Kapitel 10

 

Beim Tischtennisspielen waren Kitty und Kieran in ihren ersten Tagen und Wochen auf der Burg weniger gute Partner. Keiner von beiden konnte sich richtig zügeln, und Kieran hatte einfach den härteren Schlag, den Kitty nicht erwidern konnte. Die Geschwindigkeit des Balls war bei ihm größer als die einer Kugel und sein Aufschlag auf ihrer Seite des Netzes schwer zu parieren. Wenn aber der Ball über den Kopf seiner Frau hinweg hinten gegen die Wand prallte, ließ Kieran seiner Begeisterung freien Lauf.

Kitty störte das alles nicht. Bei anderen Gelegenheiten war seine Stärke eine Quelle ihres Stolzes, und es wäre undankbar gewesen, ausgerechnet in solchen Momenten mangelnder Zurücknahme wider den Stachel zu löcken. Auch suchte sie nicht Zuflucht bei dem für Verlierer empfohlenen Spruch: Es ist ja nur ein Spiel. Für sie galt: Man spielt, um zu gewinnen. Eine Niederlage musste man einstecken können; Trost suchen zu wollen, war nur zusätzlich demütigend.

Ein fairer Gegner war sie nicht. Ihr Kampfgeist lag selten brach. Hätte sie über ebensolche Kraft wie der von ihr geliebte Mann verfügt, hätte sie mit Freuden den Tischtennisball wie die Schale eines frisch gelegten Eies platt gemacht. Und doch nahm sie – entgegen ihrer Natur – hin, dass Kieran die Punktzahl zu seinen Gunsten erhöhte, auf ihre Kosten triumphierte, und akzeptierte den unbestreitbaren Vorteil seines kräftigen rechten Arms. Nach außen hin übte sie sich in Gleichmut, aber was sie wirklich dachte, behielt sie für sich.

Das Verhältnis von Ball und Schläger, das Zusammenspiel von Arm und Auge, beide unverzichtbar für die Reaktion des Gehirns, die Koordination all dieser Elemente – jeder Aspekt des Spiels wurde genau von ihr beobachtet, minutiös analysiert und ständig nachvollzogen. Auch kam ihr zugute, dass sie sich blendend konzentrieren konnte. Langsam, aber sicher – fast unmerklich – wurde ihr Spiel besser. Die Punkte, die ihr Mann mit seinen erbarmungslosen Schlägen sammelte, waren nicht mehr in der Überzahl. Bald wurden es immer weniger. Als Kitty das erste Mal gewann, jubelte Kieran. Als sie weiterhin gewann, erst zwei von fünf Spielen, dann drei von fünf, war er stolz auf seine Frau – wenngleich ihn das, was er für ein unerklärliches Nachlassen seiner Kräfte hielt, irritierte.

Dann machte er sich – mehr unbewusst – die Methode zu eigen, die seine Frau längst befolgt hatte. Auch er achtete auf die Feinheiten, die das Spiel bot und die er bislang in seiner draufgängerischen Art ignoriert hatte: wie man dem Ball den richtigen Drall gab, wie man den Schläger im richtigen Moment verkantete, nicht zu vergessen die Drehung des Handgelenks, um noch mehr Effet in den Ball zu bekommen, und auch ein scharfes Auge war vonnöten, um reflexartig reagieren zu können. Das Angenehmste an der Sache aber war, mit feinem Spürsinn die Frau ihm gegenüber zu beobachten, ihre Taktik, ihre blitzschnellen Entscheidungen, ihr schlaues Reagieren auf jede seiner Bewegungen, ihre unerbittliche Hartnäckigkeit, ihm zu zeigen, mit wem er sich eingelassen hatte.

Außer dem Vergnügen, das es ihnen zweifellos bereitete, diente das Spiel noch einem anderen Zweck. Je nachdem, wie es der Wettkampf hergab, mal im Sinne eines Kontrapunktes, mal im Einklang mit dem Rhythmus der Bewegungen, nutzte das Paar die gemeinsame Zeit zum Gedankenaustausch, und der konnte verschiedene Formen annehmen – Beweisführung, Rechtfertigung, Streitgespräch, halsstarriges Beharren. Im Allgemeinen war die Zeit ihrer Zweisamkeit begrenzt – Kitty saß am Computer oder machte sich im Garten nützlich, Kieran in der Küche, nicht zu vergessen seine Arbeit mit den Kühen, im Obstgarten und auf dem Acker. Wenn man aber nach den Schlägern griff und den Ball in Bewegung setzte, konnte man sich in Ruhe unterhalten, und Wagnisse von großem Wurf und Schwung3 zur Sprache bringen, ohne Gefahr zu laufen, dass der eine den anderen wütend stehenließ.

