Kitty saß am Computer in ihrem Arbeitszimmer neben dem ersten Absatz der Wendeltreppe, die auf den mit Zinnen versehenen Turm führt. Sie hatte sich in ihrer Arbeit festgefahren, ihre Einbildungskraft ließ sie im Stich, sie konnte ihr nichts Neues entlocken, so sehr sie sich auch mühte. Vergebens waren die Anstrengungen, die Hirnschale zu erweitern, damit sie einem Gehirn Platz bot, das alles aufnahm, was Kitty wissen musste, was sie sehen und hören musste. Frustriert, wie sie war, entschloss sie sich, auf den Turm zu steigen und ihre Nöte dem frischen Wind zu offenbaren.
Als sie die Windung emporkletterte, die sie zum nächsthöheren Treppenabsatz brachte, blieb sie stehen. Sie wusste, sie würde den Webstuhl erblicken, ohne aufgezogene Fäden, nackt und bloß, das wurmstichige Holz abgenutzt und im Laufe der Zeit grau geworden, das Trittbrett glatt geschliffen von der Berührung ungezählter Füße. Sie wusste, sie würde auch die kleine saitenlose Harfe sehen, eine von der Art, wie man sie sich mit einer Hand gegen den Leib gedrückt hielt und mit der anderen die Saiten zupfte. Die Wirbel zum Spannen der Saiten waren noch da, jeder wies in eine andere Richtung wie schief gewachsene Zähne. Sie hatte sich schon gefragt, ob die sich wieder ausrichten ließen, wenn der Harfe neue Saiten aufgezogen würden. Das Instrument lag auf einem einfachen Schemel, dessen Holz nie einen Farbanstrich oder sonst eine Oberflächenbehandlung erfahren hatte. Wurmlöcher, wie die im Rahmen des Webstuhls, ließen erahnen, wie unvorstellbar viele Jahre darüber hinweggegangen waren.
Zum ersten Mal hatte es Kitty beim Anblick von Harfe und Webstuhl gereizt, die Harfe aufzunehmen und den Webstuhl auszuprobieren, zu versuchen, ob der Tritt sich bei der Berührung mit ihrem Fuß bewegen würde. Doch ihre nächste Regung war, nichts anzutasten. Diese Gegenstände waren nicht von den Hausbesetzern zurückgelassen worden, sie waren uralt und etwas Heiliges in diesem Raum. Seither, wenn sie beim Aufstieg zur Brustwehr oben daran vorbeiging, hatte sie dem Staub Ehrfurcht gezollt und war weitergegangen, genauso wie Kieran, wenn er auf den Turm stieg.
Auch an diesem Tag, an dem sie mit dem Schreiben überhaupt nicht vorankam, nahm Kitty die letzte Windung der Treppe und betrat den Absatz. Ohne auf ihre Gegenwart im mindesten zu achten, arbeitete Brid am Webstuhl, ihre schmutzigen nackten Füße bewegten den Tritt auf und ab. Ihr Rhythmus war ebenmäßig und ohne jede Anstrengung, Warenbaum und Kettbaum drehten sich. Der Tritt öffnete das Fach, und so konnte das Mädchen das Schiffchen zwischen die Kettfäden werfen – nur waren da gar keine Fäden.
Ebenso wurde überhaupt kein Tuch gewebt, doch das schien das Mädchen keineswegs zu stören. Während das Schiffchen über und durch die unsichtbaren Fäden flog, blieb Brid völlig ruhig und unbewegt. Taddy hielt die Harfe auf der linken Seite, hatte sie unters Kinn geklemmt, der Boden ruhte auf dem Oberschenkel. Langsam bewegte er seine rechte Hand über die Harfe, strich leicht mit den Fingern darüber hin; das Ganze wirkte umso graziler, da keine Saiten zum Zupfen da waren; die Fingerspitzen glitten nur durch die leere Luft.
Kitty sah ihn im Profil, sein Gesicht war regungslos, die Augen niedergeschlagen. Er lauschte. Wie auch Brid. Ob das Lied traurig oder glücklich klang, würde sie nie erfahren, aber aus den entrückten Mienen von Taddy und Brid schloss sie, dass Erinnerungen sie gefangen nahmen.
Kitty wusste, sie musste sich umdrehen und so leise wie möglich wieder nach unten gehen. Sie musste zurück an ihren Computer. Sie musste leugnen, was sie gesehen hatte, was sie eben sah. Oder sie musste überprüfen, wie ihre Psyche funktionierte, und entscheiden, ob sie noch normal oder schon irre war. Als Selbstschutz suchte sie nach einer Rechtfertigung für das Geschehen und wollte sich einreden, dass das alles gar nicht so unnatürlich war. Ihr ganzes Leben lang – die in Amerika verbrachte Zeit ausgenommen – hatte sie dieses Phänomen begleitet, Dinge erschienen aus den Nebelschwaden und verschwanden wieder: Das konnte ein Baum sein, der nur wenige Meter entfernt war, die Insel in der Bucht, die hohen Kämme der Berge, ja sogar jedes Schaf oder jede Kuh, die man eben noch hatte sehen können. Auf die Gebilde am Himmel war schon gar kein Verlass. Ihr eigenes Haus konnte verschwinden, nachdem sie gerade drei Schritte aus der Tür getreten war. Im Grunde genommen war sie auf die gegenwärtigen Erscheinungen hinlänglich vorbereitet. Und sie sträubte sich auch weniger dagegen, als sie es getan hätte, wäre sie anderswo geboren worden als auf diesem letzten Zipfel der westlichen Welt, wo die ewig aufsteigenden Nebel das Wahrnehmbare und das Nichtwahrnehmbare so dicht beieinander sein ließen. Geister zu sehen, konnte eine Gabe sein, die einem in Kerry schon bei der Geburt verliehen wurde. Sich dieser Gabe zu verweigern, war unmöglich. Sie hatte lediglich die Wahl, wie sie mit dieser Heimsuchung umgehen sollte. Die Entscheidung blieb noch zu treffen – besonders auch, weil sie nicht die geringste Ahnung hatte, weshalb gerade sie auserwählt war, wie es schien, niemand anders sonst, die Hausbesetzer nicht und auch keiner in der ganzen Umgebung. Hätte es sonst noch jemanden getroffen, wäre es nicht nur beiläufig erwähnt, sondern herausposaunt worden. Am bedeutsamsten aber war, dass nicht einmal ihr Mann ihr von irgendwelchen »Erscheinungen« berichtet hatte.
