Kapitel 11

 

Auf Lollys Hof wuselten die Schweine um Kitty, Kieran und Aaron herum, jedes darauf versessen, am lautesten zu quieken, doch ein eindeutiger Sieger ließ sich nicht ausmachen. Unentschieden blieb auch, ob sie ihre Stimmen im Protest dagegen erhoben, am Spieß gebraten zu werden, oder ob alle miteinander darum bettelten, als Kandidat für diese Ehre ausersehen zu werden. Von denen, die die Wahl treffen sollten, war objektives Herangehen gefordert. Andere Fähigkeiten als nur Stimmvolumen und leidenschaftliches Anpreisen von Vorzügen wollten berücksichtigt werden, um zu entscheiden, wer aus dem Chor hervorgehoben und die Hauptrolle erhalten sollte. Eine leichte Aufgabe war das nicht.

Aaron hatte sich, wie man sah, als Schweinezüchter von beträchtlichem Talent erwiesen. (Kitty zog es vor zu bezweifeln, dass Gleiches auch von den noch zu beweisenden schriftstellerischen Fähigkeiten ihrer lebenslangen Freundin Lolly zu sagen war.) Alle Schweine waren richtig fett, und jedes schien in exzellentem Gesundheitszustand zu sein, was sich besonders in seiner Lungenkraft und der Fähigkeit zeigte, zu randalieren, wild umherzurennen und einander zu treten, während Aaron und Kieran und Kitty zwischen ihnen umherstaksten.

Obwohl bis zum großen Fest noch reichlich Zeit blieb, schien es ratsam, die Auswahl jetzt vorzunehmen, denn das auserkorene Schwein sollte von den gemästeten Exemplaren abgesondert werden, die schon in den nächsten Tagen dem Metzger zu überantworten waren.

Kieran hatte bereits einen Pferch neben den Schuppen auf der Burg gezimmert, um das dort als Dauergast weilende Borstenvieh daran zu hindern, auch den Trog des auserwählten Schweins leer zu fressen. Das durfte nicht der Magersucht anheimfallen, denn damit wäre es unwürdig, am Spieß gebraten zu werden. Auch wollte man weiteren Verwüstungen auf dem Burggelände vorbeugen. Man hatte nämlich beschlossen, den Rüsselring des ansässigen Tiers nicht zu ersetzen; sollte doch der von ihm angerichtete, sichtbare Schaden Seiner Lordschaft als Erbe zufallen. Es wäre außerdem unfair gewesen, dem einen Schwein seine Wühltätigkeit nicht zu erschweren, wohl aber dem anderen. Schon schlimm genug, das erwählte Schwein zu opfern, während sein Artgenosse verschont blieb. Höchst unfair war auch, dass eines von ihnen nur in seinem Pferch herumschnüffeln durfte, während dem anderen für seine zerstörerischen Streifzüge die ganze Umgebung offenstand. Diesen bescheidenen Versuch, die beträchtlich schiefhängende Waage der Gerechtigkeit ins Gleichgewicht zu bringen, hatten beide, Kitty und Kieran, gutgeheißen. Es lag ihnen daran, auf der Burg Gerechtigkeit walten zu lassen, solange sie dort ihr Amt als Burgwarte versahen.

Aaron klatschte mal auf diesen, mal auf jenen Schinken, eigentlich weniger, um zu zeigen, dass er hier das Sagen hatte, sondern mehr um zu prüfen, ob das so bedachte Tier noch lauter quieken konnte, als bisher bewiesen. Lolly konnte bei dem Auswahlverfahren nicht mitmachen, steckte sie doch, wie sie behauptete, mitten in der Formulierung einer Metapher. Kitty, als Schriftstellerinnen-Schwester, müsste das verstehen können. Und Kitty verstand es. Nur zu gut kannte sie die Neigung eines Schriftstellers, sich selbst zu dramatisieren, sich in sich selbst zu versenken und sich selbst zu bemitleiden.

Da der allgemeine Geräuschpegel eine Unterhaltung unmöglich machte, wies Aaron mit ausgestreckter Hand auf ein Schwein seiner Wahl, Kieran auf ein anderes und Kitty sogar auf ein drittes. Jedes der Schweine reagierte auf seine Art und trabte zum Rand der Herde. Nachdem man sich eine Weile mit bloßem Gestikulieren beholfen hatte, wobei Fingerzeigen, Kopfschütteln, Handwedeln, Nicken zum Einsatz kamen und die Verwirrung nur größer wurde, einigte man sich darauf, drei Schweine in die engere Wahl zu ziehen. Aaron trieb sie teils grob, teils besänftigend in einen kleineren Verschlag ein gutes Stück entfernt von dem Zwölfton-Choral, den ihre zurückgewiesenen Brüder kräftig gen Himmel schickten.

Es war nicht einfach gewesen, Kitty und Kieran für die gegenwärtige Aufgabe zu gewinnen. Die ganze Woche hindurch hatten sie zwei Probleme beschäftigt: Eins davon wurde gelöst, das andere nicht. Bei dem ersten ging es um das Schwein. Sollte man das schlachten, das sich bereits in ihrem Besitz befand, oder sollte lieber eins aus Lollys und Aarons Herde dran glauben? Kieran gab dem Schwein den Vorzug, das er seit langem kannte, und das umso mehr, weil es seinen Rüsselring verloren hatte und die Landschaft ringsum umgrub. (Man hätte einen neuen Ring durch den Rüssel ziehen oder einen ordentlichen Schweinepferch bauen können, doch Kitty hatte beide Vorschläge abgelehnt. Sie würden ohnehin bald hinter sich lassen, was immer das Schwein an Schaden noch anrichten würde. Ein Zaun um Kittys Gemüsebeete war das einzige Zugeständnis, zu dem sie sich bereitfand. Das übrige Terrain aber stand offen für Verwüstungen aller Art, ganz nach des Schweins Belieben. Ihre Argumentation entsprang dem bisher ungelösten Problem über die Zukunft der Burg. Kitty tendierte dazu, sie in die Luft zu sprengen und nicht in die blutbefleckten Hände des George Noel Gordon Lord Shaftoe fallen zu lassen.)

Nach langem Hin und Her war man zu einer Einigung gelangt, soweit es das Schwein betraf. Während des Wortwechsels hatte jeder von ihnen instinktiv die Klugheit besessen, sich gelassen zu geben, wenn der andere aufbrauste, oder aufzubrausen, wenn der andere gelassen tat. Beide beharrten auf Ihrer Logik, die jedoch jeweils genügend Schwachstellen aufwies, so dass schließlich ein Kompromiss möglich wurde.

