatte hier eine Wanze installiert, ich hatte vor mitzuhören, um sicherzugehen, daß sie die Golden-Apples-Aktien auch wirklich verkauft und statt dessen ihr Geld in mehr Lackovites-Aktien investiert.«
»Dann wären Sie aber enttäuscht gewesen.«
»War ich auch. Viola hat mich angerufen.«
»Wo waren Sie zu diesem Zeitpunkt?«
»Auf dem Schleppkahn. Ich bin hingefahren, nachdem ich die beiden dämlichen Bullen außer Gefecht gesetzt habe. Sie sagte, mein Plan sei gescheitert. Jetzt würde Keech die Erbin entführen und herbringen.«
»Wer ist Keech?«
»Ihr Freund. Sie haben ihn auf dem Boot kennengelernt. Viola steht auf hirnlose Muskelprotze.«
»War er an Emmericks Ermordung beteiligt?«
»Ja. Das hat er mir auf dem Boot erzählt, kurz bevor Sie gekommen sind. Er hat die Eule simuliert. Sie bestand nur aus einem Bündel Federn, das an einer langen Angelleine hing, die er zwischen die Bäume gespannt hatte. Er hat sich zwischen den Büschen versteckt und Ihnen aufgelauert. Emmerick hatte Sachen an, wie sie die Erbin normalerweise trägt, Hose und Damenpullover. Er sollte sie in das Netz locken und bewußtlos schlagen, sobald die Kracher losgingen und Sie in Panik gerieten. Viola wollte sie dann hochziehen. Sie hatten eine schwarze Plastikrutsche gebastelt, die Keech festhalten sollte, während Viola mit der Erbin herunterrutschte. Dann wollten sie sie mit dem Tandem wegschaffen. Emory sollte sich fallen lassen und so tun, als sei er sie, und dabei einen verstauchten Knöchel oder so was vortäuschen, damit die anderen mehr Zeit für die Flucht hatten. Aber dann ist er verse-hentlich selbst in das Netz geraten.«
»Und Viola saß allein oben im Baum. Dann hat sie ihn erstochen.«
»Sie mußte ihn mundtot machen, bevor er losschreien konnte. Viola wird immer handgreiflich, wenn ihr jemand die Tour vermasselt.«
»Verstehe«, sagte Peter. »Viola, können Sie mich hören?« »Ich höre Sie.«
»Haben Sie Emmerick erstochen?« »Ja. Es hat richtig Spaß gemacht.« »Was haben Sie dann getan?«
»Ihn fallen gelassen, um Sie abzulenken. Die Plastikrutsche heruntergerutscht und dann vom Baum weggezogen. Mit Keech auf dem Fahrrad weggefahren.«
»Hat Fanshaw Ihnen und Keech dabei geholfen, Miss Binks am Sonntag zu entführen ?«
»Nein, er war auf dem Boot.«
»Wer hat Knapweed Calthrop niedergeschlagen, Sie oder Keech?«
»Das war ich. Mit einem Stück Feuerholz. Er war ein Spion.« »Für wen?«
»Für Golden Apples. Meine Schwester Elvira hat es mir gesagt. Die Compotes hatten Angst, daß Binks sie - hey, Moment mal! Was läuft hier eigentlich? Chuck, wach auf! Er hat deine Goldmünze!«
»Höh? Um Gottes willen!« Fanshaw öffnete die Augen und starrte mit ungläubiger Miene die beiden Polizisten an. »Nehmen Sie den Mann sofort fest! Er hat meine Münze gestohlen! Und meinen Anzug!«
»Das hat er keineswegs«, sagte der Polizist, der die Notizen machte. »Ich würde sagen, er hat sich die Sachen lediglich geborgt. Würden Sie das nicht auch sagen, Officer Musgrave?«
»Selbstverständlich, Officer Yerkes. So, Leute, Zeit fürs Abendessen, ihr habt alle einen anstrengenden Tag gehabt, also warum verhaften wir nicht einfach Miss Buddley und Mr. Smith, damit wir alle endlich unsere Ruhe haben? Wollen Sie den beiden ihre Rechte vorlesen, Officer Yerkes?«
»Gern. Dann können Sie sie festnehmen. Mal sehen, bei ihr war es Mord, Überfall, Entführung und Vorbereitung einer Straftat. Bei ihm Entführung, Vorbereitung einer Straftat, Flucht aus Polizeigewahrsam, Behinderung der Polizei bei der Ausübung ih-rer Pflicht durch rechtswidrigen Einsatz von Hypnose. Sind damit alle einverstanden?«
»Klingt gut«, sagte Peter. »Was meinen Sie, Winifred?«
»Sehr schön, würde ich sagen. Was meinen Sie, Präsident?«
»Urgh.«
»Ich schließe mich der Meinung meines Gatten an«, sagte Sieglinde.