Ihr nächster Gedanke war, sie könnte diese Geisterbilder nicht länger nur als Absonderlichkeiten der Grafschaft Kerry mit ihren ewig wechselnden Schatten abtun, die ohne jede Vorwarnung die Unterschiede zwischen Wirklichem und Unwirklichem verwischten. Das war Brid; das war Taddy, wie Maude McCloskey sie genannt hatte. An ihren Hälsen trugen sie die Male von dem einschneidenden Strick. In ihren Gesichtern zeigte sich der Verlust, mit dem sie sich wohl abgefunden hatten, ein Kummer, dessen Ursache sich in ihr Herz gebrannt hatte, dort gehegt und gepflegt wurde, bis einmal ein Ritual gefunden wurde, das sie wieder vereinigte und ihnen Frieden verhieß oder wenigstens eine Rast von dem ewigen Umherwandern, das ihnen nun auferlegt schien. Kitty beschloss, weiter nach oben an die frische Luft zu steigen. Während sie auf Land und Meer schaute, würde sie ihre Gemütsverfassung prüfen, könnte sie diesen Angriff auf ihre bisherige Überzeugung durchdenken, die – ob nun mit oder ohne Nebel – darin bestand, dass es solche Wesen wie Geister nicht gab, ebenso keine Kleinen Leute, keine Kobolde, keine Königreiche oder Schlösser der Unterwelt, keine Kinder, die gestohlen wurden, keine raubgierigen Bestien, die zuschlugen, einen packten, verschleppten und einsperrten. Sie wollte sehen, wie sich Brid und Taddy, wenn es überhaupt eine Brid und einen Taddy gab, verhielten, wenn sie durch ihr ureigenstes Reich schritt. Würden sie einfach verschwinden? Oder würden sie sie vielleicht sogar ergreifen, sie auf die Plattform oben schleifen und über die Brüstung stürzen, weil sie in diese Welt eingedrungen war, in der man sie verraten hatte? Es gab nur einen einzigen Weg, das herauszufinden.
Kitty durchquerte den Raum, als gäbe es dort nichts Außergewöhnliches. Brid und auch Taddy kamen ihren Beschäftigungen nach. Bevor sie auf die Stufen trat, die nach oben auf den Turm führten, schaute Kitty noch einmal verstohlen zurück, wollte sich vergewissern, ob die beiden noch da waren. Und sie waren noch da, Brid saß am Webstuhl, Taddy hielt die Harfe. Ihre Gegenwart kümmerte sie nicht.
Die Falltür am Ende der engen Treppe klemmte wie üblich. Kitty stieg so hoch, dass sie mit eingezogenem Kopf und flachen Händen gegen die Bretter drücken konnte. Angetrieben von dem Bestreben, ins Freie zu gelangen, nahm sie alle Kraft zusammen und stemmte sich nach oben, Kopf und Hände, Rückgrat und Beine einzig und allein darauf konzentriert. Die Falltür konnte nicht anders, sie musste nachgeben.
Kitty kletterte hinaus und lehnte sich an die Brüstung. Sinnend blickte sie aufs offene Meer im Südwesten. Doch über Maggie Tulliver and Mary Ann aus der Mühle am Floss schoben sich Brid und Taddy. Und Kitty war ihre einzige Augenzeugin. Selbst die Seherin hatte sie nicht ausmachen können, obwohl sie nach Kittys Beschreibung gewusst hatte, wer sie waren. Nämlich die jungen Geiseln, die man vor zweihundert Jahren aufs Geratewohl zum Tod durch Erhängen ausgewählt hatte, um die Pulverschwörung aufzudecken. Manche glaubten, es habe überhaupt keine Verschwörung gegeben, andere waren vom Gegenteil überzeugt. Jedenfalls startete eine monatelange Suche mit einer Intensität, die zwischen zwanghaftem Trieb und roher Brutalität angesiedelt war. Die Burg wurde praktisch auseinandergenommen, Äcker und Wiesen wurden umgepflügt, Grenzwälle zerstört und riesige Findlinge umgewälzt, doch der Sprengstoff wurde nicht gefunden. Als das rigorose Vorgehen schließlich endete, hatten die Hinrichtungen längst stattgefunden, und da man auf Beweise verzichtete, nahm die Gerechtigkeit ohne weiteren Einspruch ihren Lauf. Die Geister der Gehängten blieben sich selbst überlassen – falls man ihnen nicht sogar ausdrücklich gestattet hatte zu bleiben. Aber zu welchem Zweck? Zu spuken, Leute so zu erschrecken, dass ihnen die Haare weiß oder sie um den Verstand gebracht wurden? Soweit Kitty es einschätzen konnte, wollten sie keine Rache üben. Sie hatten nichts kaputt gemacht. Sie waren – vorsichtig gesagt – sehr wählerisch mit dem Zeitpunkt, wann sie sich zeigten. Kitty McCloud schien den alleinigen Anspruch auf diese Ehre zu haben – oder auf den Fluch.
Der Fluch. Bestand er nur im Erscheinen dieser verwirrten Geister? Wenn dem so war, konnte das ganze Land, konnte die ganze Welt verflucht sein, so sittsam waren sie, so anmutig ihre Gegenwart. Gewiss waren sie eher ein Segen als eine Plage. Aber was hatten sie mit Kitty zu tun, und was hatte Kitty mit ihnen zu tun? Dass sie auserwählt war, wusste sie bereits. Aber warum? Sie verfügte über keine übersinnlichen Kräfte. Sie war sich keineswegs sicher, ob sie glaubte, was ihre Augen gesehen hatten. Und doch, gesehen hatte sie etwas.
