Kapitel 8

 

Maude McCloskey, die Seherin – oder in Kittys Denkart mehr die Hexe – hatte vier Kinder. Das älteste war nicht daheim, sondern irgendwo in Cork, als Kitty sie aufsuchte, die anderen aber waren zu Hause. Zwei Mädchen und ein Junge, die Mädchen neun und fünf Jahre alt, der Junge irgendwo dazwischen, so um die sieben. Sie saßen auf der Erde, auf einem graugrünen Teppichbelag, und spielten Karten. Der Fernseher lief und stand so dicht neben ihnen, dass man den Eindruck hatte, die emsigen Sportkommentatoren hätten – wenn sie gewollt hätten – dem Jungen und dem älteren Mädchen über die Schulter und in die Karten sehen können.

Erst dachte Kitty, sie spielten Poker – Karten wurden gemischt und verteilt, und jeder breitete sie vor sich aus –, aber genaueres Hinschauen belehrte sie, dass die ausgelegten Karten keinen erkennbaren Bezug zueinander hatten. Es musste ein Spiel sein, das sie nicht kannte. Oder sie hatten eigene Regeln entwickelt, improvisierten vielleicht sogar im Verlauf des Spiels. Dann wieder kam es ihr vor, als ahmten sie nur Bewegungen und Kommentare nach, die sie den Großen abgeguckt hatten. Aber auch mit dieser Vermutung irrte sie, denn zwischendurch bückte sich die Mutter zu Ellen, der Jüngsten, und gab ihr einen Tipp, welche Karte sie ausspielen sollte, was das Kind dann auch mit Erfolg tat. Bruder und Schwester nahmen das – sehr zu Kittys Erstaunen – mit Vergnügen zur Kenntnis.

Offensichtlich war es für sie ein Beweis, wie gescheit die Kleine schon war, und deshalb taten sie so, als hätte alles seine Richtigkeit und die Mutter sich überhaupt nicht eingemischt. Das ältere Mädchen hieß Margaret und der Junge Peter – das war nicht sein eigentlicher Name, getauft war er auf Stanislaus, den Namen seines Vaters, aber der tägliche Umgang im Haus verkraftete nur einen Stanislaus, und so hatte man Peter als Rufnamen eingeführt.

Kitty war gekommen, um sich von der Seherin Rat zu holen, wie sie Brid loswerden könnte. Kieran war nach ihrem Empfinden mit seinem Sinnen und Trachten ganz woanders und schied für vernünftige Überlegungen aus. Brid verdrehte ihm den Kopf und musste folglich so schnell wie möglich aus dem Haus. Natürlich war sich Kitty der Tatsache bewusst, dass dem Mädchen großes Unrecht widerfahren war und dass es keine Ruhe finden würde, ehe man ihm wenigstens einen Deut Gerechtigkeit angedeihen ließ. Aber was man tun konnte, um den nötigen moralischen Ausgleich zu schaffen, überstieg Kittys gegenwärtige Kräfte. Der eigentliche Übeltäter, der befohlen hatte, die beiden zu erhängen, Lord Shaftoe, weilte längst im Jenseits und war vermutlich von einer weit höheren Instanz abgeurteilt worden. Sich in die Geschichte zurückzubegeben und ihn ins Hier und Heute zu versetzen, würde nicht glücken. Was jetzt vonnöten schien, war nichts Geringeres als eine Aussöhnung zwischen den Dingen auf Erden und denen im Himmel. Irgendwann war etwas durcheinandergegangen, hatte man ein Fehlverhalten auf Erden ungerügt gelassen, oder es war womöglich vom Himmlischen Mittler selbst aus unerklärlichen Gründen ignoriert worden. Oder konnte es sein, dass das gegenwärtige Ungemach der Aufmerksamkeit des Obersten Richters tatsächlich entgangen war? Oder noch schlimmer, war das alles dem Allmächtigen seit langem bekannt und als belanglos abgetan worden? War zu irgendeinem Zeitpunkt verfügt worden, dass man von den minderwertigen Kreaturen, die einen unwesentlichen Planeten bevölkerten, verlangen könnte, sich selbst um ihre Angelegenheiten zu kümmern? Sie waren mit Verstand ausgerüstet, den sie nicht zur Genüge nutzten. Man konnte nicht erwarten, dass göttliche Erleuchtungen allein alles in Ordnung brachten. Kitty müsste selbst in der Lage sein, einen Lösungsweg für ihre Nöte zu finden. Schließlich hatte sie niemand in ihre prekäre Situation gedrängt. Niemand hatte sie beschwatzt, die Burg Kissane zu kaufen. Nur die ihr eigene Kühnheit, ihr ungehemmter Drang zum Risiko hatten sie, Caitlin, das kleine Mädchen von Francis und Helen McCloud, verführt, sich als Burgherrin in Pose zu setzen – und nun musste sie den Preis dafür zahlen neben all den bereits gezahlten Euros.

Im Prinzip hatte Kitty nichts dagegen einzuwenden. Seit ihrem Hochzeitstag tat sie das schon, seit Brid und Taddy sich als Mitbewohner gezeigt hatten. Aber jetzt war menschliche Schwäche mit ins Spiel gekommen – in Form eines Ehemannes. An sich fürchtete Kitty keine Rivalen – nur war die Rivalin nicht nur jung und über die Maßen schön, sondern aufgrund des Dilemmas auch prädestiniert, so zu bleiben, während an Kitty trotz ihrer Vorzüge hinsichtlich Aussehen, Intelligenz und Talent der Zahn der Zeit nagen würde.

Brid musste von der Burg. Kitty würde ihr damit geradezu einen Gefallen tun. Brid hatte im Vergleich zu ihrer gegenwärtigen Situation etwas Besseres verdient. Und Kitty, in ihrer unendlichen Güte, würde sie aus dieser Situation befreien, sowie sie nur ein brauchbares Mittel in ihren resoluten Händen hielt. Sie setzte auf die Seherin. Die musste tun, was in ihren Kräften stand, und ihr einen Anhaltspunkt geben. Und deshalb war Kitty hier.

»Es ist jetzt schon eine ganze Woche her, dass Peter nicht mehr ins Bett gemacht hat«, vertraute ihr Mrs. McCloskey an, »und wir drücken die Daumen, dass er auch die nächste Woche durchhält. Ellen, die neben ihm schläft, ist natürlich besonders froh, denn sie kriegte immer alles mit ab. Möchtest du in deinen Tee nicht doch einen kleinen Schuss?« Sie hielt eine Flasche Tullamore Dew in der Hand und wollte Kitty einschenken.