Bei einem der vorangegangenen Spiele im Sommer hatte Kitty ihren Mann darüber informiert, dass ihnen die Burg vielleicht nicht mehr lange gehören würde, und er hatte selbst bei einer so fatalen Nachricht das Match nicht unterbrochen, sich weiter auf den Ball konzentriert, wie seine Frau auch. Ab und an kam es zu einer kurzen Verzögerung beim Parieren, um eine Frage stellen zu können, nicht aber beim Antworten. Schließlich waren sie dann doch nur noch halbherzig bei der Sache, ihr Elan litt bei dem Gedanken, das Dach über dem Kopf, den Boden unter den Füßen zu verlieren, wie überhaupt jeden liebgewonnenen Stein der Burg. Einmal hatte Kieran den Ball absichtlich sacht übers Netz geschickt, um Kitty die Gelegenheit für eine wirkungsvolle Rückhand zu ermöglichen – ein Versuch, sie aufzuheitern, einen kleinen Ausgleich zu schaffen für eine Tragödie, die man eigentlich mit nichts ausgleichen konnte – und Kitty hatte kraftvoll zurückgeschlagen, woraufhin Kieran rein aus Gewohnheit gegen seine ihm Widerpart bietende Frau auftrumpfte und dem Ball einen solchen Drall verlieh, dass er die Netzkante berührte, auf Kittys Seite fiel, einen Rückschlag aber unmöglich machte. Von da an blieb es bei einem fünf zu drei für Kieran, ein ehrenvolles Gewinnen für den Sieger wie auch eine ehrenvolle Niederlage für die Verliererin.

Ohne sich groß zu ereifern – denn der Wettstreit zwang Kitty, ihr Temperament zu zügeln –, schilderte sie während des Spiels auch die Niedertracht von Lord Shaftoe und wie sich die Gesetzgebung als sein Komplize erwies, um sie von der Burg zu vertreiben. Kieran seinerseits bediente den Ball, den er wie seine Frau trotz aller Ablenkung nicht aus dem Auge ließ, und hielt sich dabei mit ungläubigem Staunen, mit Verwünschungen oder Flüchen nicht zurück. Beide waren es zufrieden, dass Kieran, was den Spielstand anging, vorn lag. Das mäßigte ihren Zorn und bremste etwaige Wutausbrüche, in die sie sich sonst hineingesteigert hätten, so aber ließen sie nicht ab von Schläger und Ball und redeten sich hartnäckig ein, dass nichts, aber auch gar nichts ihnen den Spaß am Spiel verderben oder sie von dem ehelichen Schlagabtausch und dem das Spiel begleitenden Zwiegespräch abhalten könnte.

 

Rasch rückte der Tag für das Festmahl näher. Achtsam hielt Kitty den Ball in der linken Hand. Er durfte keine Delle bekommen, es wäre das Aus für ihr Tennisspiel gewesen. Es war der letzte intakte Ball. Beide, sie und auch Kieran, hatten vergessen, für Nachschub zu sorgen.

Sie würden einfach spielen wie immer, solange der Ball mitmachte. Wenn sie bis Spielende oder bis zum Zerschmettern des Balles ihr Gesprächsthema nicht erschöpfend behandelt hatten, mussten sie eben mit der Küche vorliebnehmen, wo für alle Fälle ein Schachbrett bereitstand. Kitty hatte den Anschlag. Kieran gab den Ball zurück, und das Spiel begann.

»Hast du dir die Sache mit dem Schwein überlegt?«, fragte er.