In der Ferne toste die wilde See. Immer wieder warfen sich schaumgekrönte Wogen gegen die Küste. Kitty war der ganze Aufruhr gleichgültig. Sie hatte schon Sorgen genug, konnte sich nicht auch noch um die Verschrobenheiten der Meerestiefen kümmern. Und sie begriff, sie würde einfach hinnehmen müssen, was sie nicht verstehen konnte. Etwas Mysteriöses war schließlich von Natur aus nicht dazu geschaffen, erklärt zu werden.
Gewiss, als Schriftstellerin verfügte sie über eine innere Triebkraft, und die drängte sie, nach Erklärungen zu suchen, ein Motiv bloßzulegen, das Chaos der menschlichen Existenz zu bändigen. Sie war eine geschickte Manipulatorin, hatte sich ganz ihrer Berufung hingegeben, die Bewegungen der unsichtbaren Hand des Schicksals aufzuzeichnen, ihre Leser zu versichern, dass vorherbestimmte Ereignisse eintraten und dabei Wahrheiten enthüllten, die sonst unerkannt geblieben wären. Von ihr erwartete man geradezu, das Mysteriöse aufzulösen. In eigener Person sich mit Mysteriösem abzufinden, stand ihrer Berufung entgegen. Zuzugeben, dass ihre diesbezügliche Begabung ihre Grenzen hatte, hieß, eine Niederlage eingestehen.
Aber ihr blieb keine andere Wahl. Sich zu weigern, mit der Wirklichkeit dieser Unwirklichen zu leben, hätte von ihr etwas gefordert, das zu geben sie nicht bereit war: nämlich die Burg zu verlassen. Den Fluch hinter sich zu lassen. Diese verstörten Jugendlichen aus ihrem Denken zu verbannen und ihr Geschick zu vergessen, ein Geschick, das sich, abgesehen davon, dass sie gehängt wurden, erst noch erfüllen müsste. Wie konnte sie so etwas tun? Wie konnte sie die im Stich lassen, die alle Welt im Stich gelassen hatte?
Kitty stand an der Brüstung und sah zu, wie die Wellen gegen die Klippen brandeten. Sie tat nicht recht daran, sich von der Gegenwart des Mysteriösen bedroht zu fühlen. Sie war lediglich auf die andere Seite der üblichen Begrenzungen menschlichen Seins gedrängt worden. Entweder besaß sie bereits eine besondere Gabe, oder sie war ihr gerade zuteilgeworden. Ihr war eine Ehre erwiesen worden, und sie zurückzuweisen oder sich dagegen aufzulehnen, indem sie entweder verrückt wurde oder die Burg aufgab, vertrug sich nicht mit ihrer Natur. Sie würde zu dem Treppenabsatz unten hinabsteigen, zum Webstuhl und der Harfe, sie würde, wenn möglich, mit Brid und Taddy reden, würde ihnen sagen, dass sie die Einladung in ihr Mysterium annähme. Sie würde ihnen weder keine Beachtung schenken noch ihre Gegenwart leugnen. Sie würde keinen Versuch unternehmen, sie mit Beschwörungen aus ihrem Heim zu vertreiben oder ihnen zu verbieten, sich an ihrem Herd wohlzufühlen, soweit ihnen das vergönnt war. Sollten sie irgendwelche besonderen Wünsche oder Forderungen haben, wollte sie alles tun, was sie konnte, um sie zu erfüllen.
Sie stieg die steinernen Stufen hinab, überließ die See ihrem sinnlosen Toben. An der Windung vor dem Treppenabsatz blieb sie stehen. Brid, die an ihrem Webstuhl tätig war, hielt auch inne, ebenso Taddy mit seiner Harfe. Niemand bewegte sich. Nachdem ein kurzer Moment verstrichen war, fuhr Brid in ihrer Beschäftigung fort, und Taddy nahm sein stummes Saitenzupfen wieder auf, als wäre da nur eine Generalpause auf dem Notenblatt verzeichnet gewesen, von dem er spielte.
Anstatt ihren Weg zu den Stufen auf der anderen Seite des Raums fortzusetzen, wartete Kitty und beobachtete die beiden. Brid war vollends gefangen im Rhythmus der Arbeit am Webstuhl, Taddy war ganz in seinen eigenen Rhythmen aufgegangen, die abgearbeiteten Finger zupften sacht die Saiten, schwebten quasi darüber hin. Selbst das Meer schien verstummt zu sein. Kitty gewann nur durch das Pochen ihres Herzens die Gewissheit, dass man sie nicht ebenfalls ins Reich der Toten aufgenommen hatte. Sie fragte sich, ob sie die beiden ansprechen könnte oder sollte. Keine drei Sekunden sann sie darüber nach, schlich dann an ihnen vorbei, ohne einen von beiden anzusehen, stieg weiter die enge Wendeltreppe hinunter in die weniger mysteriöse Welt, die sie an ihrem Computer erwartete. Doch bevor sie es wieder mit Maggie Tulliver aufnahm, würde sie ihrem Mann gegenübertreten.
Was wäre, wenn er sagte, sie müssten von hier fortziehen, die Burg hätte ihr Hirn bereits überhitzt, sie fiebere schon in Augenblicken der Ruhe. Sie genoss doch die Burg in vollen Zügen. Sie zog Lebenskraft aus den Steinen. Die roh behauenen Deckenbalken munterten ihren Geist auf. Der Ausblick auf die See von den Zinnen des Turms hatte es ihr leichter gemacht, ins Binnenland zu ziehen, von den Klippen, auf denen die Heimstatt ihrer Familie gestanden hatte, Abschied zu nehmen. Die Klippen hatten Verrat an ihr geübt, hatten sie ihr Haus doch in die See stürzen lassen und ihre ersten beherzten Versuche, Die Mühle am Floss neu zu schreiben, mit in die Tiefe gerissen, ein Verlust, den sie nur schwer verwinden konnte.