Ihren ersten Einwand hatte Kitty mit einiger Verve verfochten, sie beschuldigte Kieran der Undankbarkeit: hätte es nicht das Schwein gegeben und hätte es nicht in Kittys Garten neben ihrem von der See verschlungenen Heim das Skelett von Declan Tovey ausgebuddelt, dann wären sie und ihr Mann niemals in das verrückte Durcheinander geraten, das dazu führte, die uralte Feindschaft zwischen den McClouds und den Sweeneys zu begraben – was wiederum den Ausbruch eines lange aufgestauten Verlangens mit sich brachte: Sie wollte ihn, er wollte sie, und schließlich kam es zur Hochzeit.

Küchenarbeiten hatten ihren Meinungsstreit begleitet. Kieran würfelte selbstangebaute grüne Paprikaschoten, und Kitty schnitt Zwiebeln für den »Falschen Hasen«, den Kieran anstelle von Tarragona-Hühnchen in Chili und Tomatensoße bereiten sollte. Das Rezept für den Hackbraten hatte sie aus der Bronx mitgebracht. Ihre Auseinandersetzung ging beim Hantieren mit scharfgeschliffenen Messern vor sich.

Zu dem »Falschen Hasen« gehörten auf Kittys Wunsch auch Kartoffelbrei und Erbsen, ebenfalls aus eigenem Anbau. Die Äpfel für Apple Brown Betty, einen Apfelkuchen – den sie sich auch gewünscht hatte –, stammten aus ihrem Obstgarten, der zu ihrer Überraschung prächtig gedieh und ihnen eine reichliche Ernte beschert hatte. Jeden Apfel hatte Kitty sorgsam in Augenschein genommen und mit eigener Hand gepflückt.

Dass seine Frau für ein amerikanisches Dinner plädierte, verstand Kieran durchaus. Von Zeit zu Zeit hatte Kitty nostalgische Anwandlungen, die zum Teil ein Tribut an ihre Tage in Fordham waren, wo durch das Heimweh nach den Klippen und Felsen von Kerry ihr mitunter heftiger Nationalstolz genährt, wenn nicht gar geboren wurde. Vor ihrem Aufenthalt in Amerika hatte sie sich wenig oder gar nicht um die Geschichte ihrer Heimat gekümmert, abgesehen von dem flüchtig aufflackernden Gefühl, ein Opfer zu sein, und das auch nur, wenn sie eines Vorwands bedurfte für einen unspezifischen Zorn, der unter der Oberfläche ihrer Psyche lauerte. Während ihrer Kindheit hatte sie diesen Zorn gegen ihre Brüder oder ihren Vater richten können, gegen ihren unansehnlichen Körper, ein qualmendes Feuer im Kamin, ihr Haar, ihre Lehrer oder die Jungen allgemein. Richtig ausleben aber konnte sie ihren Zorn an Kieran Sweeney, der Ausgeburt des Teufels, dieser Geißel der Menschheit – und der völligen Verkörperung all dessen, wie sie sich einen Mann erträumte.

Wie so viele Iren, die es an die Küsten Amerikas verschlug, sei es auch nur zeitweilig, hatte sie rasch ein irisches Nationalgefühl entwickelt, das sich aus den längstvergangenen Gemeinheiten der Engländer speiste. Es war immer abrufbar, doch, bis damals in der Bronx, nicht wirklich zu einem moralisch vertretbaren Zorn aufgeschaukelt worden. Jedenfalls hatte sie es zusammen mit ihrem Bachelor-Abschluss (ihr Hauptfach war Moraltheologie gewesen) zurück nach Kerry gebracht, wo die früheren Gründe für ihre Wutausbrüche durchaus noch vorhanden waren. Mit einer Ausnahme allerdings: Ihr unansehnlicher Körper hatte sich zu einer Vollkommenheit entwickelt, die, wie selbst Kitty eingestehen musste, überwältigend war. Doch ihr Gespür für die vor Zeiten begangenen Ungerechtigkeiten blieb erhalten. Dass die meisten davon in den mittlerweile verflossenen Jahren behoben waren, hätte sie eigentlich veranlassen müssen, diese stets lauernden Dämone aus ihrer wohlgeordneten Psyche zu verbannen. Doch sie besaß immer noch ein resolutes Rechtsempfinden. War sie – oder war sie etwa nicht – Caitlin Kitty McCloud?

Eine Burg in der Grafschaft Kerry zu besitzen, trug wenig dazu bei, ihren Zorn zu besänftigen, und minderte auch nicht ihr Gefühl, allen überlegen zu sein. Eine Burg in der Grafschaft Kerry zu verlieren, trieb dagegen ihren Zorn und ihre Empörung erst recht auf die Spitze. Und das umso mehr, als sich die Vergangenheit in Gestalt von Geistern nicht nur in ihrem Heim eingenistet hatte, sondern, soweit es Taddy betraf, auch in ihrem Herzen. Dass sie gegenwärtig sogar zu Chaos und Mord neigte, war dem unverschämten Eindringen von Lord Shaftoe zuzuschreiben.

Der bei ihrem amerikanischen Abenteuer erwachte Patriotismus war sowohl daraus entstanden, dass sie die Heimat vermisste, als auch aus den hundertfach bewiesenen Tatsachen, die aus jedem Buch quollen, das sich mit der Geschichte des ausgeplünderten Landes befasste, in dem sie geboren war. Lange schon hatte sie sich nach einem Vorwand gesehnt, ein Chaos anzurichten, das man als Wiederherstellung alten Rechts bezeichnen konnte. Lange hatte sie auf eine Rechtfertigung gewartet, einen Mord zu begehen. Jetzt war beides zum Greifen nahe.