Sopwith wurde nicht gefragt und hatte auch keine Lust, sich zu äußern. Mr. Debenham stellte eine technische Frage.
»Bitte verzeihen Sie mir meine juristische Haarspalterei, aber da wir uns in Lumpkinton befinden, wäre die Festnahme da nicht Sache der hiesigen Polizei?«
»Ach, die Jungs haben bestimmt nichts dagegen«, sagte Officer Musgrave. »Wir haben hier so eine Art inoffizielles Abkommen in Balaclava County, da die Gefangenen sowieso alle zur Vernehmung zum Clavaton County Courthouse gebracht werden. Wollen Sie Mr. Smith seinen Anzug zurückgeben, Professor Shandy, oder sollen wir ihn in Frauenkleidern mitnehmen?«
»Ich würde mich gern umziehen, wenn Sie so nett wären und mir meine Sachen aus dem Wagen holen würden. Ich plädiere allerdings trotzdem dafür, Mr. Smith und Miss Buddley so mitzunehmen, wie sie sind, einschließlich der Fesseln. Außerdem würde ich vorschlagen, Smith auf keinen Fall seine Münze auszuhändigen.«
»Keine Angst, die konfiszieren wir sowieso als Beweisstück. Hätten Sie vielleicht zufällig einen Briefumschlag für uns, Professor Binks? Okay, dann lese ich Ihnen jetzt Ihre Rechte vor.«
Was er dann auch sehr eindrucksvoll tat, wie alle Anwesenden zugeben mußten. Da die Füße der Gefangenen zusammengebunden waren, trug Präsident Svenson Smith zum Streifenwagen, während sich die beiden Officer um die geifernde, sich windende Viola kümmerten. Smith machte keinerlei Versuch, sich zu wehren. Peter hatte den Verdacht, daß er vorhatte, sich durch ein Geständnis aus der Affäre zu ziehen, ähnlich wie Sopwith, der inzwischen von seinem Rechtsbeistand abgeholt und fortgefahren worden war, um dem Staatsanwalt vorgeführt zu werden, und danach entweder eingelocht oder entlassen wurde, je nachdem.
Der Schläger Keech hatte bereits seine Beteiligung an der gewaltsamen Entführung von Winifred Binks gestanden, wie sie erfuhren, und dabei Viola und Chuck Smith nach Strich und Faden belastet, außerdem hatte er eine genaue Augenzeugenbeschreibung abgegeben, was Violas Mordversuch an Kenneth Compote betraf denn genau um den handelte es sich bei dem jungen Mann, den sie nur unter dem Namen Knapweed Calthrop kannten.