»Was gibt es da zu überlegen?«

»Dass du meiner Vorstellung zustimmst.«

Ping-pong, ping, pong-pong-ping sprang der Ball über das Netz hin und her. Kieran und Kitty führten einen Tanz auf, dessen Choreographie der jeweils andere festlegte, veranstalteten einen choreographisch abgestimmten Tanz, einen Schritt zurück und wieder vor. Sie verrenkten sich dabei mal nach rechts, mal nach links, beugten sich über den Tisch, dann wieder zurück, bewegten die Hand mit dem Schläger schnell und geschickt, als gehörte sie einem der Hindu-Götter. Als Kieran fünf Punkte verbuchen konnte, Kitty hingegen nur einen, sagte sie: »Du meinst, dass wir es verspeisen sollten?«

»Fett genug ist es.«

»Ums Fettsein geht es nicht.«

»Ein mageres Schwein können wir den Leuten nicht vorsetzen.«

»Es gibt auch andere Schweine. Lolly hat mehr als genug davon; oft denke ich, sie ist in Wirklichkeit eine Circe, und Aaron sollte sich in Acht nehmen vor ihr. Obwohl von der Sorte auch jede andere meinen Neffen mit Leichtigkeit in ein Schwein verwandeln könnte.«

Es stand jetzt zwölf zu sieben für Kitty. Als Kieran auf bestem Wege war, auf dreizehn zu elf aufzuschließen, sagte er: »Ich glaube, sie hat das Vernünftigste gemacht, was sie tun konnte. Was ihr zum Vorteil gereichen dürfte.«

»Nämlich?«

»Ich bin gestern bei ihnen vorbeigefahren, und plötzlich stand mitten auf der Straße Aaron vor mir und trieb die Schweine vor sich her; wohin er mit denen wollte, weiß ich auch nicht.«

»Aaron?«

»Aaron.«

»Lolly hätte ihn in einen Schweinehirt verwandelt? Na ja, was sein schriftstellerisches Talent betrifft, so ist das geradezu ein Aufstieg für ihn.« Kitty war etwas nach hinten zur Wand zurückgewichen, um für den kraftvollen Schlag gewappnet zu sein, der den Ball mit der Geschwindigkeit eines Kolibri zu ihrem Mann hinüberbefördern sollte. Kieran aber stand nur leicht nach vorn gebeugt und sorgte mit einer raffinierten Drehung des Schlägers dafür, dass der Ball knapp über dem Netz auf der anderen Seite aufsetzte. Er klackte wie der Kot einer tief fliegenden Möwe auf die Tischplatte. »Es kommt aber noch besser«, sagte er.

»Erzähl.«

Kieran wartete den nächsten Ballwechsel ab, ehe er weitersprach. »Lolly betätigt sich jetzt als Schriftstellerin. Sie schreibt einen Roman.«

Kitty lachte schallend los. Wenn Kieran geglaubt hatte, er würde sie mit dieser Nachricht verblüffen, irrte er, auch ließ sie sich in ihrem Spiel nicht stören. All die Jahre ihrer Freundschaft mit Lolly McKeever, ihrer Busenfreundin, hatte sich Kitty amüsierte Kommentare von ihr anhören müssen, weil es der Frau einfach nicht in den Kopf wollte, dass man beim Schreiben in Schwierigkeiten geraten könnte. »Wovon redest du da? Einen Roman kann doch jeder schreiben. Ich würde mich selbst dransetzen, wenn ich die Zeit hätte. Einen Roman schreiben? Wer sollte das nicht wollen oder können?«

Kitty war dann immer zwischen Mitleid und Verachtung hin und her gerissen gewesen (vom Ersteren war ihr weniger, vom Zweiten weit mehr gegeben) und hatte – nur mit Rücksicht auf Lolly und um der Bedauernswerten das Überleben auf Erden zu ermöglichen – schlicht und ergreifend geantwortet: »Natürlich. Deine Schweine sind weitaus wichtiger.« Und nun hatte der zum Schweinehirt beförderte Aaron ihr endlich die so heißersehnte Möglichkeit zum Schreiben gegeben.

Kitty hatte lediglich auf etwas mehr Abstand vom Tisch geachtet und Kierans Neuigkeit mit den Worten »Ich kann es kaum erwarten«, abgetan.