 

Die Zwiebel hatte Kitty Tränen in die Augen getrieben. Sie hatte sie ignoriert, wollte sich nicht unterbrechen in ihrer Rede zugunsten des hauseigenen Schweins. Da Kieran den Ausführungen seiner Frau nichts entgegensetzte, ging sie zum nächsten Argument über. »Hat es nicht auch das Schießpulver für uns gefunden? Als die Kuh mit ihren Hufen darauf schlug, hat es da nicht so gequiekt, dass du die Kiste ans Tageslicht befördern konntest? Und wer hat das Loch angefangen zu graben, in dem sie steckte?«

»Ich bin mir nicht so sicher«, sagte Kieran und hätte dabei dem Berg grüner Paprikawürfel beinahe seine Daumenkuppe hinzugefügt. »Ich bin mir nicht so sicher, ob es uns damit einen Gefallen getan hat. Abgesehen davon, dass wir jetzt Mr. Shaftoe warnen können, bevor er Kamine in die Große Halle einbauen lässt und mit einem einzigen Funken den ganzen Haushalt hinüberbefördert in die Grafschaft Cavan.«

»Mr. Shaftoe werden wir überhaupt nichts sagen. Soll er doch das Risiko genauso auf sich nehmen wie wir. Nur wird es keine Burg mehr geben, in der er sich auf ein Risiko einlassen kann.«

»Wir werden die Burg nicht in die Luft sprengen.«

»Ich werde die Burg hochgehen lassen.«

»Du wirst überhaupt nichts hochgehen lassen. Keiner von uns wird das.«

»Soll ich etwa Seiner Lordschaft die Burg kampflos überlassen?«

»Der Kampf hat stattgefunden und ist aus und vorbei. Er wurde vor Gericht ausgefochten, und du hast verloren.«

»Ich habe nur eine Schlacht verloren, aber nicht …«

»Die Burg wird nicht gesprengt, lediglich das Schießpulver wird entfernt und unschädlich gemacht.«

»Und Taddy und Brid sollen da hängen, und wir sehen tatenlos zu?«

»Es sind nicht Taddy und Brid, die da hängen. Ihre Geister sind es, die hängen.«

»Ihre Geister sind Teil von ihnen. Und somit hängen sie doch.«

»Geister haben keinen Körper. Ohne Körper fühlst du nichts.«

»Sie fühlen aber.«

»Tun sie nicht.«

»Woher willst du das wissen?«

»Das sagt mir mein gesunder Menschenverstand.«

»Wir sprechen über Geister – und du redest von gesundem Menschenverstand. Gott stehe mir bei!«, ereiferte sich Kitty.

»Und wieso bist du dir so gewiss, dass sie nichts sehnlicher wünschen, als das ganze Ding hier hochzujagen? Woher weißt du, was sie wirklich wollen?«

»Peter McCloskey hat’s mir gesagt.«

»Ein Junge von wie viel – neun?«

»Sieben. Aber er kennt sich aus. Und er hat’s mir gesagt.«

»Und du glaubst, was dir ein Siebenjähriger erzählt?«

»Peter ist anders. Das weißt auch du.«

»Jeder ist anders.«

»Nie und nimmer wird Lord Shaftoe in dieser Burg residieren.«

»Dann lass doch Lord Shaftoe hochgehen. Warum nicht ihn?«

»Ja, genau das werde ich machen. Er und die Burg. Beide zur gleichen Zeit.«

»Ich gebe es auf.«

»Umso besser.«

»Die Burg wird nicht … Ach, lassen wir das. Du hackst die Zwiebel zu fein.«

»Du hast mich abgelenkt.«

Kieran fuhr mit der Klinge des Messers über den Fleischerblock und schob Zwiebel und Paprika in die Schüssel. Kitty wischte sich mit dem Knöchel des Zeigefingers die Tränen aus den Augen. Kieran tat die anderen Zutaten, die das Bronx-Rezept verlangte, in die Schüssel: Schabefleisch, Eier, einen Spritzer Milch, Dijon-Senf. Kitty begann, Petersilie kleinzuhacken. Die Tränen kamen wieder. Erneut wischte sie sie mit dem Fingerknöchel weg, tat es achtsam, um nicht mit dem Messer, das sie in der Hand hielt, das Auge aufzuschlitzen. Und wieder flossen die Tränen. Auch die Nase begann zu laufen. Sie schniefte. Schniefte noch einmal.

»Die Burg zu sprengen, bringe ich doch nicht fertig«, erklärte sie.

Kieran hörte auf, Pfefferkörner zu mahlen, sagte aber nichts.

»Wie könnte ich auch? Schau dich um. Die Steine. Die Mauern. Der Turm. Die Galerie. Die Wendeltreppe. Die Zinnen, über die du hinausschaust aufs Meer …«

Kieran reichte ihr ein Papier-Küchentuch. Sie putzte sich die Nase und gab ihm das Stück Küchenrolle zurück. Er ließ es auf den Boden fallen. »Wenn ich an die denke, die hier gebaut haben«, sagte Kitty, »wie kann ich …«

Er reichte ihr noch ein Blatt von der Küchenrolle. Sie wischte sich die Augen und putzte sich die Nase.

Wieder landete ein Papiertuch auf der Erde. »Stein auf Stein. Block um Block aufeinandergeschichtet. Jemand hat sie auf dem Rücken herangeschleppt, mit der Hand abgestützt, im Fundament vermauert und in … Sieh mal hoch zur Decke. Diese Balken. Nur ein Riese kann sie hochgewuchtet haben. All die schwere Arbeit. Der Schweiß. Die Müdigkeit, die Erschöpfung. Der Schmerz, die Leiden, die Knochenbrüche. Die Verstümmelungen. Und immer wieder die Steine, einer auf den andern.« Sie streckte die Hand aus, befühlte die Wand neben dem Herd. »Ein Mann hat die alle gesetzt. Wer war er? Wie hieß er? In der Kälte der Nacht. In des Tages Hitze. Regen. Nebel. Nässe. Die Erde hart. Stein auf Stein … Stein auf …«

Kitty riss sich ein Stück von der Küchenrolle auf ihrer Seite des Tisches ab. Schnaubte sich die Nase, hob das Papier an die Augen, zögerte, wischte dann die Tränen mit dem geknüllten Papier ab. Ließ es zu Boden fallen. Sie schniefte. »Die Burg hat schon gestanden, lange bevor ein Shaftoe hier auftauchte. Und sie wird noch stehen, wenn all die Shaftoes aus der ganzen Welt gekommen und gegangen sind. Hab keine Angst. Dem Bau hier geschieht nichts. Und Taddy und Brid, sie müssen halt bleiben, wenn ihnen das so beschieden ist. Wir können nur beten. Mehr können wir nicht tun.«

Sie legte das Messer weg, presste beide Fäuste in die Augen und rieb die verbliebenen Tränen tief in die Haut, am liebsten bis ins Hirn, wenn sie gekonnt hätte. Als sie damit fertig war, wandte sie sich ab; ihr Mann brauchte ihr aufgedunsenes Gesicht nicht zu sehen. Sollte sie die zerknüllten Papiertücher aufheben? Ach was, zum Teufel damit. Sie drehte sich zu Kieran um. Er war schließlich ihr Mann, er würde sich nicht an ihren geröteten und verquollenen Augen stören. »Kann ich noch was tun? Gibt’s noch was zu schneiden oder zu hacken? Nur her damit.«