»Nein, lieber nicht. Der Tee schmeckt vorzüglich so, wie er ist.«

»Ah, ja. Einen guten Tee zu machen, darauf verstehe ich mich.« Aus Höflichkeit verbiss sich Kitty die Bemerkung, dass Peter den Tee gemacht hatte. Mrs. McCloskey hatte ein unerschöpfliches Thema: ihre Kinder. »Was Margaret betrifft, das Mädchen scheint Asthma zu entwickeln, da kommt sie nach ihrer Tante. Kann nur hoffen, dass es bei einer Bronchitis bleibt, hab ihr schon ausgemalt, dass man bei einem Asthmaanfall leicht sterben kann. Ihrer Tante jedenfalls ist es so ergangen« – sie schnipste mit den Fingern –, »war gerade so alt wie Margaret jetzt.« Sie beugte sich vor, studierte Ellens Karten, zog eine und legte sie auf den Teppich. Ein verblüffender Zug, auch jetzt sparten Peter und Margaret nicht mit fröhlicher Anerkennung.

»Ellen gewinnt!« Peter lachte über den vorauszusehenden Ausgang des Spiels. Auch Margaret freute sich. »Sie schlägt uns.«

Mrs. McCloskey streichelte Ellen über das Haar, lehnte sich dann auf ihrem Stuhl zurück – ein zu straff gepolstertes Sitzmöbel, der Bezug von einem dunkleren Grün als der Teppich – und raunte Kitty zu: »Aus Peter wird mal was. Ich darf gar nicht daran denken, wie wütend ich war, als ich mitbekam, dass er sich in meinem Bauch eingenistet hatte. Am liebsten hätte ich Stanislaus umgebracht. Doch dann fand ich es besser, ihn nach Cork auf Arbeit zu schicken, von wo er uns ein gut Teil seines Lohns schickt, und wir meistern unser Leben hier ohne ihn. Über Peter kann man wirklich nur staunen. Aus dem wird was.« Mrs. McCloskey warf einen Blick auf den Bildschirm, wo das unvermeidliche Fußballspiel im Gange war, offenbar irgendwo im Ausland, denn die Spieler hatten mehr Staub als Rasen unter den Füßen. Die Kommentatoren ließen sich gerade über einen der Sportler aus – einen mit einem unaussprechlichen Namen –, woraus zu schließen war, dass er ein ausländischer Import im irischen Team war. Sichtlich zufrieden mit dem, was sie sah und hörte, besserte Maude ihren Tee mit einem weiteren Schluck Whiskey auf und schenkte dann ihre Aufmerksamkeit den Karten in Peters Hand.

Eine Schönheit war sie früher nie gewesen, aber das hatte sich mit den Jahren geändert. Im Verlauf ihrer Ehe und Schwangerschaften hatte sie ungemein gewonnen. Zwar war sie fülliger geworden, aber wohlgefällig proportioniert. Auch ohne Zentimetermaß sah Kitty, dass das Verhältnis von Busen und Taille, Hüften und Hintern auffallend gut stimmte. Das dichte schwarze Haar, das in ihrer Jugend verschiedene Torturen über sich hatte ergehen lassen müssen, hatte sie inzwischen bändigen können; sie trug es jetzt straff zurückgekämmt, hinten vorteilhaft zu einem Knoten zusammengesteckt. Die Lippen waren voller geworden, die Zähne – ihre eigenen, wie Kitty ziemlich sicher annahm – waren ebenmäßig und weiß, glänzten fast, wenn sie lächelte, und das tat sie oft, denn die Frau hatte eine übertriebene Art, bei dem geringsten Anlass in Heiterkeit zu verfallen. Im Gegensatz zu dem lebhaft arbeitenden Mund blieben die dunkelbraunen Augen meist ernst, spiegelten vielleicht eine innere Zufriedenheit der Person mit sich und ihrem Wirken wieder. Seherin oder nicht Seherin, man mochte zu ihr stehen, wie man wollte, auf ihrer Lebensbahn war Maude McCloskey durchaus Erfolg beschieden.

Mit der einen Hand führte die hübsche Maude ihre Teetasse zum Mund, mit der anderen tippte sie auf die Karosieben in den Karten, die Peter hielt, und ermunterte Ellen, sie zu ziehen. »Die da.« Als Ellen ihrem Rat folgte, lachte Peter hell auf. »Nein, doch nicht die!«, rief er und wollte sich vor Freude kaum lassen über den meisterlichen Coup seiner Schwester.

Kitty konnte nur hoffen, dass das Spiel bald zu Ende war und die Kinder entweder zum Toben nach draußen geschickt wurden oder etwas im Haushalt tun mussten oder am besten ganz und gar verschwanden. Sie musste Mrs. McCloskey befragen, wie sie Brid loswerden konnte.

Maude aber genoss es, ihre Kinder um sich zu haben, und erging sich nun in der Schilderung von Ellens Vorzügen, die vorrangig darin bestanden, dass das Kind nicht länger aus dem Hundenapf aß. Sie hielt Kitty den Tullamore Dew hin und wollte ihr etwas einschenken, doch Kitty wehrte ab. Damit der Griff zur Flasche nicht ganz umsonst gewesen war, reicherte Maude ihren eigenen Tee erneut um ein paar der guten Tropfen an.

»Natürlich hat Joey – das ist unser Hund – etwas nachgeholfen. Siehst du den Schorf da auf Ellens Nase? Der rührt von seinem letzten Zuschnappen her. Meist ging Joey ihr nur ans Kinn, einmal auch ans Ohr, aber das mit der Nase brachte dann den gewünschten Erfolg. Doch es ist nicht Joeys Verdienst allein. Ellen hat versprochen, es nie wieder zu tun – und sie hat ihr Versprechen gehalten, wie sie es immer macht.«

Aus dem Fernseher ertönte aufgebrachtes Geschrei. Drei Spieler – Iren, wie Kitty aus ihren Trikots schloss – gingen auf einen der Sportfunktionäre los. »Gut so, gebt’s ihm, Jungs!«, rief Mrs. McCloskey in Richtung Bildschirm. »Wir gewinnen und lassen uns das von niemandem streitig machen!« Ehe sie sich wieder Kitty zuwandte, warf sie einen flüchtigen Blick in Margarets Karten, nahm eine Pikdrei und schleuderte sie auf den Teppich. Rasch griff sich Peter die Karte, ordnete sie bei den seinen ein und legte dafür eine Herzvier ab. Mrs. McCloskey war es zufrieden und flüsterte abermals: »Hab ich’s dir nicht gesagt? Aus Peter wird mal was.«

Der Verzweiflung nahe erwog Kitty, ihr Anliegen in Gegenwart der Kinder vorzubringen, war es doch offenkundig, dass sie die ganze Zeit während ihres Besuches im Zimmer bleiben würden. Wiederum wollte sie sich nicht lächerlich machen vor ihnen oder sich Fragen aussetzen, auf die sie zwar Antworten parat haben, aber lieber nicht geben würde. Natürlich würde sie sie auch zurechtweisen können, sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern und sich auf ihr Spiel zu konzentrieren, das aber barg die Gefahr, dass Mrs. McCloskey, beleidigt ob des Affronts gegenüber ihren Kindern, die sie so vergötterte, kein Wort mehr sagen und Kitty ihren weisen Rat verweigern würde, dessentwegen sie sich herbegeben hatte.