Noch ehe sie die nächste Angabe machte, sagte Kieran: »Aaron gibt zu, dass er erleichtert ist, nicht länger schreiben zu müssen. Er würde mit Freuden diese Last an seine Frau weitergeben.«

Kitty brachte den Ball auf seine Flugbahn. Er schoss über den Tisch hinaus, an ihrem Mann vorbei und hinten gegen die Wand. Kieran holte ihn, und sie schlussfolgerte derweil: »Das heißt, für unser großartiges Fest zum Abschied von der Burg wird Aaron das Schwein auswählen.«

»Ich weiß nicht, weshalb das nötig sein sollte, eins von ihren Schweinen auszuwählen, meine ich.« Mit einer kühnen Drehung des Handgelenks schmetterte er den Ball zu ihr hinüber und auf die Kante des Tisches. »Schließlich haben wir den Vorzugskandidaten schon bei uns wohnen. Und dabei bleibt alles unter uns, sozusagen in der Familie.«

Wie zum Protest auf die bloße Erwägung einer solchen Möglichkeit kam von draußen durch das Fenster ein markerschütternder Schrei, der in ein Kreischen überging, dann wieder mehr in ein Quieken. Kieran lieferte einen Netzball. Kitty ließ den Ball liegen, wo er landete. »Das Schwein«, sagte sie nur.

»Kaum dass wir von ihm sprechen, scheint es schon jemand zu schlachten.«

Kitty ging zum Fenster.

Kieran nahm den Ball auf. »Wir können nicht jedes Mal das Spiel unterbrechen, wenn es dem Schwein gefällt, sich lautstark zu äußern.« Als Kitty nichts erwiderte, fragte er: »Ist da jemand, der es scharf ansieht? Das kann es auf den Tod nicht ertragen.«

»Eine der Kühe scheint mit den Haxen in einem Loch festzustecken.«

»Es hört sich aber nicht nach Kuhgebrüll an.« Er ging zum Fenster.

Weiter draußen auf einem Feld hinter der Steinmauer war tatsächlich eine Kuh mit den Hinterbeinen in ein Loch geraten, und sie vermochte nicht, sich selbst zu befreien, so sehr sie es auch versuchte. Offensichtlich hatte sich das Schwein ihrer Sache angenommen. Das Borstenvieh stand neben der Kuh, die Schnauze himmelwärts gewandt, und flehte in Tönen, die keine Gottheit überhören konnte, um sofortige Erlösung vom Übel. Die missliche Lage, in der sich seine Gefährtin befand, schmerzte augenscheinlich mehr als das Messer des Schlächters oder der Gertenhieb des Hirten, oder forderte es mit vehementer Empörung sein Dinner ein?

Die Kuh hatte sich in ihr Schicksal ergeben; als wäre sie mit dieser Art körperlicher Übungen wohl vertraut, versuchte sie in regelmäßigen Abständen, die Beine freizubekommen, legte auch kurze Verschnaufpausen ein, um dann die Bewegungsabläufe wieder aufzunehmen, als gelte es, ihre Geschicklichkeit unter Beweis zu stellen. Man hatte den Eindruck, sie tat es im Einklang mit dem Schwein. Das Schwein quiekte, die Kuh arbeitete mit den Hinterbeinen. Die beiden Tiere hatten bei diesem komischen Schauspiel eine Partnerschaft geschlossen: Der Kuh fiel der Tanzpart zu, und sie führte ihn, so gut sie konnte, aus, und das Schwein sorgte für die musikalische Begleitung.

Mit einiger Mühe überwanden Kitty und Kieran die Steinmauer. Als sie am Ort des Geschehens ankamen, war noch alles wie gehabt. Die Kuh übte sich weiterhin in ihren Bewegungen, angetrieben von dem unablässigen Quieken und Grunzen des Schweins; der sich wiederholende Ablauf von rhythmischen Bewegungen und Tönen erinnerte Kitty an eine Oper von Philip Glas und Robert Wilson, die sie in Brooklyn während ihres Studienaufenthaltes in Fordham gesehen hatte.

»Ohne Spaten wird das nichts«, brüllte Kieran und war bei den unermüdlichen atonalen Entäußerungen des Schweins kaum zu verstehen. »Ich muss das Loch größer machen, damit sie die Haxen herausbekommt.«

»Heißt das, ich soll einen holen?« Ungewollt, aber doch mit einiger Genugtuung, passte Kitty ihre Stimme der Tonhöhe des Schweins – dem zweigestrichenen b – an.