Kieran schob ihr die Schüssel hin. »Alles ist drin. Hast du saubere Hände?«

Kitty hielt die Hände hoch. Kieran beäugte sie kritisch. »Vermenge alles und knete das Ganze gut durch. Dann kannst du dich an die Äpfel machen. Ich muss mich um die Kühe kümmern.«

»Wir kommen auch ohne Apple Brown Betty aus. Ich wollte ihn nur zum Nachtisch haben«, sagte Kitty ruhig. »Ich komme mit und helfe dir bei den Kühen.«

Kieran nickte, ließ einen Augenblick verstreichen und meinte: »Brid werden sie fehlen, wenn wir sie zu meinem Bruder auf den Hof schaffen.«

Kitty überlegte und nickte dann gleichfalls. »Und Taddy wird das Schwein fehlen, wenn es verspeist und für immer verschwunden ist.«

Kieran heftete seinen Blick auf die Wand zu seiner Rechten, betrachtete besonders intensiv die raue Oberfläche unmittelbar über seinem Kopf. »Das Schwein nehmen wir mit. Wir werden ein anderes verspeisen. Wenn Taddy will, kann er es ja ab und an besuchen, falls man ihm das gestattet.«

Kitty hing dem Gedanken kurz nach. »Und Brid die Kühe.«

 

Zwei der Schweine in dem Separatverschlag wühlten mit dem Rüssel nach irgendetwas Fressbarem, das sie über die Trennung von der großen Herde hinwegtrösten könnte. Das dritte stand einfach da. Aaron, Kitty und Kieran beobachteten sie von jenseits der Umzäunung, wollten mit gewissem Abstand vor allem beurteilen, welches Tier am ehesten schlachtreif war. Andere es irgendwie sympathisch machende Qualitäten, die ein Schwein eventuell noch haben könnte, sollten keine Rolle spielen. Es war schwer, eine Wahl zu treffen, denn jedes ähnelte einer riesigen Wurst, die so straff gestopft war, dass sie zu platzen drohte.

»Ich bin für das da.« Kitty zeigte auf das Schwein, das nicht nach weiterem Futter suchte.

»Was ist mit dem da drüben?« Kierans Wahl fiel auf einen von den Schnüfflern, der jetzt den Kopf hob und die Ohren zurücklegte.

Dann war Aaron dran. Um die Reihenfolge zu wahren, entschied er sich für dasjenige, das noch übrig war, vielleicht wollte er auch nur dessen Gefühle nicht verletzen. »Seht mal, was das für prächtige Schinken hat«. Was Besseres fiel ihm nicht ein, um seine Wahl zu verteidigen. Nur wirklich überzeugend war das nicht, denn beneidenswerte Hinterbacken hatten alle drei Schweine.

Jeder der drei begutachtete schweigend das von ihm gewählte Exemplar, ließ die Konkurrenten unbeachtet und grübelte, mit welchen Vorzügen er am ehesten seine Wahl begründen könnte, ohne dass sein Vorschlag sofort zurückgewiesen wurde. Um die drohende Pattsituation zu vollenden, fehlte nur noch das Auftreten eines boshaften Gottes, der einen überreifen Apfel mit der Aufschrift »dem Schmackhaftesten« in den Pferch warf.

Lolly betrat die Szene, sie hatte die Suche nach Metaphern aufgegeben und wollte nun auch ihre Meinung äußern. Sie schob die Ärmel ihres schwarzen Baumwollsweaters mit Rollkragen bis über die Ellenbogen hoch. (Als Schriftstellerin trug sie jetzt fast ausschließlich Schwarz.)

»Sind das die Ersten, die ihr ausgesondert habt? Da hat jemand einen scharfen Blick gehabt. Wollen mal sehen, was sich unter den anderen finden lässt.«

»Die hier haben wir in die engere Wahl gezogen«, erklärte Kitty. »Wir sind gerade dabei, uns für eins zu entscheiden.«

»Oha!«

»Die hier scheinen mir alle sehr geeignet.« Aaron kniff die Augen zusammen als Zeichen, wie genau er die Musterung nahm.

»Ein Schwein ist so gut wie das andere«, stellte Kitty fest. Sie zeigte wieder auf das von ihr bevorzugte. » Warum nehmen wir nicht einfach das da und vergessen den Rest?«

Ohne auf das Thema einzugehen, das eben zur Debatte stand, lenkte Lolly, die Schriftstellerin, das Gespräch auf für sie wesentlichere Dinge. »Ich brauche deine Hilfe«, sagte sie zu Kitty. »Nein, nicht deine Hilfe, nur deinen Rat. Eigentlich wollte ich mit dir erst darüber reden, wenn ich fertig bin. Mein Roman handelt von einem ganz bestimmten Paar – er ist sehr hübsch, sie ist wirklich umwerfend –, die beiden heiraten, und – kannst du dir das vorstellen? – sie ziehen in die Burg hier.«

Kitty erstarrte. Kieran entspannte jeden Gesichtsmuskel, glaubte, so besser den Kopf zu senken und Lolly direkt ansehen zu können. »Und um dem Ganzen noch etwas draufzusetzen, in der Burg gibt es Geister – ich vermute, ihr könnt euch denken, woher ich die Idee habe. Schließlich ist immer die Rede davon gewesen, dass in der Burg diese Geister umgehen.« Sie lächelte nervös, zuckte mit den Wangen. »Schreib über Sachen, die du kennst. So soll man doch vorgehen, nicht? Jedenfalls, die einzige Lösung – den Teil liebe ich geradezu –, um die Geister loszuwerden und den Fluch von der Burg zu nehmen ist, sie in die Luft zu sprengen. Wie findet ihr diesen Überraschungscoup?«

Jetzt entspannte auch Kitty ihre Züge und bedachte ihre Freundin mit einem betont gleichgültigen Blick. »Wie kannst du einen Fluch von einer Burg nehmen, die gar nicht mehr existiert?«

»Aber noch existiert sie. Bis sie gesprengt wird. Und wenn das passiert, na, dann ist auch der Fluch weg. Die Geister sind verschwunden, terrorisieren nicht länger die Nachbarschaft. Und die Burg zu sprengen, wär’ doch ein guter Schluss, meinst du nicht?«

»Ich weiß nicht so recht«, sagte Kitty zögernd. »Scheint mir ein bisschen weit hergeholt.«

»Du meinst, das mit dem Sprengen der Burg?«

»Ich meine die ganze Geschichte.«

»Hm, dazu ist es jetzt zu spät. Ich bin schon auf Seite fünfhundertzweiundachtzig.«

»Wenn es so ist, brauchst du doch gar keinen Rat mehr von irgendwem.«

»Aber wie bringe ich es fertig, eine Burg zu sprengen?«

»Das liegt nun wirklich jenseits meiner Erfahrung«, sagte Kitty.