Hier in der Burg hatte sie gespürt, dass ihre Talente sich belebten. In ihrem Turmgemach war sie von den Gestalten ihrer Phantasie umgeben, die sie suchte, hier schöpfte sie die Geisteskraft, welche die Musen der Autorin George Eliot vorenthalten, aber Kitty McCloud hatten zuteilwerden lassen, um die Mängel der fehlgeleiteten Kollegin auszumerzen, die Verwicklungen der Handlung zu entwirren. Auch schienen ihr die Weidegründe um die Burg grüner, das Sumpfland morastiger, die Äcker fruchtbarer. In der Großen Halle weitete sich ihr Vorstellungsvermögen – wenngleich die meist nur von den Kühen bewohnt wurde und von dem Schwein. Die feuchten Keller ließen in ihr genügend Düsternis aufkommen, die selbst die morbidesten Gefühlsregungen ihrer irischen Seele befriedigte. In diesen Mauern und Wällen, so spürte sie, hatte sie sich endlich die ganze Smaragdinsel zu eigen gemacht, den Schoß, aus dem so viele Heilige hervorgegangen waren, diesen Edelstein, den die alles erschaffende See emporgespült hatte, diesen Sitz der Königin Mab; hier war sie eins geworden mit diesem Mysterium, diesem Irland.
Sollte Kieran darauf bestehen, dass sie auszögen, würde sie sich selbstverständlich weigern. Hier hatte sie zweifelsohne eine nie versiegende Quelle. Schon den bloßen Gedanken, aufzugeben, würde sie nicht an sich heranlassen, geschweige denn in Betracht ziehen, und schon gar nicht darüber reden. Darin steckte, was für sie die Frage entschied: das Potential, oft anderer Meinung zu sein. Der Gedanke behagte ihr auf Anhieb. Ein weites Feld, sich zu streiten, tat sich vor ihr auf. Was wollte sie mehr?
Sie fand Kieran bei den Gemüsebeeten östlich der Burg, die er umgegraben hatte, um etwas auszusäen. Er summte ein Liedchen vor sich hin und ließ Samenkörner in eine Furche fallen, die er in der harten Erde gezogen hatte.
»Wird das Kohl?«
»Kohl.« Gleichmütig ließ er die Körner weiter aus seiner Hand gleiten.
»Meinst du, der wächst hier?«, fragte sie.
»Wir werden ja sehen«
»Na, warten wir’s ab.«
Kieran richtete sich auf und streifte die letzten Samenkörner von der Hand, die sich ihren eigenen Weg suchten.
Kitty zögerte, wie sie ihre Botschaft anbringen wollte, und zermarterte sich das Hirn nach einem brauchbaren Thema, über das sie erst noch eine kleine Weile reden konnten, bevor sie ihren Mann auf ein Terrain führte, von dem es kein Zurück gab. Sie fand eins, ohne sich sehr zu mühen. »Ich denke, aussäen sollte ich, und umgraben du.«
»Ich bin bei dem einen genauso gut wie beim anderen.« Er klopfte sich die Hände an den Hosen ab.
»Das habe ich nie in Frage gestellt – werde es auch nie tun. War eben nur so eine Bemerkung.«
»Schon gut.« Mit der Stiefelspitze schob Kieran Erde über die Furche, um den Samen zu bedecken, zuerst von einer Seite, dann von der anderen. »Gibt es wieder Ärger mit den Tullivers? Das schon, wie immer.«
»Und ich kann dir dabei nicht helfen?«
»Leider ist das so.«
»Lass mich wissen, wenn ich es doch irgendwie kann.« Er schaute sie an und neigte den Kopf zur Seite. »Aber irgendwas stimmt nicht. Brauchst du vielleicht doch meine Hilfe?«
»Wie kommst du darauf?«
»Könntest du dich selbst sehen, würdest du nicht fragen. Du scharrst mit den Füßen hin und her wie eine Frau, die unschlüssig ist, wohin sie ihre Schritte lenken soll. Sagst du mir jetzt, was du hast, oder sollen wir weiter über Kohl reden?« Seine Frage kam ganz unverblümt, doch es klang weder vorwurfsvoll noch gereizt. Eher verriet ein Unterton, dass ihn ihre Unschlüssigkeit amüsierte.
Nun war es Kitty, die ein par Krumen Erde über eine der Furchen schob, sie trat sie jedoch nicht fest. Jetzt oder nie. Sie hob den Kopf und schüttelte ihn leicht von einer Seite zur anderen, damit ihr das Haar einigermaßen geordnet auf die Schultern fiel. Wenigstens das bisschen konnte sie tun, um Ordnung in die Welt zu bringen. Kieran, der sie unverwandt ansah, wartete darauf, dass sie etwas sagte. Was sie ihm zu eröffnen gedachte, würde die reine und ungeschminkte Wahrheit sein. Aber zuerst wollte sie mit ihm auf den Turm steigen und ihm dann gestehen, was sie gesehen hatte, würde ihm von Brid am Webstuhl erzählen und von Taddy mit der Harfe. Dann sollte er sich ein Urteil bilden, ob sie verrückt geworden war.
»Könntest du mitkommen? Ich möchte dir etwas zeigen, dir etwas verraten.« Kieran schwieg zunächst, dann nickte er.
Sie gingen über die Galerie, die zur Treppe führte. Da hörten sie hoch über sich Harfentöne. Sie blieben stehen und wandten sich einander zu. Kitty hob die rechte Hand, als wollte sie ihr Ohr bedecken. Kieran holte tief Luft und atmete betont langsam aus. Sie verhielten sich mucksmäuschenstill. Wie viele Augenblicke so vergingen, war nicht zu zählen. Die Harfe spielte weiter, jemand zupfte eine Melodie, so wehmütig, dass sie jeden aufforderte, still zu sein, während sie die ganze Halle mit ihrem Klagen füllte. Bald anschwellend, bald in sich zusammensinkend, beschwor die Melodie eine Sehnsucht herauf, die in die weite Welt strebte auf der Suche nach Erfüllung, nach der Wiederkehr von etwas für alle Zeiten Verlorenem.