»Ich geh schon. Bleib du hier und versuche, hier Ruhe reinzubringen.«

»Und wie, bitte schön?«

»Ein stumpfer Gegenstand, gezielt zwischen die Ohren des Schweins platziert, könnte Abhilfe schaffen.«

Kieran nahm es erneut mit der Steinmauer auf und hatte seine Schwierigkeiten. Eigentlich war er durchtrainiert, aber die Mauer war ziemlich hoch, und die Steine waren so sauber gesetzt, dass man mit der Fußspitze kaum irgendwo einen Halt fand. Zweimal glitt er ab. Als er das zweite Mal abrutschte, hörte er Kitty rufen: »Vielleicht sollte ich lieber gehen.«

Er warf ihr nur einen scharfen Blick zu, hangelte sich dann erfolgreich nach oben und sprang hinunter auf die andere Seite. Kitty machte dem Schwein Vorhaltungen, sie konnte einfach nicht anders. Als das zu keinem Diminuendo führte, wiederholte sie die Ermahnungen, diesmal auf Englisch statt auf Irisch. Doch das brachte erst recht nichts, spornte das Schwein eher an. Es steigerte sich zu stratosphärischen Höhen, um die es jeder Koloratursopran beneidet hätte, und das mit zunehmender Lautstärke. Ganz offensichtlich verfügte das Tier über die Muskelkraft, die Stimmbänder und den nötigen Resonanzraum im Kopf, um ein derartiges Klangphänomen zu erschaffen. Kitty schaltete rasch wieder auf das Irische um, aber das Schwein ließ sich nicht beruhigen und lamentierte, ohne auch nur im Geringsten nachlassendes Durchhaltevermögen oder schwächelnde Stimmgewalt zu zeigen.

Wie um sich der Darbietungen des Schweins besser dankbar erweisen zu können, gab die Kuh ihre nutzlosen Versuche, sich zu befreien, auf, schaute nach vorn und schenkte ihre ganze Aufmerksamkeit dem schweinischen Schauspiel, das sie selbst provoziert hatte. Sie schien nicht länger nach Befreiung zu verlangen, war eher darauf aus, zuzuhören. Sie wedelte mit dem Schwanz und zuckte mit den Ohren und zollte dem Schwein so Beifall.

Dann verstummte der Lärm. Kitty dachte schon, jemand hätte mit dem Beil zugeschlagen, und sie würde, wenn sie den Blick von der Kuh wendete, das arme Schwein in seinem Blut liegen sehen. Aber als sie sich umdrehte, hatte das Schwein den Kopf gesenkt und schnüffelte ganz ruhig im Gras. Unmittelbar in der Nähe, an einer Hecke, stand Taddy, den Blick auf das Schwein gerichtet. Er schaute zu, wie es schnupperte und schnüffelte, im Rasen wühlte und Grassoden hochwarf. Erst jetzt bemerkte Kitty, dass sich das Schwein – wie auch immer – des Ringes entledigt hatte. Es hatte das Loch gebuddelt, das der Kuh zum Verhängnis wurde, und konnte nun wieder nach Herzenslust das Erdreich aufwühlen.

Als Taddy aufblickte, sah er nicht zu Kitty, sondern zu Brid, die plötzlich vor der Kuh stand. Der Nacken des jungen Mannes wirkte nicht nur aufgeschürft, sondern auf sonderbare Weise zernagt. Verwirrt und voller Trauer starrte Taddy auf Brid. Sein Blick veränderte sich, war der eines jungen Burschen, der voller Hingabe das Objekt seiner Liebe betrachtete, sein ganzes Sein erfüllt von einem stillen Kummer, einem Schmerz, der das Verlangen überschattete. Er stand, als wartete er darauf, dass Brid ihn besäße oder er sie besäße, dass er sie förmlich in sich aufnehmen, sie sanft im Herzen, in der Seele bewahren könnte. In eins verschmelzen, Taddy und Brid. Brid und Taddy.

Dass Kitty nichts tun konnte, um seinen Kummer zu lindern, bedrückte sie. Brid war mehr mit der Kuh als mit Taddy beschäftigt und betrachtete angelegentlich das Tier, das schicksalergeben in dem Loch feststeckte, das es dem Schwein zu verdanken hatte. Die eigene Hilflosigkeit brachte das Mädchen zur Verzweiflung, sie rang die Hände, führte sie an die Brust, streckte sie von sich, um sie erneut zu ringen und nur noch heftiger gegen das Brustbein zu pressen. Ihr Blick wanderte von den gefangenen Hinterbeinen zu dem prallen Euter, das auf der Erde ruhte, und weiter zum Kopf der Kuh und den sanften, treuherzigen Augen. Dann sah sie Taddy. Ihre Erregung legte sich. Langsam ließ sie Hände und Arme sinken und erwiderte seinen Blick. Sie wurde gleich ihm völlig ruhig, so dass ihrer beider Liebe sich ungestört vereinen konnte – Kummer und Leid schmerzten sie nicht ihret-, sondern seinetwegen, und umgekehrt empfand er Kummer und Leid nicht seinet-, sondern ihretwegen.