Eine Alternative wäre, Mrs. McCloskey einzuladen, doch bald mal zu Besuch auf die Burg zu kommen, aber zweifelsohne würde sie mit all ihren reizenden Kindern im Schlepptau auftauchen, auch Joey würde nicht fehlen. Eine Burgbesichtigung ließe sich dann nicht vermeiden. Die Kinder würden durch die Hallen toben, herumschreien, um auszuprobieren, wo das beste Echo war, würden sich gegenseitig erschrecken, würden aufs Klo müssen. Ohne Kekse und Kuchen ginge es nicht ab. Auch Coca Cola dürfte nicht fehlen. Joey würde die Kühe schikanieren, das Schwein würde Joey zusetzen. Sly würde mit eingezogenem Schwanz abziehen und sich zwei Tage lang nicht blicken lassen. Webstuhl und Harfe gingen entzwei. Das Schlimmste aber wäre, wenn die Kinder Brid and Taddy sähen, sich über ihre Kleidung lustig machten und vor Vergnügen kreischten, wenn sie plötzlich vor ihren Augen verschwanden. Sie würden darauf bestehen, dass die armen Geschöpfe das Spiel wiederholten. Auch konnte Kitty sie versehentlich ins Verließ sperren.

Es kam nicht oft in ihrem Leben vor, dass Kitty nicht aus noch ein wusste. Jetzt diese Erfahrung zu machen, überraschte sie selbst, und lächelnd bat sie Mrs. McCloskey: »Vielleicht probiere ich es doch mit einem Tropfen.«

»Na, endlich!« Es blieb nicht bei einem Tropfen, der in Kittys Tasse landete, und sie musste der einschenkenden Hand Einhalt gebieten. »Zu gütig«, murmelte sie und bekam die Zähne nicht auseinander.

Mrs. McCloskeys ganze Aufmerksamkeit galt jetzt dem Geschehen im Fernseher. Sie rieb sich das Knie, öffnete und schloss die Faust. »Diebe! Diebe!« Nur kurz blickten die drei Kinder zum Fernseher, allzu rasch wurden sie in ihrer Neugierde enttäuscht – keine wirklichen Diebe waren zu sehen, nur eine Gruppe erwachsener Männer raste ständig hin und her –, und so widmeten sie sich wieder ihren Karten. Peter legte einen Herzbuben ab, womit er Margaret und Ellen nicht im Geringsten beeindruckte.

Kitty genehmigte sich einen stärkenden Schluck und sagte dann: »Könnten wir ganz unter uns miteinander reden?«

Verdutzt schaute Mrs. McCloskey auf und sah ihren Gast zum ersten Mal an, seit er das Haus betreten hatte. »Wir sind doch aber unter uns. Allein und in Familie.«

»Ich meinte du und ich, nur wir beide.«

Möglicherweise fiel Mrs. McCloskeys Lachen etwas spöttischer als beabsichtigt aus, denn auch ehrliche Fröhlichkeit schwang darin mit, aber Kitty hätte ihr am liebsten eine gelangt. »Du brauchst keine Bedenken zu haben«, sagte die gute Frau. »Die Kinder haben nicht das geringste Interesse an dem, was du vielleicht zur Sprache bringen willst. Geht es um die, du weißt schon wen, die du bei der Hochzeit gesehen hast?«

»Um eben die, ja.«

Mrs. McCloskey tätschelte Kittys Knie. »Dann erzähl!« Sie nahm eine von Margarets Karten und legte sie vor Peter ab, der sie aufnahm. »Nicht, dass du denkst, ich helfe nur deinen Schwestern«, flüsterte sie ihm zu. Sie trank noch genüsslich ein paar Schlucke Tee, lehnte sich mit einem Anflug von Großspurigkeit zurück und gab Kitty so zu verstehen, dass sie gesprächsbereit war.

Kitty leerte ihre Tasse, setzte sie auf die Untertasse zurück und wischte sich mit dem Rücken des kleinen Fingers die Lippen. Sie stand auf. »Vielleicht ein anderes Mal.«

»Wir haben doch aber noch Tee. Wo ich ihn extra gemacht habe.«

»Vielen Dank auch. Aber ich muss jetzt gehen.« Kitty mochte selbst kaum glauben, wie höflich sie blieb.

»Bitte schön, wenn du nicht weiter reden willst, will ich dich nicht länger halten.«

»Zu gütig aber auch.«

»So bin ich eben.« Mrs. McCloskey stand ebenfalls auf. »Peter, ich spiel für dich weiter. Du begleitest Mrs. Sweeney …«

»Mrs. McCloud«, verbesserte sie Kitty.

»Ach ja, natürlich. Ich hatte davon gehört, wollte es aber nicht glauben, wo doch Sweeney so ein schöner alter Kerry-Name ist.«

»Das gilt für McCloud nicht minder.«

»Wenn du darauf bestehst.«

»Tue ich.«

Mrs. McCloskey gab einen Stoßseufzer von sich und betonte damit hörbar ihr »Nun gut«, denn etwas anderes wusste sie nicht zu sagen.

Peter überließ der Mutter seine Karten, zog an den Gürtelschlaufen die Hosen hoch, die aber sogleich wieder zurückrutschten, und ging zur Tür.

»Das ist nicht nötig«, sagte Kitty. »So weit ist es doch nicht, auch wenn ich zu Fuß bin, weil ich dachte, laufen täte mir gut. Und den Weg kenne ich weiß Gott.«

»Peter würde aber enttäuscht sein. Wo er doch ein so lieber Junge ist.« Kitty deutete die Worte dahingehend, dass die einzig annehmbare Belohnung für den Edelmut des Jungen ein Gang zur Burg war. Peter hielt schon die Tür auf, sein Gesicht – offen und fröhlich, wie ein Gesicht nur sein kann – verriet freudige Erwartung.