Die Harfe schien die sinkende Sonne hinter einer Wolke hervorgerufen zu haben. Die Halle war von rosenfarbenem Gold überflutet, das den düsteren Wänden Bernsteinglanz verlieh, das stumpfe Eisen des mit vielen Kerzen bestückten Kronleuchters zum Blinken brachte und sowohl Kitty als auch Kieran verwandelte. Jeder sah den anderen wie eine von innen strahlende Erscheinung, jeder sah für eben den Moment ein Abbild des wahren Selbst des anderen, unschuldig und rein wie am Tag der Schöpfung, eine Vision, wie sie sonst keinem Sterblichen vergönnt war. Die Musik schwoll an, das sehnsuchtsvolle Verlangen wurde zu einem schier unerträglichen Schmerz, der die Gewissheit barg, nie zu verebben, die mit Ergebenheit erduldeten Leiden jenseits aller zeitlichen Vorstellungen andauern zu lassen, selbst über die große Stille hinaus, jenseits derer alles verstummte.
Lange vermochten sie den Anblick dieses Erscheinungsbilds voneinander nicht zu ertragen, und so wandten sich beide um und schauten hinunter auf den Hof. Als ob es Mitleid mit ihnen empfand, brach das Lied mitten im Takt ab. Und auch die Sonne, zufrieden mit ihrem Schabernack, zog sich zurück. Einige letzte Strahlen drangen noch oben und unten über die Wolkenränder, trafen die Höhen der Hügelketten und auch den Hof.
Und dort stand das Schwein, mit dem Messingring in der Schnauze, der es daran hinderte, die frisch angelegten Beete umzuwühlen, und stierte zu ihnen hinauf.
»Das Schwein«, sagte Kieran.
»Ja«, sagte Kitty, »das Schwein.«
Bei ihren Worten kehrte ihnen das Borstenvieh seine Hinterbacken zu und trottete geschwind an seinen Trog. Laute, die nur einem schmatzend und schnaufend fressenden Schwein gestattet waren, fanden ihren Weg nach oben. »Los, geh du voran«, sagte Kitty schließlich.
Sie stiegen die steinerne Wendeltreppe hoch, vorbei an Kittys Schreibtisch, bis zum ersten Absatz. Sie überlegte, ob sie ihm einen Einführungsvortrag halten sollte, bevor sie bis ganz nach oben gelangten, ob sie Kieran andeutungsweise darauf einstimmen sollte, was er zu hören bekommen würde. Sie könnte ihn so vielleicht vorwarnen, sich jeden Urteils darüber zu enthalten, ob sie in einer Burg leben könnte, ohne dass ihre Phantasie überwältigt wurde von uralten Sagen und den immer wieder erzählten Geschichten. Doch sie beschloss, damit noch zu warten.
Eigentlich müsste er bereits eine gewisse Vorahnung haben. Die Harfe hatte zu seelenvoll geklungen, als dass ein zurückgekehrter Hausbesetzer sie gespielt haben könnte, aber auch zu menschlich, als dass sich vermuten ließe, Engel hätten sich eingemischt.
Möglicherweise würden sich Brid und Taddy dort zeigen. Vielleicht würde Kieran sie sogar sehen. Waren Kieran und sie nicht vereint in Herz und Sinn? Diesen Gedanken empfand Kitty als zu vielschichtig und zu verwirrend und ließ sich lieber nicht darauf ein. Schon, dass er nur flüchtig auftauchte, nervte sie. Eines Herzens zu sein, war ja annehmbar. Aber das reichte dann auch. Mit jemandem eines Sinnes zu sein außer mit sich selbst, das lehnte sie ab.
Kieran würde Brid und Taddy entweder sehen oder nicht. Das hatte sie kaum zu entscheiden. Wenn er sie aber wirklich sah, wäre sie dann eifersüchtig? Wäre sie dann nicht länger die auserwählte Persönlichkeit, für die sie sich hielt? Würde sie den Rivalen bei den Erscheinungen von Brid und Taddy willkommen heißen? Um weitere Gewissensqualen zu vermeiden, stieg Kitty mit noch größerer Entschiedenheit nach oben, Kieran folgte ihr auf den Fersen.
Der Webstuhl war da, die Harfe stand an den Schemel gelehnt. Brid und Taddy mussten gerade woanders sein – wenn sie überhaupt irgendwo waren und wer weiß was trieben. Wieder weigerte sich Kitty, sich weiteren Mutmaßungen hinzugeben. Sie betrachtete es nicht als Teil der Vereinbarung, wissen zu müssen, was Geister taten, wenn sie gerade nicht sichtbar waren. Das war deren Sache, sie wollte keinesfalls ihre Nase in Sachen stecken, die ihre ohnehin schon überstrapazierte Einbildungskraft weiter forderten.