»Ach, ich habe ja vergessen, dir zu sagen. Doch du weißt selbst, was man so tuschelt: Das Schießpulver ist seit langem irgendwo in der Burg versteckt.«

Kieran meldete sich und sagte ein bisschen schleppend: »Na das wär’s doch, wie du die Burg in die Luft jagst. Mit dem Schießpulver. Ganz einfach. Und Schluss der Vorstellung.«

»Bloß keiner weiß so recht, ob das Schießpulver wirklich da ist. Gefunden hat man’s nie.«

»Dann lass es doch von jemandem finden«, sagte Aaron, dessen Ungeduld zusehends wuchs. Seit er sich von der Kunst des Romanschreibens verabschiedet hatte, war sein Interesse an derlei Dingen merklich geschwunden. »Es ist doch eine Geistergeschichte. Die Geister finden es eben.«

»Daran habe ich auch schon gedacht, aber …«

»Denk einfach weiter drüber nach«, warf Kitty ein. »Bestimmt fällt dir was ein, das uns alle verblüfft.«

»Meinst du wirklich?«

Nie hatte Kitty ihre lebenslange Freundin so unentschlossen gesehen. Ein Mangel an Entschiedenheit war nun wirklich nicht Lollys hervorstechender Charakterzug, ebenso wenig, wie Kitty nie unter einem derartigen Mangel gelitten hatte.

Für sie war das Schreiben einfach eine Erweiterung des ihr angeborenen Selbstvertrauens. Ihre Begabung, ihre Fähigkeiten nahm sie als selbstverständlich hin, dafür brauchte sie keine Bestätigung. Wer das nicht sehen und würdigen konnte, war eben blind.

Es tröstete Kitty, dass Lollys Mangel an Selbstvertrauen der Beweis war, auf den sie gewartet, den sie erwartet – nein sogar gefordert hatte –, dass die arme Lolly, so sehr sie sie auch liebte, ungeachtet aller guten Wünsche und wohlwollenden Gedanken, die sie für die Freundin hegte, nicht das Zeug zu einer wahren Künstlerin hatte. Für Kitty gab es im Lexikon der Kunst das Wort Furcht nicht. Auf zu viele Risiken musste man sich einlassen, zu viele Zweifel mussten bezwungen werden. Und daraus gewann Kitty eine weitere Gewissheit.

Doch jetzt galt es Wege zu finden, ihrer Freundin über die Enttäuschung hinwegzuhelfen, ohne die Schadenfreude durchschimmern zu lassen, die sie angesichts der wohlverdienten Schwierigkeiten empfand, in denen ihre Schwiegernichte steckte. Es musste ihr gelingen, das Auf-der-Hand-Liegende zu sagen, ohne es auszusprechen: Aaron musste zurück an den Computer. Lolly musste sich mit dem Schicksal abfinden, das ihr von Anfang an vorherbestimmt war: eine einfache Schweinehirtin zu sein. Es war der Beschluss unbekannter Mächte, die niemand Rechenschaft schuldig waren. Kitty musste ihrer Freundin helfen, das einzusehen. Sie – Kitty – würde sich etwas ausdenken. War sie eine Künstlerin, oder war sie keine? Eine Schöpferin von aufsehenerregender Gestaltungskraft. Wie glücklich konnte sich Lolly schätzen, eine so treue Freundin zu haben.

Kittys Anspannung ließ nach. Sie war gewillt zu sagen, was Lolly ihrer Meinung nach hören musste.

Doch sie kam nicht dazu, ihre Unaufrichtigkeiten von sich zu geben, denn Kieran sagte: »Wie man die Burg in die Luft sprengt? Schreib doch, die Frau gräbt in ihrem Garten …«

»Nicht schon wieder ein Skelett!«, rief Aaron entsetzt dazwischen.

»Nein, kein Skelett«, sagte Kitty. » Das ist schon zu Tode geritten worden, gewissermaßen.«

Kieran ließ sich nicht beirren. »Die Frau gräbt ihre Beete um, und ihr Spaten stößt auf eine Metallkiste. Da drin ist …«

»Klingt schrecklich an den Haaren herbeigezogen«, ereiferte sich Lolly, ehe Kieran weiterreden konnte. »Ein bisschen zu gekünstelt. Findest du nicht auch?«

»Na, schön«, sagte Kieran, »dann eben ein Tier – meinetwegen auch ein Schwein – ein Schwein buddelt etwas aus …«

»Wer soll denn so was glauben?«, spottete Lolly.

»Du musst den Leser dazu bringen, es zu glauben, indem du es selbst glaubst.« Kitty presste die Lippen zusammen und bekam sie gerade noch auseinander, um hinzuzufügen: »Und wenn du es nicht glauben kannst, dann schreibe es nicht. Glaubst du an ›Die drei kleinen Schweinchen‹? Nein? Ich jedenfalls glaube daran. Weil der Autor daran geglaubt hat.«

»Ich? Ich soll glauben, was ich schreibe?«

»Lolly, entweder du bist eine Schriftstellerin oder du bist keine.«

»Aber ich bin eine Schriftstellerin. Ich bin auf Seite fünfhundertzweiundachtzig.«

Kieran platzte heraus: »Das Schießpulver ist mit den Steinplatten der Großen Halle in der Burg eingelagert.«

»Oh, das gefällt mir.« Lolly schaute sinnend vor sich hin, wie um sich zu vergewissern, ob sie glauben sollte, was sie eben gesagt hatte.

Kitty fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Liebling«, sagte sie zu Kieran und benutzte ein Wort, das bislang in ihrem ehelichen Wortschatz nicht vorgekommen war, »ich meine, wir sollten Lolly ihren Roman allein schreiben lassen. Schließlich ist sie eine Schriftstellerin. Sie ist schon auf Seite fünfhundertzweiundachtzig. Wie wir alle wissen, denkt sich ein Schriftsteller, der diesen Namen verdient, seine Sachen selbst aus.«

»Ist das wahr?«, fragte Lolly.