Liebst du doch ewig, und bleibt sie so schön!

Langsam, aber unaufhaltsam erfüllten Kittys eigene Sorgen ihr ganzes Sein. Eigene Gefühle – gut und schön, aber was waren sie im Vergleich zu der ewigen und trauervollen Liebe der beiden? Dass Kitty die zwei dem blinden und gleichgültigen Lord Shaftoe überließ, verbot sich immer mehr. Unter dem Dach Seiner Lordschaft würden sie nicht mehr an Webstuhl und Harfe sein dürfen, sondern würden – wie sie es ja selbst gesehen hatte – erbarmungslos und für alle Ewigkeit an dem eisernen Kronleuchter der Großen Halle hängen.

Immer noch schauten sich die jungen Liebenden an, ihr Sehnen kam aus tiefstem Herzen. Nie und nimmer würde Kitty sie ausliefern. War sie nicht selbst wie sie besessen? Wenn man böse Geister austreiben konnte, warum gab es dann keinen Ritus, mit dem man heilige und anmutige Geister in die Freiheit entlassen konnte? Aber Kitty kannte ja den Ritus. Peter hatte ihr gesagt, was zu tun war. Nur wie? Wie sprengt man eine Burg in die Luft? Mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, glaubte sie zwar, Kontakt zu Leuten aufnehmen zu können, die über Schießpulver und Sprengstoff verfügten, doch damit wäre nicht viel geholfen. Mit der Explosion musste sich die Verschwörung von damals vollenden, die den Vorwand zur Hinrichtung der beiden durch den Strang gegeben hatte. Und den dafür vorgesehenen Sprengstoff gab es noch, er sollte irgendwo in der Burg sein, wartete auf seinen Einsatz. Aber wo? Suchaktionen weit und breit, tief unten und hoch oben hatten seit nahezu zwei Jahrhunderten zu nichts geführt. Und doch glaubte sie Peter mehr als dem, was sie sich im Stillen sagte, dass nämlich die Prophezeiungen des Sohnes einer Hexe pure Erfindung waren, Erfindungen, die selbst die ihren übertrafen. Vielleicht sollte sie mit der Suche von neuem beginnen. Den Sprengstoff gab es. Sie würde ihn finden.

Oben auf der Mauer erschien Kieran mit dem Spaten in der Hand. Er nahm Brid und Taddy nur flüchtig wahr, seine Aufmerksamkeit galt mehr der Kuh und dem Schwein, die beide Ruhe gegeben hatten. »Wer hat dem Schwein den Ring aus dem Rüssel entfernt? Und wer hat der Kuh über die Mauer geholfen, damit sie im Loch versinkt und sich fast die Beine bricht?«

Die Worte waren kaum ausgesprochen, da tauchten Brid und Taddy in ein strahlendes Licht. Wenige Momente später verblasste es, und alles ringsum war so hell wie zuvor, nur waren die beiden verschwunden.

Kieran schleuderte den Spaten auf die Erde und sprang dann selbst von der Mauer. Kaum war der Spaten in ihrer Nähe gelandet, da nahmen Kuh und Schwein ihre Aktivitäten wieder auf, die Kuh ihr Bemühen, sich freizukämpfen, das Schwein sein Lamentieren.

Kieran erwartete nicht, dass Kitty auf seine ohnehin schwer zu beantwortenden Fragen antworten würde. Er griff sich den Spaten und begann, die Hinterbeine der Kuh vorsichtig freizuschaufeln, erweiterte das Loch, so dass das arme Tier hinten etwas mehr Bewegungsfreiheit gewann und sich auf die ebene Erde hochstemmen konnte.

Nur dass die sonst ebene Erde dank der Wühlarbeit des Schweins nicht mehr eben war.

Als Kieran ein paar Grassoden gestochen hatte, meinte er beim nächsten Spatenstich: »Wenigstens wissen wir jetzt, welches Schwein wir am Spieß braten werden.« Kitty sagte nichts. Es war nicht der rechte Zeitpunkt. Grassodenausheben ist keine leichte Arbeit, selbst mit einem scharfen Spaten und für einen so kräftigen Mann wie Kieran. Aber es ging voran. Langsam. Unter Stöhnen.