Kieran nahm die Harfe auf. »Das kann wohl nicht die sein, die wir gehört haben. Die Saiten fehlen.«
»Das ist die Harfe, die wir gehört haben«, sagte Kitty. »Die braucht keine Saiten.« Sie machte eine Pause, schluckte und fügte hinzu: »Ein Geist hat sie gespielt.« Sie machte noch eine Pause und fuhr fort: »Wir haben es beide gehört. Nicht nur ich allein. Sie heißt Brid. Er heißt Taddy. Sie waren auf unserer Hochzeit. Und ehe du noch denkst, ich mache einen Witz – oder bin übergeschnappt –, sage ich dir die volle Wahrheit. Brid und Taddy, beide habe ich gesehen. Auch hier in diesem Raum. Brid war dort drüben am Webstuhl. Taddy spielte die Harfe. Brid hatte keine Fäden, um zu weben, Taddy keine Saiten, um drauf zu spielen. Du musst es mir nicht glauben, aber du musst mir glauben, dass ich noch alle beisammen habe.«
Eher besorgt als erschrocken fragte Kieran: »Ist so etwas möglich?«
»Wer sind wir denn schon, um zu sagen, was möglich ist und was nicht?«
»Wir sind vernunftbegabt. Wir sind völlig normal. Waren es jedenfalls, bis wir hierher – bis wir in diese Burg kamen.«
»Wir müssen uns« – Kitty wand sich, als wollte sie probieren, ob ihr Kleid richtig sitzt – »auf ein paar Sachen einstellen.«
»Die Hausbesetzer …«
»Geister, Kieran. Geister. Der Geist von Brid. Der Geist von Taddy.«
Ohne seine Augen von Kitty zu nehmen, ließ sich Kieran, immer noch mit der Harfe in der Hand, auf den Schemel nieder. »Geister«, sagte er.
»Ja. Geister.« Kitty sprach ganz ruhig. »Sie erscheinen. Und sie verschwinden. Sie sind hier, und dann sind sie nicht hier. Du kannst mir glauben oder nicht, halte es wie du willst. Doch, bei Gott, es ist die Wahrheit – selbst wenn Er sie nicht verkündet, ich jedenfalls verkünde sie.«
Kieran starrte zum Fenster hoch oben in der Mauer. »Dann habe ich sie auch gesehen«, sagte er in aller Ruhe. »Mit eigenen Augen habe ich sie gesehen, mal waren sie da, mal nicht. Brid eines Abends in der Großen Halle, die Kühe kamen gerade herein. Taddy neben dem Schwein auf dem Abhang zum Fluss runter. Ich konnte es mir nicht eingestehen, wer sie waren, was sie waren. Hätte ich das getan, hätte ich es dir doch erzählen müssen. Und wie konnte ich das? Du hättest mich für verrückt gehalten. Und – was ich am meisten befürchtete – du hättest recht haben können. Wie hätte ich so was sagen können, bei dem du denken musstest, du hast einen Irren geheiratet?«
»Haben wir denn beide den Verstand verloren?«
»Wenn dem so ist, sind wir wenigstens zusammen.« Er lachte schallend. Auch Kitty gestattete sich einen kleinen Lacher, aber es klang mehr wie nervöses Hüsteln.
»Den alten Geschichten nach waren sie unschuldig«, sagte er, »und haben von dem Pulverfass gar nichts gewusst. Wenn sie jetzt hier sind, ist dann das Pulverfass auch noch hier?«
»Das ist etwas, das wir hoffentlich nie erfahren werden.«
»Und niemand erblickt sie, nur wir beide? Oder sieht sie sonst noch jemand, sagt bloß nichts, weil er genauso fürchtet wie wir … man würde ihn für verrückt halten.«
»Taddy und Brid, habe ich ja schon gesagt, waren auf unserer Hochzeit. Ich habe sie gesehen. Du vielleicht sogar auch. Aber Maude McCloskey hat sie nicht gesehen. Ich hab sie ihr beschrieben, was sie anhatten, wie schön sie aussahen. Das hat sie durcheinandergebracht – so viel habe ich gespürt, und normalerweise bringt Maude McCloskey nichts durcheinander. Sie wollte was sagen, brachte es aber nicht heraus. Sonst steht Maudes Klappe nie still. Wenn sie sie nicht gesehen hat, dann sieht sie auch niemand anders. Ausgenommen wir beide.
»Bloß warum …?«
»Wenn du die Antwort gefunden hast, lässt du sie mich auch wissen?«
»Und du machst es genau so: Du sagst es mir, nicht wahr?«
Kitty sah ihren Mann an, und ihr wurden die Augen feucht. »Ich bin eine Frau ohne Geheimnistuerei. So, wie ich dir eben erzählt habe, was ich gesehen habe, so werde ich dir alles erzählen.« Sie sprach nicht weiter und hob die rechte Augenbraue. »Es sei denn, ich beschließe, es nicht zu tun.«
»Auch gut. Dann muss ich kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich es ebenso mache.«
»Kannst du nicht. Etwas für dich behalten, meine ich.«
Kieran zuckte die Achseln, stand vom Schemel auf und stellte ehrfurchtsvoll die Harfe an ihren Platz. Er hatte die Hände noch nicht völlig vom Instrument gelöst, da schaute er zu Kitty hoch und fragte: »Sind die immer um uns, egal ob wir sie sehen oder nicht?«
Kitty, die mit der rechten Hand über den Webstuhlrahmen strich, sah kurz auf, vergewisserte sich nach beiden Seiten und senkte dann wieder den Blick zu ihrer Hand. »Ich … ich weiß nicht. Hab noch nie daran gedacht.«
»Könnten sie jetzt hier sein? Hier in diesem Raum!« Er gab sich alle Mühe, sich nicht umzuschauen.