»Das ist so wahr wie jedes Wort, das ich bisher gesagt habe.« (Nicht umsonst war Kitty bei den Jesuiten in die Schule gegangen.)

»Ich muss also alles allein machen, ohne jede Hilfe?« Lollys Ton war fast kläglich; sie duckte sich ein wenig, hoffte vielleicht, dem Schlag zu entgehen, der sie jeden Moment treffen könnte.

Kitty spürte, es war an der Zeit, salbungsvoll zu werden. »Gewiss hast du davon gehört, wie einsam ein Schriftsteller ist bei seinem Werk, und demzufolge …« Mehr sagte sie nicht. Sie wollte die ganze Widersinnigkeit, die Sentimentalität dessen, was sie eben angeführt hatte, voll auskosten, das Selbstmitleid, das damit einhergehende, nur zu auffällige Sich-selbst-Dramatisieren.

Schreiben brachte sie stets in Bedrängnis, all die verschiedenen Gestalten, die sich auf sie warfen, wie abgestochene oder noch nicht abgestochene Schweine quiekten und ihren gehörigen Anteil an dem Plot verlangten, den Kitty ersann.

Hinzu kamen da all die Ideen, all die Handlungsmöglichkeiten, die sich auftaten und bewertet werden wollten, einigen musste man stärker nachgeben, anderen weniger, der Kleinkrieg untereinander war hart und rücksichtslos, und Kitty war der oberste Schiedsrichter. Früher oder später wurde ihr eine Unfehlbarkeit auferlegt, die selbst die Bestrebungen eines höchst fehlgeleiteten Papstes übertraf, sie musste Entscheidungen treffen, Urteile über Leben und Tod vollstrecken, und wenn schließlich alles vollbracht war, wenn all die sich befehdenden Gestaltungselemente nach bestem Wissen und Gewissen abgehandelt waren und die letzte Seite geschrieben war, dann stellte sich wieder die wahre Einsamkeit ein. Ihr enger und getreuer Gefährte, das Buch, ließ sie allein zurück. Der einzige Kollege, der sie überallhin begleitet hatte, der zu jeder Tages- oder Nachtzeit zum Zwiegespräch mit ihr bereit war –, er war entschwunden. So lange, bis eine sich anrempelnde und sich stoßende Schar schwankender Gestalten erneut in ihre Vorstellungswelt drängte, war sie den Verlustgefühlen ausgeliefert, mit denen man einem wahren und sehr intimen Freund nachtrauert, dem sie ihr ausgefülltes Leben zu verdanken hatte, das nur einem Schriftsteller gegeben ist. Qualvoll mochte das Schreiben wohl sein, einen zur Verzweiflung bringen, einen krankmachen und jammern lassen, aber machte es sie einsam? Nein. Nie und nimmer.

»Stimmt«, sagte Lolly, »man fühlt sich ziemlich allein. Es ist völlig anders, als wenn man immer die Schweine um sich hat.«

»Da hast du’s«, sagte Kitty. »Man muss Opfer bringen.«

»Das kannst du laut sagen.«

Kieran kam auf das eigentliche Thema zurück. »Das Schießpulver befindet sich, wie gesagt, in den Steinplatten. Du musst es lediglich zum Explodieren bringen.«

»Aber wie soll ich das machen? Ich meine, wer jagt es hoch? Und wie?«

»Kieran «, mahnte Kitty und lächelte wie jemand, dessen Geduld bald erschöpft ist. »Sind wir nicht hier, um ein Schwein zu holen?«

»Genau!« Aaron streckte den Arm aus und zeigte zuerst auf ein Schwein, dann auf ein anderes, war sich selbst nicht mehr sicher, welches er anfangs ausgewählt hatte. Lolly jedoch – Lolly, die Schriftstellerin – war noch nicht bereit, sich den Prioritäten des Tages unterzuordnen. Es schien ihr zu früh, ihr Vorrecht als Schriftstellerin fahrenzulassen, nämlich eine Situation völlig zu beherrschen und ihr die Wendung zu geben, die gegenwärtig in ihr Konzept passte. »Jetzt habe ich es«, verkündete sie selbstsicher, »ich lasse die Geister das Ding drehen. Das wäre doch fesselnd.«

Sie machte eine Pause. Kitty öffnete bereits den Mund, doch ehe Worte daraus entschlüpfen konnten, fuhr Lolly fort: »Bloß … Geister können eigentlich nichts in Bewegung setzen. Wie kann ein Geist, der ja in Wirklichkeit keinen Körper hat, etwas von hier nach da schaffen?«

Kitty schloss die Lippen. Sollte ihr Mann doch sagen, was er wollte. War sie nicht sein gutes, liebendes Eheweib? Dann könnten sie sich endlich ihrer eigentlichen Aufgabe widmen, ein dämliches Schwein auszuwählen für einen dämlichen Braten auf einem dämlichen Bratspieß für ihre dämliche Party für die dämlichen Nachbarn.

So kam Kieran wieder zum Zuge. »Dann vergiss das mit den Geistern. Lass den Mann und die Frau es machen.«

»Ihre eigene Burg sprengen?«

»Haben sie etwa kein Mitleid mit den Geistern, die für alle Ewigkeit ruhelos umherwandern müssen?«, fragte Kieran.

»Das schon, gewissermaßen ja. Aber die Burg gehört ihnen. Ich weiß, Kitty, du hast deine verloren an Du-weißt-schon-wen. Jedenfalls könntest du sie in die Luft jagen, wenn du Geister hättest. Bloß, das wäre ein Verbrechen, und du würdest im Gefängnis landen, vermute ich mal. Aber schließlich und endlich, wenn ich einen Du-weißt-wen hätte, dann könnte ich … Nur habe ich keinen Platz mehr, um noch so einen Wie-heißt-er-doch? unterzubringen.«

»Shaftoe.« Kitty sagte es geradezu tonlos, als wollte sie dem Wort den letzten Lebenshauch nehmen und es zu einer Worthülse machen, die ihre Bedeutung verloren hatte.