»Ich will dich doch aber nicht von deinem Spiel abhalten«, sagte Kitty zu ihm.

»Ellen kann auch ohne mich gewinnen. Stimmt’s, Ellen?«

Ellen erwiderte nur mit einem gedämpften »Pscht.«

»Siehst Sie?« Peter, der mit seiner Aufgabe höchst zufrieden schien, schaute sie gespannt an. Ihm auszuschlagen, sie begleiten zu dürfen, brachte Kitty nicht übers Herz, und so sagte sie nur: »Okay. Gehen wir.«

Ein Blick zurück verriet, dass sich ein Abschiedsgruß erübrigte, ja, eher unerwünscht war, die drei waren völlig ins Kartenspiel vertieft. Man dachte schon nicht mehr an sie, und Kitty sah sich bemüßigt, ohne ein Lebewohl zu gehen.

Sie nahmen zunächst den Pfad, der zur Straße führte, schlüpften durch eine Öffnung in der Hecke und folgten einer Biegung, um bergan zur Burg zu gelangen. (Kieran hatte die Strecke gemessen und behauptete, bergab betrage sie einen Kilometer, bergauf aber wären es zwei. Kitty fand das auch, und so ging es jedem, der den Weg zu Fuß gelaufen war.) Peter hüpfte und sprang neben Kitty her, beglückt ob der Ehre, als Begleitschutz fungieren zu dürfen.

Aus dem späten Nachmittag wurde früher Abend. Nicht lange, und die Sonne würde hinter der Bergkuppe versinken und lange Schatten über die Felder werfen. Der Berg, der zum Teil bereits im Nebel verschwand, ragte zu ihrer Rechten empor. Auf den Abhängen, die sich zu ihrer Linken erstreckten, lagen unzählige weiße Felsbrocken, fast hätte man die Landschaft für eine Steilküste halten können. Manchmal kamen Kitty die Gebilde wie versteinerte Schafe vor.

Die Straße machte eine Rechtslinkskurve, still und stumm standen die Häuschen unten in der kühler werdenden Luft. Richtung Westen, gar nicht weit weg, war die See, auch sie ruhig; drei kleine Curraghs und was wie ein Kajak aussah, zogen langsam und friedlich auf ihrem Weg zur nördlichen Insel dahin. Noch hielten sich die Wolken zurück, die Gipfel schimmerten im Abendlicht, doch gleich würde die Abendsonne im Meer versinken.

Es brauchte keine Verständigung zwischen den beiden. Als gehorchten sie einem uralten, ihnen innewohnenden Trieb, gingen Kitty und Peter zu der Steinmauer, die die Straße säumte, und blickten auf das dunkler werdende Wasser mit dem glitzernden schmalen Band, das einer silbernen Leiter glich, die – wollte man der Legende glauben – einen vom Meer zur Sonne geleiten würde.

Peter unterbrach das Schweigen als Erster. Er hatte sich einen Popel aus der Nase gepult und betrachtete ihn angelegentlich, als wäre es ein Computer Chip, das zeitgenössische Äquivalent einer Kristallkugel, aus dem man geheimnisvolles Wissen lesen konnte. Neugierig zu erfahren, welche Geheimnisse der Chip preisgeben würde, wenn man ihn von verschiedenen Seiten untersuchte, drehte er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Meine Mutter sagt, Sie würden Taddy und Brid sehen. Stimmt das?«

Am liebsten hätte sich Kitty dem Jungen gegenüber ereifert, dass seine Mutter nicht ihre riesengroße Klappe gehalten hatte. Welches Recht nahm sie sich, oder welchen Grund hatte sie, mit einem Kind über ein so vertrauliches Thema wie Kitty und ihre Geister zu reden? Es ging niemand anderen etwas an. Nun würde es die Runde machen, man würde sie für verrückt halten, für eine, die Erscheinungen hatte und abergläubisch war. Doch schon im nächsten Moment besann sie sich eines Besseren. Was kümmerte sie, wer was dachte? Noch nie hatte sie sich etwas aus den Meinungen und Urteilen anderer gemacht, warum gerade jetzt? Und so erwiderte sie fast ein wenig trotzig: »Ja. Natürlich sehe ich sie. Sie gehören zur Burg.«

»Das glaubt meine Mutter nicht.«

»Nicht was?«

»Sie gehören nicht zur Burg. Ich meine – es kommen ja auch andere Leute zur Burg, und die sehen sie nicht, stimmt’s?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Sie würden es Ihnen sagen, die anderen Leute, meine ich. Oder sie würden es jemand anderem sagen, und der wieder einem anderen. Und der dann Ihnen.«

Kitty mochte es nicht, dass man ihr widersprach, schon gar nicht, wenn es ein für sein Alter kleiner Junge, mit Sommersprossen auf der Nase, tat und der – was ihr längst aufgefallen war – bei der morgendlichen Wäsche den Hals ausließ. Aber sie wollte ihm nicht grob kommen. Und sich schon gar nicht in seine Gedankenwelt einmischen – ein Wissen um Dinge, die Kitty von seiner Mutter hatte erfragen wollen.

Und dann fiel es Kitty wie Schuppen von den Augen: Ohne dass er es vielleicht selbst wusste, hatte Mrs. McCloskey den Jungen mit Vorbedacht als Ersatz geschickt, er sollte ihr die Botschaft überbringen, die zu erfahren Kitty zu ihr gekommen war. Der Junge würde ihr alles, was sie wissen wollte, sagen. Oder wenigstens all das, was Maude McCloskey aufgrund ihrer Weissagungen wusste, oder besser, was sie aus Geschichten, Überlieferungen, aus von Generation zu Generation weitergegebenen Legenden zusammengetragen hatte. Offensichtlich war der Junge, aus was für einem Grund auch immer, zum neuen Hüter verborgenen Wissens auserkoren worden, und der Gedanke, sie sei die erste Nutznießerin des frisch für die Berufung Geweihten, schmeichelte sie. Großes wurde ihm anvertraut, und unerschütterlich musste der Glaube seiner Mutter an seine Begabungen sein. »Aus Peter wird mal was.« Wie Maude diese Begabungen erkannt hatte, würde Kitty nie erfahren, sie verspürte allerdings auch nicht das Bedürfnis, es zu wissen. Was jetzt von ihr erwartet wurde, war, dass sie ihn ernst nahm, vielleicht auch ein wenig Mitgefühl für die Bürden der Wahrheit zeigte, die auf seinen schmächtigen Schultern lagen. Sein Wissen würde das des Propheten sein, dem sich andere Sterbliche verweigerten, das sie ablehnten oder verneinten; für seine seherischen Neigungen würde man ihn verhöhnen und verspotten, verehren und fürchten. Er würde eine Sonderrolle einnehmen und einen schweren Weg vor sich haben: die Wahrheit sagen, die man ihm nicht glaubte. Kitty wollte versuchen, ihm jetzt zu glauben. Was immer er ihr riet, sie wollte es, wenn möglich, befolgen.