»Nein. Glaube ich nicht.«
»Aber ganz sicher bist du dir nicht.«
»Ich bin mir bei nichts mehr ganz sicher.«
»Darf ich eine höchst delikate Frage stellen?«
»Stell sie, dann werde ich dir sagen, ob du darfst oder nicht.«
»Wenn du und ich … wenn wir so beisammen sind … nur wir beide … sind sie dann auch in unserem Zimmer … nachts und so … und gegen Morgen?«
Durch Kittys obere Körperhälfte ging ein entschiedener Ruck nach hinten, als scheute sie vor dem Thema zurück. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Na, dann tu es jetzt.«
»Aber die würden doch nicht … ich meine, warum sollten sie … und zu so einer Zeit! Nein. Natürlich sind sie nicht dort.«
»Du bist dir sicher.«
»Ist ja schrecklich, man darf gar nicht daran denken.«
»Schrecklich. Finde ich auch.«
»Wir sollten den Gedanken einfach ignorieren …«
»Wenn du das kannst! Ich hab da meine Schwierigkeiten.«
»Warum sollten die beiden uns belauschen? Deswegen sind sie doch nicht hier, oder?«
»Bloß warum sind sie dann hier?«
Kitty wusste keine Antwort und ließ sich am Webstuhl nieder. Mit dem Fuß setzte sie den Tritt in Bewegung. Sie sagte nichts, schaute nur auf die Hand, die auf dem Brustbaum lag, der jetzt vor und zurück glitt. Schließlich redete sie, ihr Fuß arbeitete weiter. Sie sprach zögernd, als müsste sie die verworrenen Gedanken sortieren, die gänzlich ungeordnet aus einem entlegenen Winkel ihres Hirns kamen. »Ihr eigentliches Wesen ist woanders. In der Ewigkeit. Von Liebe erfüllt. Aber Freude und Frieden sind ihnen verwehrt. Ein Teil von ihnen hat sich losgerissen, von dem, was sie geworden sind – und hält sich hier auf, an diesem Ort, in diesen Mauern, streift durch unsere Felder und Weidegründe, sucht nach dem, was sie zu einem Ganzen machen wird, später einmal und für immer. Etwas ist unerledigt geblieben. Es beunruhigt ihre Seelen. Es quält ständig ihren Geist.
Sie sind jenseits der Zeit, wo alles, was je war, jetzt ist, und wo alles, was noch kommen soll, ebenfalls jetzt ist. Es ist ein Moment – und doch bleibt er, ohne sich je zu ändern. Manchmal kehren sie in die Welt der Zeit zurück, wo Veränderung noch möglich ist. Und es ist innerhalb der Zeit, dass sie sich vervollständigen. Dann wäre ihre Aufgabe erfüllt. Doch der Moment, in dem das geschehen soll, muss sich erst noch offenbaren. Und vielleicht sind sie hier – zeigen sich nur uns –, erbitten unsere Hilfe.« Sie schaute Kieran an. Er hielt wieder die Harfe und hatte eben die rechte Hand gehoben, als wollte er mit den Fingern die nicht vorhandenen Saiten zupfen. »Sie sind hier«, flüsterte Kitty.
Ihr Blick ging zurück zum Webstuhl. Da waren die Fäden, die es zuvor nicht gab – grob und braun –, die von der Maschine verarbeitet wurden. Und vor ihr ausgebreitet war das Tuch, schwer und gewebt von ebendem braunen Garn. Sie nahm die Hände vom Webstuhl und die Füße vom Trittbrett. Im gleichen Moment hörte sie die Harfe, es klang, als striche eine sanfte Brise über sie hin, nicht Kieran Sweeneys ungelenke Finger. Man hatte den Eindruck, Messingsaiten waren aufgezogen. Kieran packte die Harfe fester, fürchtete, er könnte sie fallen lassen. Beide, Kieran und Kitty lauschten mit offenem Mund, wagten kaum zu atmen. Kitty drehte sich als Erste zu den Stufen um, zu der Stelle, wo sie sich zum Treppenabsatz öffneten. Dann wandte auch Kieran seinen Blick dorthin.
Dort, gleich links neben der Treppe, standen Brid und Taddy, er ein wenig weiter vorn, sie etwas näher an der Wand hinter ihr. Ihr Gesichtsausdruck war verwirrt wie immer, nur schien es, sie wüssten noch weniger als sonst, warum sie hier waren oder auf welchem Pfad sie zu einem Ort des Friedens gelangen würden.
Taddys hellbraunes Haar reichte bis zu den breiten, ebenmäßigen Schultern. Sein Oberkörper verjüngte sich zu den Hüften hin. Die Hände waren derb und schwielig, doch die langen Finger hatten immer noch etwas Zartes und verrieten, dass sie in Liebkosungen geübt waren. Seine braunen, fast dunklen Augen waren es vor allem, die ihm Gegenwärtigkeit verliehen.
Es war, als täten sich ihrem Blick mehrere Ebenen auf, als sähen sie nicht nur diesen Raum und die Gegenstände und Menschen darin, sondern auch irgendeinen anderen Ort, wenn auch zu ganz anderer Zeit, und als schienen sie betrübt wegen des Verlusts des einen und ratlos beim Anblick des anderen. Taddys Mund, klein, doch wohlgeformt, war leicht geöffnet, nicht dass er reden wollte, mehr vor Erstaunen. Er trat einen halben Schritt zurück, so dass sein Arm nun Brid streifte, und mit der Seite seines lehmverkrusteten Fußes berührte er, was das sanfte Fleisch von Brids rechter Ferse gewesen wäre.
Auch Brid schaute verwundert und bekümmert, schien jedoch eher ängstlich als überrascht zu sein. Ihr schwarzes Haar und die blauen Augen, ein tiefes Blau, das an Violett erinnerte, bildeten einen Gegensatz zu ihrer blassen Haut, deren Farbe sehr an frische Sahne erinnerte und somit nicht bleich genannt werden konnte. Die Lippen waren rot und feucht, als hätte sie Beeren gegessen, die sie von den Hecken am Weg zur Burg gepflückt hatte. Sie war schlank, und ihre gerade Kopfhaltung und der stete Blick (traurig wie die Augen auch waren) zeugten davon, dass ihr keine Schwäche innewohnte. Das grobe Wollgewebe ihres Kleids lag eng am Körper an, schmiegte sich über die kleinen Brüste, an die festen Schenkel und die Waden, die in wohlgeformte Knöchel übergingen, die unter dem Rocksaum hervorschauten. Sie verschob den linken Fuß und verdeckte so die Zehen von Taddys rechtem Fuß. Bei beiden war am Hals deutlich die rohe Kreisspur von dem Hinrichtungsstrick zu erkennen.