»Deshalb waren die Compotes heute morgen auch so nervös«, meinte Winifred. Sie hatte keine Lust, ihre Freunde so schnell wieder gehen zu lassen, daher blieben Shandy, die Svensons und Debenham noch ein bißchen und hielten mit Winifred eine kleine Siegesfeier ab, auch wenn es sie noch so sehr heimwärts zog. »Ich denke, wir sollten es ihnen nicht übelnehmen, daß sie versucht haben herauszufinden, was ich mit Golden Apples vorhatte. Der arme Knapweed, der er wahrscheinlich immer für mich bleiben wird, hat wirklich keinen sonderlich guten Spion abgegeben. Mir fällt ein Stein vom Herzen, daß er wieder bei Bewußtsein ist. Morgen schwinge ich mich aufs Rad und bringe ihm ein Sträußchen Labkraut. Die Geschichte mit Viola nimmt ihn möglicherweise arg mit. Ich habe nie genau herausfinden können, ob er nur von ihr fasziniert war oder Angst vor ihr hatte, aber in Herzensangelegenheiten kenne ich mich nun einmal nicht gut aus.«
»Warum starrt Mr. Debenham Sie dann an wie ein Lamm auf der Schlachtbank?« verlangte Sieglinde zu wissen. »Sie sind doch wohl nicht etwa verheiratet, Mr. Debenham?«
»O nein. Ich -« Debenhams ehrliches Gesicht überzog sich mit einer warmen Röte. »Ich bin seit vielen Jahren verwitwet. Doch es trifft tatsächlich zu, daß ich im Laufe der Zeit eine zunehmende Achtung vor dem Mut, den hohen Prinzipien und dem unerschütterlichen Humor meiner Klientin empfunden habe.«
»Drucksen Sie doch nicht herum. Sie lieben sie.«
»Ich - ich nehme an - ich - ja, ich muß gestehen, daß ich sie zutiefst verehre.«
»Oh, Mr. Debenham.« Winifred war ebenfalls errötet. »Aber warum haben Sie denn nie etwas gesagt?«
»Wie konnte ich? Sie, die Alleinerbin eines riesigen Vermögens, und ich, ein verknöcherter alter Anwalt, der lediglich über ein bescheidenes Einkommen verfügt, das er sich durch jahrelange unermüdliche Arbeit im Dienst seiner Klienten erworben hat. Ich hätte es nie über mich gebracht, etwas zu sagen, wissen Sie. Es wäre ein Verstoß gegen mein Berufsethos gewesen.«
»Pah! Berufsethos!« rief Sieglinde. »Was ist so ehrenhaft daran, die arme Winifred ganz allein und schutzlos in der Wildnis leben zu lassen, wo sie Spionen und Ganoven ausgesetzt ist, nur weil ein Rechtsverdreher Angst hat, man könnte ihm unterstellen, auf ihr Vermögen aus zu sein? Seien Sie doch vernünftig, Mr. Debenham. Helfen Sie lieber Winifred dabei, das Geld ihres Großvaters für möglichst viele gute Zwecke einzusetzen. Dann könnten Sie beide glücklich und zufrieden von Ihrem bescheidenen Auskommen leben, und alles wäre gut.«
»Also - also - Gott sei mein Zeuge, dann werde ich es versuchen.« Mit energisch vorgeschobenem Kinn und festem Blick wandte sich Debenham an seine Hauptklientin. »Miss Binks - Winifred - wollen Sie - können Sie - fühlen Sie sich in der Lage, mich Alariczu nennen?«
Peter nickte Sieglinde zu. Sieglinde nickte Thorkjeld zu. Hier gab es nichts mehr zu tun, sie konnten sich also getrost auf den Heimweg machen.
Nachwort
Retiarius< nannte man in Rom die Sorte Gladiatoren, die für die tödlichen Kämpfe mit dem >rete< - einem Netz - und mit Harpune oder Dreizack und einem Dolch ausgestattet waren. Einen solchen wähnt der gebildete Professor Peter Shandy im nächtlichen Wald von Balaclava County im ländlichen Massachusetts unterwegs, als der angebliche Ingenieur Emory Emmerick, der weniger als eine Minute vorher an ihm vorbeigestürzt war, plötzlich in ein Netz verschnürt und erstochen vor ihm liegt.
Wie man sieht, hat Charlotte MacLeod auch diesmal (»An Owl Too Many«, 1991) keine Mühe, ihre Balaclava-Saga farbig fortzuspinnen. Zum einen erfahren wir nach dem Murmeltier-Tag (»Stille Teiche gründen tief«, DuMont's Kriminal-Bibliothek Band 1046) von einem weiteren ländlich-sittlichen Brauch an der renommierten Landwirtschaftlichen Hochschule von Balaclava, der alljährlichen Eulenzählung.