»Richtig«, sagte Lolly. »Aber für neue Gestalten habe ich wirklich keinen Platz mehr. Es sei denn, ich streiche den Teil, in dem sich herausstellt, dass die Frau, die Ehefrau, einen ehemaligen Liebhaber ermordet und in ihrem Garten vergräbt. Oder vielleicht die Rückblende, wo die Vorfahren des Mannes – des Ehemannes –, um ihre Haut zu retten, mithelfen, einen Priester gefangen zu nehmen, ehe er auf die Great-Blasket-Insel fliehen kann. Doch diese Teile liegen mir sehr am Herzen. Außerdem hilft das zu erklären, dass die beiden Neuvermählten wirklich blutdürstige Bestien sind. Kein Schriftsteller kann sich von so einem Material trennen. Wie denkst du darüber?«

»Ich habe aufgehört zu denken«, erwiderte Kitty.

Lolly richtete den Blick auf Aaron. »Und du, wie denkst du darüber? Du warst schließlich selbst Schriftsteller.«

»Ich denke, wir sollten uns endlich ein Schwein aussuchen. Das da, okay?«

»Ich sehe schon, ich muss mich selber irgendwie entscheiden. Keiner hilft mir. Ich stehe allein da. Muss mich daran gewöhnen. An die Einsamkeit. Aber so ist das nun mal. Zerbrecht euch nicht weiter den Kopf meinetwegen. Ich werde schon zurechtkommen. Allein eben.« Sie ging auf den Vorhof zu, blieb aber unvermittelt stehen und wandte sich um. »Ich hab’s! Der Mann sprengt die Burg, weil sein schlimmes Weib sich in den jungen Mann verliebt hat, in den Geist. Was haltet ihr davon?«

Kitty und Kieran starrten sie lediglich an. Nur Aaron bequemte sich zu einer Antwort. »Ja. Ja. Gut so. Mach es so. Und was uns betrifft, wir nehmen das Schwein da, das da …«

»Oder vielleicht«, sagte Lolly, »die Frau macht das, weil ihr egozentrischer Mann sich in den Mädchengeist verliebt hat. Was hältst du für besser, Kitty? Was meinst du, Kieran? Was findest du …«

Aaron fiel ihr ins Wort. »Lolly, mein Herzblatt, wenn du den Leser überzeugen willst, dass deine Hauptcharaktere Idioten sind und völlig schwachsinnig, aber keine mit Verstand begabten Wesen, dann mach nur weiter so. Prima Idee. Sich in einen Geist zu verlieben! Also ich muss schon sagen! Du solltest deinen Gestalten etwas mehr Respekt entgegenbringen. Aber schließlich bist du die Verfasserin. Ich bin nur ein Schweinehirt. Mach, was du willst, bloß sag nachher nicht, man hätte dich nicht gewarnt. Wenn du deine Charaktere der Demenz anheimfallen lassen …«

»Einigen wir uns nun endlich auf ein Schwein, oder was?« Diesmal griff Kitty ein und fragte das in dem gleichgültigen Ton, den sie für den Rest ihres Besuchs hier beizubehalten gedachte. Kieran schwieg.

Aaron war dankbar für das Stichwort und rief:» Das Schwein! Das Schwein! Ja, das Schwein!«

»Aber«, beharrte Lolly, »was wird mit der Burg …?«

»Hör auf! Ums Schwein geht’s. Ums Schwein. Bring deinen Truck her, Kieran«, sagte Aaron. »Wir laden das da auf. Schielt ein bisschen, aber die Augen isst sowieso keiner. Hol den Truck, Kieran, mach, dass du fortkommst.« Er klatschte dem Schwein auf den Rücken, um seine Auswahl zu besiegeln. Das Schwein gab keinen Mucks von sich, und auch Kitty und Kieran schwiegen.

»Na schön. Vergesst nur meinen Roman«, sagte Lolly. »Ich werde mir selber was ausdenken.« Damit ging sie ins Haus und warf die Tür hinter sich zu.

Einen langen Moment schaute Kitty Kieran an, und Kieran schaute Kitty an. Kitty senkte den Kopf und blickte angelegentlich auf den groben Boden zu ihren Füßen. Als sie aufschaute, hatte Kieran den Kopf leicht zur Seite geneigt, betrachtete aber immer noch seine Frau. Noch einmal sahen sie einander stumm an. Aarons Blicke wanderten von Kitty zu Kieran und von Kieran zu Kitty, er war verwundert, doch immer noch ungehalten. »Gott sei Dank, ich muss nie wieder auch nur ein einziges Wort schreiben.«

Kieran fuhr seinen Truck auf den Schweinehof, und ohne Schwierigkeiten gelang es ihm und Aaron, das ausgewählte Schwein dazu zu bringen, auf die Rampe und auf die Ladefläche zu trotten. Kieran setzte sich hinters Steuerrad, Kitty kletterte auf den Beifahrersitz. Der Lastwagen fuhr los. Das Schwein, dem nicht bewusst war, welches auserlesene Schicksal ihm bevorstand, reckte Kopf und Rüssel in die Höhe, schnupperte in die Nachmittagsluft und fand sie angenehm.

 

Zum Abendessen gab es eine Bouillabaisse, Spargel in Vinaigrette-Soße und Aprikosentarte, dazu einige Gläser frisch gemolkener Milch. Nachdem er sich mit Kitty über das schließlich gewählte Schwein ausgetauscht hatte, fragte Kieran: »Was hältst du eigentlich von Lollys Roman?«

»Bitte, doch nicht, wenn ich noch esse.«

»Befriedigend ist die Antwort nicht.«

»Man sollte Lolly nicht ermutigen. Auch nicht entmutigen. Ihr steht jedes Recht zu, sich unmöglich zu machen, wenn sie das unbedingt will. Soll sie doch tun, wozu sie sich getrieben fühlt. Das wäre, was sie zuallererst lernen muss. Schreibe, wenn du wirklich schreiben willst – und nimm dann die Konsequenzen auf dich. Anders geht das nicht.« Sie drückte die Gabel in die Tarte, spießte ein ansehnliches Stück auf und steckte es sich in den Mund.

Entgegen seiner sonstigen Art nahm Kieran nur kleine Bissen. Schließlich fragte Kitty: »Und was meinst du zu dem Ganzen?«

Kieran betrachtete nachdenklich den Bissen auf seiner Gabel. »Was verstehe ich schon von der Schriftstellerei?« Er führte die Gabel näher zum Mund und brachte sie wieder in die Ausgangsposition. »Ich … ich bin einer Meinung mit Aaron.« Er konzentrierte sich auf das Kuchenstückchen und fragte wie nebenbei: »Du nicht auch?«, vollendete dann endlich die Handbewegung und fing an zu kauen.

»Einer Meinung, worüber?« Auch Kitty begann dem, was sie aß, ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen. Sie nahm kleinere und immer kleinere Bissen und kaute langsamer und langsamer.