Der Junge schien ihren Entschluss erkannt zu haben. Mit der Spitze seines rechten Schuhs kratzte er sich die linke Wade, betrachtete immer noch intensiv das Kügelchen, das er aus der Nase geholt hatte, und sagte: »Ihr Mann sieht sie auch. Außer ihm kein anderer.«

Es war das Angebot einer Übereinkunft – er würde sprechen und sie antworten, ebenso offen und ehrlich wie er. Kitty konnte einfach nicht anders und sagte: »Ja. Er sieht sie auch.«

Der Junge nickte wie zur Bestätigung der Abmachung, die sie fortan miteinander verband. »Das ist ja auch nur natürlich.«

»Natürlich? Wieso?«

Es war mehr ein Kichern als Lachen, das der Junge von sich gab. Deutete man seine Kopfbewegung richtig, so machte ihn das Thema verlegen. »Meine Mutter sagt, wenn zwei Menschen heiraten, verschmelzen sie zu einem. Wissen Sie, was sie noch sagt?«

»Nein. Aber ich würde es gern hören.«

»Sie sagt, da Sie Brid und Taddy gesehen haben und Ihr Mann sie jetzt auch sieht, weiß sie, zu wem von euch beiden ihr verschmelzt. Und zwar werden Sie es sein. Sie haben sie zuerst gesehen. Ihr schien der Gedanke zu gefallen. Wie finden Sie das?«

»Ich kann deiner Mutter schwerlich widersprechen, oder?«

»Besser nicht.«

»Und sie hat gelacht?«

»Sie war auf sich und den Gedanken richtig stolz.«

»Hmm. Ja.«

»Aber sie hat auch gesagt, Sie sollten sich nicht grämen. Er würde es nie erfahren. Wer er einmal werden würde. Es sei denn, Sie verraten es ihm.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich dafür eine … eine Notwendigkeit ergibt.«

»Das meinte auch meine Mutter. Sie sagte nur noch, es wäre nicht klug, es ihm zu sagen.«

»Danke.« Kitty blieb im Tonfall so neutral, wie es nur ging. Wenn irgend möglich, sollte der Junge von ihr nicht alles und jedes erfahren, besonders, wenn es sich um ganz persönliche Gedanken handelte, die tunlichst nicht für die Ohren anderer bestimmt waren, schon gar nicht für die ihres Mannes, ob sie nun mit ihm zu einer Person verschmelzen würde oder nicht. Genauso gut galt das für andere, Prophet hin, Prophet her, Seherin oder nicht Seherin.

Prompt bestätigte der Junge Kittys heimliche Befürchtungen und sagte: »Aber Sie sollten auch wissen, dass meine Mutter das nur denkt, genau wissen tut sie es nicht. Über das, was ich eben erzählt habe, ist sie sich nicht recht sicher. Es könnte wahr sein – oder auch nicht.« Er machte eine Pause. »Sie arbeitet noch daran.«

»Ach ja?«

Sie kam nicht dazu, um nähere Erläuterungen zu bitten, denn Joey tauchte schwanzwedelnd auf und drängte sich fröhlich zwischen sie. Der Junge sprang zur Seite. »Joey! Was suchst du hier? Scher dich nach Hause. Du wirst dort gebraucht, und du weißt das genau.« Joey, ein Collie und Hütehund, das weiße Fell braun und schwarz gefleckt, wedelte trotz der Zurechtweisung nur noch heftiger mit dem Schwanz, sah von Peter zu Kitty und wieder zurück zu Peter. »Ich muss ihn heimschaffen. Er muss bei den Kühen helfen.«

»Ich dachte, du wolltest mit zur Burg.«

»O nein, das sollte ich lieber bleiben lassen.«

»Wieso?«

Er kraulte Joey hinter den Ohren. Wohlig wackelte Joey mit dem ganzen Hinterteil. »Ich möchte nicht dort sein, wenn sie in die Luft geht.«

»Die Burg geht nicht in die Luft.«

»Es wird aber passieren. Meine Mutter sagt es.«

»Wirklich?« Kitty gefiel ihre völlig neue Art, nur noch in Ein-Wort-Sätzen zu reden, selbst nicht, aber sie konnte einfach nicht anders.

»Ich muss Joey heimschaffen.«

»Wenn sich deine Mutter so sicher ist, dass die Burg in die Luft geht, dann kann sie gewiss auch sagen, wann das geschieht.«

»Kann sie nicht.«

»Und du? Weißt du es?«

»Ich muss Joey heimschaffen. Er kriegt sonst Schelte.«

»Warte. Sag mir erst, was du sonst noch weißt. Oder was deine Mutter weiß.«

Peter hörte auf, den Hund zu tätscheln, und richtete sich auf. Er schaute auf seine Sneakers und bohrte mit der rechten Fußspitze in der Erde. Schließlich meinte er: »Sie sagen, meine Mutter sei eine Hexe.«

»Das habe ich nie gesagt.«

»Im Stillen sagen Sie es die ganze Zeit. Dreimal haben Sie es gesagt: als meine Mutter Ellen mit den Karten half, als sie das Fußballspiel beobachtete und als sie Ihnen von Margarets Asthma erzählte.«

Kitty hielt es für das Beste, sich jetzt zu trennen. Was immer ihr der Junge noch hätte erzählen können, sie würde auch ohne das klarkommen. Ein Eindringen in ihre geheimsten Gedanken durfte sie nicht zulassen. Schon gar nicht, wenn es um sie selbst ging. Bestimmt wusste er auch von ihrem inneren Monolog über seinen ungewaschenen Hals. Schluss mit dem Denken im Stillen. Jeden Gedanken vermeiden. Zumindest so lange, bis sie einen genügenden Sicherheitsabstand hatte zu diesem … diesem …