Flächendeckend schwärmen quantitativ wie qualitativ sorgfältigst ausgesuchte Teams durch die Wälder, um möglichst exakt nach Art und Zahl alle Stnges der einhei-mischen Wälder zu erfassen. Und ausgerechnet beim hochkarätigsten, kleinen aber feinen Zählteam um Präsident Svenson ereignet sich der mysteriöse tödliche Zwischenfall.
Zugleich wird die im vorangehenden Roman (»Wenn der Wetterhahn kräht«, DuMont's Kriminal-Bibliothek Band 1063) begonnene Geschichte um Miss Winifred Binks fortgesetzt, die nicht zufällig Mitglied dieser Elitetruppe ist. Sie hatte vor einigen Monaten Professor Shandy und seinem jungen Reporterfreund Cronkite Swope das Leben gerettet, als diese sich plötzlich gezwungen sahen, in den Wäldern von Massachusetts wortwörtlich unterzutauchen. Miss Binks, die, teils auf Baumhäusern, teils in Erdwohnungen, von den Früchten und Wurzeln des Waldes lebte, entpuppte sich als niemand Geringeres als die Enkelin und Alleinerbin eines gewaltigen Vermögens, das ihr exzentrischer Großvater hinterlassen hatte, an das sie aber nicht herankam, weil in einem letzten Anfall extremer Exzentrik besagter Großvater sich hatte tieffrieren lassen, um seiner Auferstehung in einer wissenschaftlich fortgeschritteneren Zeit entgegenzuschlummern. Ein allzu gewissen-hafter Richter hatte ihn daraufhin für potentiell lebend erklärt und den Anspruch der Enkelin kostenpflichtig abgewiesen. Seitdem lebte sie völlig mittellos auf dem riesigen Grundstück der Familie ihre Eich- und Erdhörnchen-Existenz, bis ein kleines Erdbeben einen Stromausfall herbeiführte und Großvater vor der Zeit auftaute. Als man das entdeckte, war er übrigens ein wenig grünlich geworden, worauf in unserer Fortsetzung gelegentlich mit aller Diskretion angespielt wird.
Inzwischen ist sie nicht nur unangefochtene Erbin des Binks-Vermögens, sondern auch bereits Mitglied des Lehrkörpers der Landwirtschaftlichen Hochschule von Balaclava: Sie hat die Binks-Ländereien dem College als Außenstation gestiftet, wobei Gebäude und Personal von ihrem Vermögen bezahlt werden. Eine Fernsehstation, die ausschließlich Bildungsprogramme zu Umweltfragen senden soll, wird bald errichtet, doch die neuernannte Professorin, die die heimische Fauna und Flora wie niemand sonst aus eigener Anschauung kennt, lebt bereits dort draußen mit einer Sekretärin und einem Doktoranden als Assistenten.
Daß Peter Shandy, der als Zufallsdetektiv begann (»Schlaf in himmlischer Ruh'«, DuMont's Kriminal-Bibliothek Band 1001) und in der Zwischenzeit der Sherlock Holmes von Balaclava County geworden ist (außer den schon Genannten ».. .freu dich des Lebens«, »Über Stock und Runenstein«, »Der Kater läßt das Mausen nicht«, Du Mont's Kriminal-Bibliothek Bände 1007, 1019, 1031), einen Fall aufzuklären versucht, über den er wortwörtlich gestolpert ist, versteht sich von selbst, zumal dies unter den Augen des hünenhaften Präsidenten geschah. Die - wie die Auflagenziffern zeigen - zahlreichen Fans von Charlotte MacLeod werden es begrüßen, daß sie in diesem Roman wieder eine angemessene Rolle für den Wikingersproß bereithält, dessen Großvater ein Walfänger und dessen Großmutter ein Mörderwal gewesen sein soll und der - wohl großmütterlicherseits beeinflußt - gern in Nullwortsätzen kommuniziert.
Galt der Angriff des >retiarius< vielleicht gar nicht dem gräßlichen Emory Emmerick, der sich taktlos, aber erfolgreich in dieses Team gedrängt hatte, obwohl er offensichtlich eine Eule nicht von einem Ufo unterscheiden konnte? Wäre Miss Winifred Binks nicht das geeignetere Objekt einer - dann wohl gräßlich fehlgeschlagenen - Entführung? Da Professor Binks bei ihrem raschen und großen Einsatz für das College noch gar nicht dazu gekommen ist, ihr bzw. ihres Großvaters Geld zu zählen, war der von der Presse hervorgerufene Eindruck, sie habe ihr Vermögen dem College gestiftet, vielleicht falsch, und bei ihr privat ist doch noch einiges zu holen.