Die erdfarbenen Fäden im Webstuhl und das fertige Tuch verschwanden. Kitty nahm den Fuß vom Tritt und stand auf. Kieran stellte die Harfe ab. Die Saiten lösten sich in Nichts auf, derweil die letzten Schwingungen der Saite, die er gezupft hatte, noch in der Luft hingen. Wie um Solidarität mit seiner Frau zu demonstrieren – denn Taddy war näher an Brid herangerückt –, ging Kieran leise zu Kitty hinüber und drückte seinen Oberarm gegen ihren. Beide schauten sie die Geister an.
Kitty wusste nicht, was sie sagen sollte, sagte aber dennoch etwas, die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, wollten nicht heraus, doch schließlich brachte sie es fertig, mit halberstickter Stimme zu fragen: »Weshalb seid ihr hier?«
Die Frage schien ihre Ratlosigkeit nur noch zu vertiefen. Brid drehte sich leicht zu Taddy um, und Taddy hob den Kopf etwas höher. »Wir sind eure Freunde«, sagte Kitty, doch ehe ihr eine passende Beendigung des Satzes einfiel, rückten Brid und Taddy näher aneinander, und Brids Augen weiteten sich vor Angst und Schrecken. Sie schmiegte sich noch enger an Taddy.
»Seid ihr Brid und Taddy?«
Kaum dass ihre Namen erklangen, gerieten sie in Panik und verschwanden. Fort waren sie. Nirgendwo mehr zu sehen. Kitty und Kieran starrten länger als nur einen Augenblick auf die Stelle. Kittys Blick wanderte über den Treppenabsatz, über die nachgedunkelten Steinplatten des Bodens, selbst über die Balken in der Decke. Sie berührte den Webstuhl. »Sind sie weg?«, flüsterte sie kaum hörbar.
»Ja, sie sind weg.«
»Ich habe sie verscheucht. Sie haben offenbar kein Wort verstanden, von dem, was ich …« Sie sprach nicht weiter, holte tief Luft und schlug mit der rechten Hand auf den Rahmen des Webstuhls. »Ist ja klar, sie konnten gar nichts verstehen. Ich habe Englisch gesprochen. Woher sollten die Englisch können? Ich hätte Irisch reden müssen. Aber weil sie uns wie Fremde vorkommen … nein, wie dumm von mir…«
»Auf Irisch«, sagte Kieran. »Sag die Worte noch mal. Wollen sehen, ob sie hören können. Ob sie zurückkommen.«
Zaghaft rief Kitty auf Irisch: »Seid ihr hier?« Antwort erhielt sie keine, nichts regte sich in der Luft, nichts deutete ihre Rückkehr an.
Nun versuchte sich Kieran auf Irisch: »Sag ihnen, wir wollten ihnen keinen Schreck einjagen. Sag ihnen, wir stammen aus Kerry, genau wie sie selber. Bloß sag das alles auf Irisch.«
»Brauch ich gar nicht«, stellte Kitty fest. »Hast du doch eben selbst gemacht.«
Dennoch erhielten sie keine Antwort, auch in den dunkleren Ecken rührte sich nichts. Sie warteten. Kieran bückte sich, wollte die Harfe wieder aufnehmen, hielt aber inne.
Rasch richtete er sich auf. »Unser Problem ist gelöst«, sagte er auf Englisch.
»Red Irisch!«
»Nein«, fuhr er fort, immer noch auf Englisch. »Wir brauchen uns wegen der … wegen der ›Sache‹ keine Sorgen weiter zu machen.«
»Was für ’ne ›Sache‹?«
»Wenn wir beieinander sind … ich meine, wenn wir ganz allein sind nachts … wenn wir’s auf Englisch machen, dann sind wir doch sicher, dass sie sich nicht irgendwo in der Nähe aufhalten. Das wird sie abschrecken.«
»Sich lieben auf Englisch?«
»Um unsere Privatsphäre zu schützen.«
»Wie können wir uns auf Englisch lieben?«
»Warum sollte das nicht gehen?«
»Liebesspiel auf Englisch, das geht nicht. Englisch hat dafür nicht die richtigen Laute. Es hat nicht die richtigen Wörter. Du kannst das nicht, und ich kann es nicht – wir brauchen es erst gar nicht zu probieren.«
»Aber wenn es die Garantie bietet, dass wir unter uns sind?«
»Das wird nicht funktionieren. Ich jedenfalls kann es nicht. Wär ja kein richtiges Sich-Lieben.«
»Willst du etwa, dass sie uns belauern?«
»Nein, aber wenn ich keine andere Wahl habe …«
Kieran ließ sich auf die Bank am Webstuhl nieder. »Du hast recht. Wir können es nicht irgendwie anders machen, es geht nur auf die eine Art.«
Kitty zuckte lediglich die Achseln. »Vielleicht können sie dabei noch was lernen.«
Kieran griff nach der Hand seiner Frau. »Eine Lehrstunde für andere hat mir dabei eigentlich nicht vorgeschwebt.« Ein Lächeln, das man nur als lüsternes Grinsen beschreiben kann, breitete sich über sein Gesicht, brachte den Bart fast bis an die Augen. »Sollen wir es ihnen zeigen? Jetzt?«, flüsterte er auf Irisch. »Hier? Mal sehen, ob sie dann zum Vorschein kommen.«
»Hier?« Kitty zog die Hand weg; nach einer Pause, während der sie die Hand keusch über der rechten Brust hielt, griff sie rasch nach der Hand ihres Mannes und drückte sie gegen ihre Wange. Sie verfiel in ihre irische Muttersprache und sagte: »Na schön, wir können es ja versuchen. Was aber, wenn sie uns unterbrechen?«
»Spiritus interruptus?«
Kitty stöhnte. »Jetzt hast du alles verdorben.«
Kieran stand auf. »Das bring ich schon in Ordnung.«
»Aber nur auf Irisch. Verstanden?«
»Anders geht’s gar nicht«, antwortete Kieran. Als er seine Lippen von ihren getrennt hatte, sagte sie: »Und nicht aufhören, falls jemand anfängt, auf der Harfe zu spielen.«
Und so begann ihr irisches Liebesspiel – im Beisein von Harfe und Webstuhl.