»Ich bin was Besonderes«, half er ihr bei ihrer Suche nach dem rechten Wort. »Und meine Mutter ist auch was Besonderes. Sie hat in mir das Besondere geweckt. Das hat nichts mit verrückt oder seltsam zu tun. Nur mit besonderen Eigenheiten. Ungewöhnlich. Einfach anders als die Übrigen. Und Sie sind auch etwas Besonderes.«

»Ich?«

»Sie sind Schriftstellerin. Vielleicht können Sie deshalb Brid und Taddy sehen. Weil Sie Schriftstellerin sind. Jedenfalls erklärt sich meine Mutter das so.«

»Ja?« Und um von der Einsilbigkeit wegzukommen, fügte sie rasch hinzu: »Was soll das mit der Schriftstellerei zu tun haben?«

»Weil Sie ständig mit Geistern leben. Mit Leuten, die sonst niemand sieht. Sie können gar nicht anders.«

»Aber …«

»Ich muss Joey heimschaffen.« Er kehrte zur Straße zurück. Kitty tat es ihm gleich, stellte sich dann unmittelbar vor ihn und versperrte ihm so den Weg. Peter sah von Kitty zu Joey und dann wieder zu Kitty. Joey wich ein kleines Stück zurück, hielt Abstand zu Kitty, blieb aber dicht neben Peter.

»Du meinst«, versuchte es Kitty erneut, »du meinst, wenn ich eine meiner Schriftstellerfreundinnen auf die Burg einlade …«

»Sie haben keine Schriftstellerfreundinnen.«

»Na gut. Aber angenommen, ich hätte welche und würde sie – von mir aus auch ihn – zu uns einladen …«

»Er würde sie nicht sehen, es sei denn, er ist ebenso ein guter Schriftsteller, wie Sie es sind.«

»Ich bin eine reichlich schlechte Schriftstellerin. Das weiß jeder.«

»Brid und Taddy vielleicht aber nicht.«

»Dann nur, weil sie nicht lesen können. Jedenfalls kein Englisch.«

»Sie irren. Die beiden wissen sehr wohl, dass Sie Dinge sehen, die niemand anders sieht.«

»Ich?«

»Sie! Brid und Taddy wissen, dass Sie nach der Wahrheit suchen. Wenn Sie schreiben, meine ich. Sie finden sie nicht immer, doch wenn es Ihnen nicht gelingt, dann nehmen Sie die Dinge hin, wie sie sind, denn Sie glauben an das Geheimnisvolle. Sie akzeptieren es. Ihnen ist davor nicht bange. Sie fühlen sich nicht getrieben, alles erklären zu müssen. Großes Talent haben Sie nicht. Sie sind, wie Sie sagen, keine gute Schriftstellerin. Aber Sie verschanzen sich nicht hinter einer Mauer mit Ihrer Phantasie. Sie zermartern sich nicht Ihr Hirn, denn um die Wahrheit ans Licht zu bringen, hilft auch kein Verstand. Das ist ein Trugschluss. Hinter die Wahrheit kommt man nur mit Phantasie. Wenn Sie schlauer wären, mehr Intelligenz hätten, würden Sie Gefahr laufen, Ihre Phantasie weniger zu nutzen, als Sie es jetzt tun. Das sagt jedenfalls meine Mutter. Und sie ist keine Hexe.«

»Du bastelst dir das alles nur zurecht. Oder besser, deine Mutter tut das. Genauso, wie sie sich Erklärungen zusammenreimt, warum mein Mann und ich die Geister sehen.«

Der Junge und der Hund machten Anstalten zu gehen, wobei Joey kein Auge von Kitty ließ. Dann drehten sie sich um und zogen los. Kitty hinterher. Ohne stehen zu bleiben, sagte Peter: »Und wenn Sie nicht glauben, was ich sage, sind Sie eben nichts Besonderes mehr. Dann sind Sie wie alle anderen. Die glauben uns auch nicht. Mich stört das nicht weiter. Will sagen, meine Mutter stört das nicht. Sie sagt …«

»Kannst du mir nicht sagen, was du meinst?«

»Meine Mutter sagt, was wir sagen und was wir sehen, ist die Wahrheit. Wenn aber jeder glauben würde, was wir sagen, wüssten wir, es ist nicht die Wahrheit. Sie aber haben es geglaubt. Weil Sie nicht wie die anderen sind. Ich hab’s Ihnen ja gesagt. Sie sind was Besonderes.«

»Fällt dir kein besseres Wort ein?«

»Schriftstellerin?«

»Na gut. Lassen wir es bei ›was Besonderes‹.«

»Joey, komm.« Er beschleunigte seinen Schritt, Joey folgte ihm getreulich. Unschlüssig blieb Kitty stehen. Die vielen offenen Fragen verwirrten sie, sie war innerlich zu aufgewühlt, als dass sie jetzt hätte zur Burg gehen können. Also lief sie ihnen hinterher. Als sie die beiden eingeholt hatte, schnipste der Junge mit den Fingern.

»Joey, hierher!« Joey gehorchte, ließ aber Kitty nicht aus den Augen.

Kitty hielt sich neben dem Jungen, sie hoffte, so seinen Gesichtsausdruck besser zu sehen. Er schien verärgert. »Na gut«, begann sie. »Deine Mutter ist keine Hexe. Selbst wenn es an dem wäre, was wäre schon Schlimmes dabei? Weiß eine Hexe nicht das, was sonst niemand weiß? Denk doch mal nach. Wenn deine Mutter eine Hexe ist, dann bin ich nach dem, was sie von mir denkt, auch eine Hexe.« Kitty war mit sich höchst zufrieden. »Ja, so und nicht anders. Ich bin eine Hexe. Schau mich an. Ich bin eine Hexe.«

»Eine Hexe hat keine Seele. Eine Hexe kann nicht sterben. Meine Mutter aber kann sterben«, entgegnete er ruhig. »Und Sie auch.« Er schwieg kurz. »Und ich auch.«

So entschlossen, wie er einherschritt, so fest, wie seine Stimme bei seinen Worten klang – es verunsicherte Kitty, und sie erwog, es mit der Fragerei gut sein zu lassen. Vielleicht blieb man in diesem Fall, wie in den meisten Fällen, lieber unwissend. Sie sollte jetzt besser umkehren und den Hügel erklimmen, zu ihrer Burg, zu ihren Geistern gehen. Zu ihrem Mann.