»Geh und suche die Stelle, wo Steine aus der Mauer gebrochen sind«, forderte er Kitty unwirsch auf, »damit ich die Kuh dahin zurückschaffen kann, wo sie hingehört, sonst macht die sich noch richtig zum Krüppel, wenn sie versucht, über die Mauer zu klettern.«

»Ich sehe keine Lücke.«

»Irgendwo muss es eine geben. Die Kuh – und das dämliche Schwein – können unmöglich rübergekraxelt sein. Wir müssen den Durchbruch finden, nur da können wir sie durch die Mauer kriegen.«

»Na gut.« Begeistert klang Kitty nicht. »Ich schau mal nach. Aber fürs Erste sehe ich nichts.«

»Du wirst die Stelle schon finden.«

Immer bestrebt, sich in der Welt nützlich zu machen, schob Kitty ab, tatenlos herumstehen und dem Mann bei der Arbeit zusehen, schmeckte ihr sowieso nicht. Sie hielt sich dicht an dem Steinwall, der manchmal höher als sie selbst war. Eile hatte sie nicht, sie schritt die Mauer ab in der stillen Hoffnung, keine Lücke zu finden – einfach nur, um Kieran zu beweisen, dass er nicht recht hatte. Wiederum würden sie dann die Steine selbst lösen, die Kuh und das Schwein hinübertreiben und den Durchgang wieder schließen müssen.

Sie wurde den Gedanken nicht los, dass das Schwein die Bresche geschlagen hatte. Mit seinem hammerharten Schädel, dem Stiernacken und den mächtigen Schultern hatte es mit Leichtigkeit beliebig viele Steine hinuntergestoßen, egal wie groß oder schwer. Man durfte seine Kräfte nicht unterschätzen. Schon gar nicht seine sture Hartnäckigkeit. Wenn es eine Bresche in die Mauer schlagen wollte, würde ihm das gelingen.

Sie fand, es wäre wohl doch besser, auf die Stelle zu stoßen, wo die Felsbrocken von allein, ohne äußere Gewalteinwirkung, zusammengefallen waren.

Und die Grübelei über das Schießpulver führte auch zu nichts. Vielleicht sollte sie den Jungen, den künftigen Seher, auf die Burg holen, konnte ja sein, dass er das Versteck des Sprengstoffs aufspürte. Sie würde ihn von Raum zu Raum führen, vom Kerker bis zur Turmspitze. Sie würde mit ihm über die Wiesen und den Morast gehen, durch Obstgarten und Weideland, den Steinwall entlang, wie sie es jetzt tat, und er würde seine übernatürlichen Kräfte nutzen, um das Schießpulver zu finden. Sie würde sich alle Mühe geben, sich nichts von ihrer Verzweiflung anmerken zu lassen, geschweige denn von ihren Kümmernissen, dass – sollte das Schießpulver gefunden und die Burg in die Luft gejagt werden – kein Taddy sie je wieder besuchen würde, sie nie mehr die traurigen Augen, die schmuddligen Füße, den geschundenen Hals, die Harfe spielenden Finger, die geöffneten Lippen des schmachtenden Liebhabers sehen würde.

Und doch musste es sein. Sie war die Einzige auf Erden – anscheinend auch im Himmel –, die die Tat vollbringen konnte. Wenn die Rachegeister sich überreden ließen, ihr Urteil zu revidieren, und sich damit zufriedengeben könnten, die Burg Stein für Stein abzutragen, würde sie darum bitten, die Aufgabe übernehmen zu dürfen. Mit bloßen Händen würde sie es tun. Das Schwein hatte es ihr vorgemacht – mit dem Kopf würde sie zustoßen, mit den Füßen treten, keine Mühe scheuen. Kratzen, scharren, stoßen, hämmern, brechen, nichts würde sie unversucht lassen. Aber ihres Wissens war das Urteil – wenn man es überhaupt so nennen durfte – weder revidiert noch aufgehoben worden; wenn sie also handeln wollte, dann würde sie tun müssen, was man damals vorgehabt hatte, und das hieß, die Burg in die Luft jagen.