Für diese Annahme sprechen jedenfalls die sich auf der einsamen Außenstation geradezu überstürzenden Ereignisse. Es stellt sich nicht nur heraus, daß der - wenn auch ermordete, so dennoch gräßliche - Emmerick eine falsche Identität hatte, sondern die tätlichen Angriffe häufen sich, bei denen die Sekretärin Viola Buddley regelmäßig an Bäume gefesselt wird. Vielleicht trägt ihr T-Shirt die Schuld daran, auf dem in großen Lettern über ihrem üppigen Busen prangt: »Haben Sie heute schon einen Baum umarmt?«
Als Detektiv hat Peter Shandy die Methode, in jeder gegebenen Situation alle Optionen blitzschnell lückenlos durchzuspielen, so absurd sie auch sein mögen. >Jeder ist verdächtig< ist die generelle Devise im Detektivroman, und erst als Professor Winifred Binks tatsächlich entführt ist, verengt sich der Verdacht, und es bleibt nur noch die Frage, ob es sich um eine allgemeine oder eine gezielte Erpressung handelt.
Der - nicht zuletzt durch ihr jahrelanges Überlebenstraining in den Wäldern - reaktionsschnellen und blitzgescheiten Winifred gelingt es, in ihr in Gegenwart der Kidnapper gegebenes telefonisches Lebenszeichen eine Botschaft für Professor Shandy und seinen Präsidenten einzuschmuggeln - eine literarische, versteht sich, eine Anspielung auf populäre amerikanische Kinderbuchgestalten, die, von beiden richtig dekodiert, zu ihrer Befreiung führt.
Daß die extrem aktionistisch gerät, versteht sich von selbst. Schließlich lesen wir einen Roman von Charlotte MacLeod, und die im Text selbst als Eideshelfer herbeizitierten Vorbilder sind die Thriller-Autoren Childers, Buchan und Sax Rohmer sowie der Charlie-Chan-Erfinder Earl Derr Biggers. So läßt sie mittels Dammbruch einen erfundenen Nebenfluß des oberen Connecticut River zum reißenden Strom werden, auf dem nur noch der Wikinger-Walfänger-Killerwal-Sproß Svenson sich zu behaupten vermag, indem er nach stürmischer Nachtfahrt sein Boot praktisch dort festmacht, wo das Geheimnis verborgen ist - in der Nähe einer der Firmen, deren Aktien sich neben vielen anderen in Winifred Binks' Portefeuille befinden.
Das geplante Wirtschaftsverbrechen oder, angenehmer ausgedrückt, die >kreative Transaktion^ die von Anfang an geplant war und die vom Aktionismus nur verdeckt wurde, läßt sogar Winifred Binks' Anwalt und ihren Vermögensverwalter verdächtig erscheinen, wie übrigens auch ihre Partner bei der Firma »Golden Apples« durch ihr Verhalten auf Winifred wie Peter höchst verdächtig wirken. Doch diesen Verdacht mag der Leser des amerikanischen Originals nicht zu teilen, hat Charlotte MacLeod
dem Gegner der »Golden Apples« doch den sprechenden Namen »Lackovites« ge-geben. Man kann es sowohl als >Mangel an Vitaminen< als gleichzeitig auch als >Mangel an Vitalstoffen< übersetzen - und beide Firmen konkurrieren miteinander auf dem Gebiet der biodynamischen, holistischen Vollwertnahrung. Indem Charlotte MacLeod das Skurrile mit dem Aktuellen, das Aktionistische des Thrillers mit der Wirklichkeit der Feindlichen Übernahmen aus dem täglichen Wirtschaftsteil verbindet, setzt sie ihre ebenso spannende wie zwerchfellerschütternde Saga aus dem heutigen Balaclava Junction, Massachusetts, USA überzeugend fort.
Volker Neuhaus