Peter war stehen geblieben, bohrte wieder in der Nase und holte einen noch kleineren Popel heraus. Neugierig betrachtete er ihn, mit voller Konzentration. »Wenn Sie Taddy und Brid loswerden wollen, müssen Sie die Burg in die Luft sprengen. Dann verschwinden sie.«

Auch Kitty wäre gern stehen geblieben, aber der Junge lief schon wieder weiter. »Wie sollte ich die Burg in die Luft sprengen?«

»Das Schießpulver.«

»Ich meine nicht wie. Ich meine, weshalb sollte ich sie in die Luft sprengen?«

»Damit Taddy und Brid gehen. Wenn Sie sie loswerden wollen, ist das die einzige Möglichkeit.«

»Ich soll losziehen und mir Dynamit besorgen …«

»Nicht nötig. Ich hab’s doch eben gesagt. Das Schießpulver. Es ist dort oben.«

»Wo?«

»Dort.«

»Was heißt dort?«

»Meine Mutter sagt, manchmal lassen Einzelheiten zu wünschen übrig.«

»Na, vielen Dank. Erst erzählst du mir, ich sitze auf einem Pulverfass, und dann willst du mir nicht sagen, wo es ist.«

»Nicht mal Brid und Taddy wissen es.«

»Wie können auch die das nicht wissen?«

»Sie wissen gar nichts. Sie wussten damals nichts, und sie wissen jetzt nichts. Sie wissen nicht einmal, weshalb sie dort sind oder was mit ihnen geschehen ist. Sie wissen nur, dass sie eigentlich irgendwo anders sein müssten. Wiederum müssen sie auch auf der Burg sein. Jedenfalls solange es die Burg gibt.«

»Und wenn man die Burg in die Luft sprengt, sind auch sie mit fort, landen irgendwo anders, wo auch immer?«

»Die Burg ist der Ort, wo sie gehängt wurden, ohne zu wissen, warum ihnen das geschah. Eigentlich sollte die Burg untergehen. Nicht sie. Solange die Burg steht, müssen sie bleiben.«

»Einen anderen Weg gibt es nicht? Nur den, die Burg in die Luft zu sprengen?«

»Meine Mutter sagt, nur so geht es und nicht anders. Und das glaubt sie nicht nur. Sie weiß es.«

Ein völlig neuer Gedanke kam Kitty. Maude McCloskey war eine Hexe. Eine richtige Hexe. Eine Zauberin. Sie war es, die die Schatten der sich grämenden Brid und des verwirrten Taddy gerufen hatte. Mit ihren Zauberkräften hatte sie sie herbeigeholt, einzig und allein zu dem Zweck, Kitty McCloud von der Burg zu vergraulen. Sie neidete Kitty ihren Erfolg und Wohlstand, ihr gutes Aussehen und dass sie sich den besten Mann auf Erden geangelt hatte. Die ganze Welt beneidete sie – bei all ihren Begabungen, konnte es da überhaupt anders sein? Was der Junge über ihre Phantasie, über ihre Besonderheit, wie er es nannte, gesagt hatte, war pure List und Gerissenheit, eine Form von Schmeichelei, der sie, wenn auch nur kurz, erlegen war. Aber das war aus und vorbei. Sie würde sich aus den Fesseln der Seherin befreien. Alles, was man ihr hatte weismachen wollen, war hinfällig. Selbstverständlich würde sie die Burg nicht in die Luft sprengen. Ihre Burg. Sie würde Pater Colavin bitten, noch einmal zu kommen, um die unerwünschten Geister zu beschwören und sie von ihrem Grund und Boden zu vertreiben. Schluss mit dem ganzen Spuk. Es ging nur um die richtigen Worte, die richtigen Segenssprüche, und er würde …

Sie hielt inne. Was redete sie sich da ein? Nie und nimmer könnte sie so etwas tun – sie mit Glocke, Bibel und Kerze terrorisieren. Sie vertreiben – sie verstoßen, als wäre sie selbst eine aus der anglo-irischen Oberschicht, die noch einmal zurückkehrte, um das unvollendete Werk zu vollenden.

Sollte doch Kieran in die hübsche Brid verliebt sein. Sie war ein Geist, ein Schatten, ein wandelnder Schatten. Natürlich hatte auch Kitty Charme, greifbar und gegenwärtig, mit dem sie ohne große Mühe einen so liebebedürftigen Mann wie den ihrigen betören, seinen prachtvollen Körper mit Köstlichkeiten belohnen könnte, von denen andere nur träumen würden. Dass sie Geister nicht fürchtete, hatte sie bereits bewiesen. Was sie jetzt tun musste, war, diesen bewundernswerten Charakterzug noch stärker zu zeigen. Sie musste das jüngste Eindringen in ihre Gefilde geschehen lassen, um die natürliche Ordnung wiederherzustellen – eine natürliche Ordnung, in der ein für alle Mal feststand, dass sie bei ihrem Mann keine Konkurrenz dulden würde – sie musste also die Situation hinnehmen, sie akzeptieren und gleichermaßen ignorieren.

Wie sie das tun sollte, wo schon beim bloßen Denken solch extravaganter Gedanken der Zorn in ihr aufwallte, war ihr schleierhaft. Aber wenn es denn sein musste, würde sie es schon schaffen. Ihre ihr innewohnenden Fähigkeiten würden sie nicht im Stich lassen. Sie würden sie nicht nur, wie schon so oft, nicht im Stich lassen, sie würden ihr zum Sieg verhelfen.

Kitty sah sich schon triumphieren, doch ein letzter Gedanke ließ sie zaudern. Keats’ griechische Urne krachte ihr mit voller Wucht auf den unübertrefflichen Kopf: Der Jüngling, der dem Mädchen nachjagt, beide für alle Ewigkeit auf ein Stück Ton gebannt, verkünden eine Erkenntnis, die die arme, bedrängte Kitty fast erstarren ließ. »Bist du dem Ziel auch nah«, heißt es bei Keats, »liebst du doch ewig, und bleibt sie so schön.« Und bleibt sie so schön! Ewig! Kitty, ein Kind rasch vergehender Zeit, dem Altern anheimgegeben, wenn sie Pech hatte, auch mit Fettleibigkeit gestraft und letztendlich zum Verwelken bestimmt. Und sie ewig schön!

Wenn sie nur wüsste wie, die Burg würde noch vor Sonnenuntergang hochgehen. Oder sollte sie lieber Pater Colavin kommen lassen? Sollte doch die niederträchtige Brid wie Eva vertrieben werden, ins Ungewisse, mit Feigenblatt oder ohne. Sollte sie heulen und zetern. Und Taddy konnte sie auch gleich mitnehmen.