»Über den Mann und die Frau. Die sich in Geister verlieben.«

»Ach, das meinst du.« Kitty kaute. Der volle Mund hinderte sie am weiteren Sprechen.

»Ja. Das.«

Als sie untergeschluckt hatte, meinte Kitty: »Ich vermute, Aaron hat recht. Die … die Frau und der Mann … die müssen so gut wie schwachsinnig sein, wenn sie … wenn sie …« Sie schob noch ein Stück von der Tarte in den Mund und begann bedächtig zu kauen, womit sie weiteren Redens enthoben war.

»… wenn sie sich in Geister verlieben«, beendete Kieran den Satz.

Ohne zu schlucken, noch beim Kauen, bestätigte Kitty ziemlich leise: »Ja. Schwachsinnig.«

»Natürlich«, pflichtete ihr Kieran bei, »schwachsinnig. Völlig schwachsinnig müssen die sein, was sonst.« Er legte die Gabel hin. »Und dass jeder von ihnen die Burg in die Luft sprengen will, aus purer Eifersucht …«

»Das ist ohne Sinn und Verstand«, stellte Kitty fest. »Die … die müssen verrückt sein. Total irrsinnig.«

»Stimmt. Bescheuert müssen die sein. Völlig bescheuert.«

Sie schauten sich kurz an, tranken den letzten Schluck Milch aus und beendeten so ihr Dinner.

Kitty begab sich an ihren Computer, damit ihr Gatte den Abwasch machen konnte in aller Ruhe, die auch sie in ihrer Turmstube suchte. Da sie von ihrer Unterhaltung und dem raschen Blick, den sie ausgetauscht hatten, noch etwas aufgewühlt war, wollte sie den Tullivers, sowohl Maggie wie auch Tom, einen freien Abend gönnen und ihre Verbesserungen ruhen lassen. Sie würde nur die E-Mail-Eingänge prüfen, vielleicht eine Treppe höher steigen, sich still an den Webstuhl setzen und sich ihren Gedanken überlassen.

Da sie nun erfahren hatte, dass sie, Kitty McCloud, und ihr Gatte, Kieran Sweeney, von denen abstammten, die eigentlich hätten gehängt werden müssen, war sie nicht sicher, ob sie es überhaupt wollte, dass Brid und Taddy sie je wieder zu Gesicht bekamen. Und doch, seit ihr Peter diese unwillkommene Offenbarung gemacht hatte, wollte sie allzu gern erfahren, wie sie sich in deren Gegenwart fühlen würde – in welcher Weise sie auf die ihr soeben enthüllte Mittäterschaft an deren Geschicken reagieren würde. Würde sie es überhaupt ertragen, sie wiederzusehen? Würde sie letztendlich das Grauen, das Entsetzen verspüren, das die Erscheinung eines Gespenstes einem normalerweise bereitete? Würde sie sie um Vergebung bitten? Würde sie sich ihnen gegenüber in einer Art erniedrigen, von der sie selbst noch nichts wusste? Ihre Erwägungen brachten sie nicht weiter; resolut schüttelte sie sie ab und kam zu der einzig möglichen Schlussfolgerung. Sie hatte sie nicht verraten, auch ihr Mann nicht. Sie waren schuldlos. Es war ein Vorfall in der Geschichte, für den weder sie noch Kieran sich zu verantworten hatten. Und wenn Brid oder Taddy die geringste abweisende Geste machten oder ihnen einen vorwurfsvollen Blick zuwarfen, aus dem sich schließen ließ, sie seien anderer Meinung, dann … Hier gebot sich Kitty Einhalt.

Doch noch hatte sie sich mit dieser anderen neuen Erkenntnis herumzuplagen – oder, besser gesagt, mit einer Erkenntnis, die ihr längst bewusst war und nun erneut Bestätigung gefunden hatte. Sie war in Taddy verliebt. Kieran war in Brid verliebt. Ein Blick hatte genügt, das einander wissen zu lassen. Zum ersten Mal ging Kitty auf, dass es vielleicht ihr Glück war, dass sie die Burg verlassen mussten, so niederschmetternd das auch sein würde – eine verlorene Liebe. Die Liebe zu einem Geist war nicht das Einzige, doch leider Schwerwiegendste, was sie krank, wenn nicht gar wahnsinnig machte.

Ihre E-Mails zu lesen, obwohl ihr das meist lästig war, könnte ihr helfen, die Gemütsruhe wiederzugewinnen. Möglicherweise brachte ihr die Durchsicht der banalen und unwichtigen Sachen den Gleichmut wieder, den sie einstmals besessen hatte – vor ihrem Aufstieg zu Glanz und Fluch der Burg Kissane.

 

Kieran löffelte den Rest der Bouillabaisse aus dem Kochtopf. Kitty kam in die Küche und hielt etwas in der Hand, das wie ein Computer-Ausdruck aussah. Nie hatte sie ihn an ihrer Arbeit teilhaben lassen, hatte nie seinen Rat gesucht, nie auf seine Reaktion gewartet. Aber vielleicht hatten die Ereignisse des Tages sich nachteilig auf ihre Überzeugung ausgewirkt, immer völlig in der Hand zu haben, was sie tat oder woran sie arbeitete. Er würde ihr helfen, wenn es ihm möglich war.

Wortlos hielt sie ihm das Blatt hin. Reglos wartete sie, während er las. Als er damit fertig war, schaute er einen Augenblick in die Spüle, reichte ihr dann das Papier zurück. Sie blickten einander in die Augen, abermals nur flüchtig. Kitty machte kehrt und verließ den Raum. Als sie gegangen war, fuhr Kieran mit dem Finger über den Topfboden und leckte den letzten Rest von der Bouillabaisse aus. Er schob den Topf ins warme Abwaschwasser. Der Computer-Ausdruck von Kittys Rechtsanwältin in Cork besagte, die von Shaftoe vorgelegten Papiere waren als Fälschungen erkannt worden. Die Steuern waren niemals gezahlt worden. Seine Lordschaft hatte keinerlei Anrecht auf die Burg Kissane. Sie gehörte laut Verfügung des Gerichts Kieran Sweeney und seiner Ehefrau Caitlin McCloud. Kieran ließ den Topf los, der sofort hoch schwamm. Er beförderte ihn in die Seifenlauge zurück und hielt ihn dort so lange, bis das warme Wasser in die hochgekrempelten Manschetten seiner Ärmel kroch.