Der unsäglich traurige, verwirrte Taddy. Verbannt. Aus Kittys sorgenvollem Blickfeld entschwunden. Für immer fort. Nie wieder würde sie ihn in den schattigen Hallen sehen. Nie wieder würde er die klagenden Weisen spielen, die nur er dem Instrument entlocken konnte. Er würde die Harfe ein letztes Mal zurücklegen und für immer entschwunden sein.

Hätte es in Kitty McClouds Macht gelegen, etwas zu unternehmen, das ihren Gefühlen entsprach, sie hätte sich – auch ohne Schießpulver – in tausend Stücke gesprengt, unzählige Teilchen, die über ganz Kerry niedergehen würden bis hinaus aufs Meer, winzige Fetzen Fleisch und Haar und Knochen, Reste der Milz, Klümpchen ihres strapazierten Hirns, Splitter vom Schädel, und weiter weggeschleudert als alles andere würde irgendwo das Herz landen, dem sie in ihrer Verwirrung mehr zugemutet hatte, als es ertragen konnte.

Doch eine so simple Lösung der Widersprüche, die ihr in Kopf und Herz tobten, war nicht gegeben. Sie musste sich losreißen, musste geradewegs dem schmalen und zunehmend steilen Pfad folgen, der sie heimwärts führen würde. Auf die Burg. Auf die blutige Burg. Blut. Blut. Sie wollte Blut. Aber wessen? Niemandes Blut. Nicht Kierans. Nicht ihrs. Nicht einmal – wenn irgend möglich – das Blut von Brid oder Taddy. Ein einziger Gedanke überlagerte jetzt alles andere. Sie war mit einem Fluch belegt. Dem Fluch der Verwirrtheit und Widersprüchlichkeiten. Wie ein Leichentuch hatte er sich auf die gute, liebenswerte, untadelige Kitty McCloud gesenkt.

Ohne dass Kitty es bemerkt hatte, war Peter fünf Schritte von ihr entfernt stehen geblieben, und mit ihm der Hund. Erst als er laut rief, wurde sie gewahr, dass sie alles um sich herum vergessen hatte. »Ich bringe Joey zurück. Er wird dort gebraucht.«

Kitty drehte sich um und hatte den Jungen vor sich. Er krauste die Nase, so dass sich die Haut über den Jochbeinen spannte und die Sommersprossen fast die Augen berührten. Der Hund saß hechelnd da, schaute zu ihm auf und erwartete ein Kommando. »Meine Mutter sagt, kommen Sie, wann immer Sie Lust haben, zu einer Tasse Tee. Sie findet es schön, dass Sie in der Burg wohnen. Sie sagt, sie sei froh, dass Sie es sind, die dort lebt, und nicht wir.«

Kitty, inzwischen ruhiger geworden, hatte eine letzte Frage. »Du hast vorhin gesagt, es bestünde ein Unterschied zwischen dem, was deine Mutter denkt und was sie weiß. Dann tauchte der Hund auf, und du bist nicht wieder darauf zurückgekommen. Kannst du mir noch mal sagen, was sie denkt und was sie weiß? Ich bin ein wenig durcheinander und …«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Peter, ohne sie ausreden zu lassen.

»Du hast es doch aber eben erst vor wenigen Minuten gesagt.«

»Kann sein. Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas gesagt zu haben.«

»Du hast aber ganz deutlich unterschieden …«

»Auch daran kann ich mich nicht erinnern. Ich sage Dinge und weiß sie dann nicht mehr.«

»Du hast gesagt, deine Mutter hätte gesagt …«

»Ich vergesse immer wieder, was meine Mutter gesagt hat. Aber verrate ihr das nicht.«

»Du erinnerst dich an nichts von dem, was du …«

»Ich muss jetzt heim. Und Joey auch. Sonst setzt es für uns beide was.«

Kitty überlegte schon, ob sie ihn nicht bitten sollte, noch einmal in der Nase zu popeln, hielt es dann aber doch für besser, ihn gehen zu lassen. Er hatte sich eine Ruhepause verdient. Sie ging dicht zu ihm heran und sah ihm in die Augen. Sie hatten ein warmes Braun, und das Weiße war weiß wie Porzellan. Er schien überrascht von ihrer unmittelbaren Nähe. Er erinnerte sie ein wenig an Taddy. »Du bist ein lieber Junge«, sagte sie. »Und ich danke dir.« Sie hob die Hand und berührte seine Wange. Im gleichen Moment grub der Hund die Zähne in ihren linken Oberschenkel. »Au!«, schrie sie und wehrte das kleine Scheusal ab. Der Hund wedelte nur mit dem Schwanz und – wie Kitty zu erkennen glaubte – grinste selbstzufrieden.

»Oh, das tut mir leid«, sagte der Junge. »Machen Sie sich nichts draus. Er ist harmlos.«

»Harmlos? Wo er mich gerade gebissen hat?«

»Ich weiß. In der Schule bin ich ein Schwächling, und sowie mich da jemand anfasst, schnappt er zu.«

»Du hättest mich warnen sollen.«

»Ich dachte nicht, dass er so reagieren würde, bei Ihnen jedenfalls nicht.«

»Wie das?«

»Sie wohnen auf der Burg. Ich dachte, jemand, der auf einer Burg wohnt, würde nie gebissen werden.«

»Dann weißt du es jetzt.«

»Hm. Seltsam. Finden Sie nicht?«

Kitty blieb ihm eine Antwort schuldig. Sie wollte sich weitere Verwirrung ersparen. Der Junge machte kehrt und ging die Straße zurück. Nur ab und an blieb er stehen, um sich die linke Wade zu kratzen. Der Hund beobachtete sie noch eine Weile, lief ihm dann aber hinterher und hielt sich neben ihm, sah zu ihm auf, mit heraushängender Zunge, grinsend, erwartungsvoll. Kitty blickte ihnen nach, bis sie hinter einer Kurve verschwanden und sie nur noch die leere Straße vor Augen hatte.

Als sie die Steinmauer erreichte, wo der Junge sich über sie und das Besondere ausgelassen hatte, war Kitty versucht, stehen zu bleiben und noch einmal über die Weite zu schauen, wie sie sich einem darbot – Land, Meer, Himmel, Felsen, Schafe, Ginster. Doch gleich dem Jungen und dem Hund warteten auch auf sie Pflichten. Sie musste ihnen nachkommen. Egal, wie sie sich ihr darstellen würden.