Gelb blühender Ginster klammerte sich an die Mauer, sein süßer Duft war zuweilen stärker als der salzige Geruch der Steine. Der Himmel hoch droben war nicht blau, er war mehr wie ein weißer Schleier, also würde es in den nächsten Minuten nicht regnen. Ein Wiesenpieper pickte am Ginster und suchte nach Futter, und oben schwebte eine Möwe, wollte nach einem Ausflug zu den östlich gelegenen Flüssen und Seen zurück zum Meer. Das vor vielen Jahren erbaute Mauerwerk reichte ebenso tief in die Erde wie in die Höhe.

Bei ihrer Wanderung um die Einfriedung begleiteten sie inzwischen mehrere Wiesenpieper, die mit den Schnäbeln in den Steinfugen nach Fressbarem herumstocherten. Über ihr löste sich die weiße Wolke auf, die den Himmel bedeckt hatte, und gab den Blick auf die Sonne frei, die sich, ihrer Umlaufbahn folgend, nach Westen zu neigte. Schöner konnte die Welt nicht sein, wenn man eine Mauer nach herausgebrochenen Steinen absuchte.

Als sie den äußersten Rand des Feldes erreichte, sah sie die Lücke: wahllos durcheinanderliegende Steine auf der Erde, im Gras, zwischen Heidekraut und Ginster. Und mittendrin der Ring, den man dem Schwein durch den Rüssel gezogen hatte, das Metall durchgeschabt, weil es den vehementen Stößen gegen die harten Felsbrocken nicht hatte standhalten können. Das Schwein also war es gewesen.

Es war eine ernüchternde Erkenntnis, Kitty wollte sich schon empören. Sie drehte sich um und sah das Schwein, gleich dahinter die Kuh, dank des größer gegrabenen Erdlochs aus ihrer misslichen Lage erlöst, beide auf dem ummauerten Ackerland. Kieran stand an die Trockenmauer gelehnt, den Spaten hatte er neben sich abgestellt. Er hatte einen beträchtlichen Teil Erde ausgehoben, um die Kuh zu befreien, selbst aus der Entfernung sah das Loch größer aus, als Kitty es erwartet hatte. Kieran hielt ein derbes Stück Papier in der Hand, das er von allen Seiten beäugte, als versuchte er dahinterzukommen, was sein Fund bedeutete. Er machte ein finsteres Gesicht, ein Zeichen äußerster Konzentration; erfahrungsgemäß vermied man dann besser, ihn zu stören. Vor ihm auf der Erde lag, was sie für eine Kiste aus Metall hielt, einigermaßen verdreckt und mit offenem Deckel, und oben lugte eine braune Schriftrolle heraus.

»Das Schwein hat die Steine zum Einsturz gebracht«, rief sie. Als Kieran sie nicht beachtete, ging sie auf ihn zu und sagte: »Du hast da etwas gefunden. Eine Kiste, ein Papier oder eine Schriftrolle oder so was Ähnliches.«

Kieran reagierte nicht, nicht einmal mit einer Kopf- oder Handbewegung. Offensichtlich hatte er herausgefunden, was bei dem Schriftstück oben und was unten war, und bemühte sich, es zu entziffern, wobei seine Lippen mitarbeiteten. Als Kittys unmittelbare Nähe ihn schließlich ablenkte, rollte er das Papier rasch zusammen und setzte eine gleichgültige Miene auf wie jemand, der sich im nächsten Moment mit einer Notlüge aus der Affäre ziehen würde.

»Was ist das?«, fragte Kitty.

»Nichts weiter.«

»Nichts weiter? Dann schadet es ja wohl nichts, wenn ich mal einen Blick drauf werfe.«

»Irgendeine alte Kritzelei.«

»War es in der Kiste da?«

»Sinnloses Zeug, hab ich doch schon gesagt.«

»Ich kann aber nicht warten.« Sie streckte die Hand aus.

»Es ist ohne Bedeutung. Lauter Gekritzel und ein paar dumme Zeichnungen. Wird ein gedankenloser Arbeiter liegengelassen haben, ist mit der Zeit von Erde und Gras überdeckt worden. Irgendwelche Entwürfe für Änderungen in der Burg, soviel ich ausmachen kann.«

»Dann kann ich sie wohl auch sehen.« Sie bückte sich, nahm die andere Schriftrolle aus der Kiste und breitete sie auseinander. Wie Kieran drehte auch sie den Bogen von einer Seite zur anderen, strengte die Augen an, ging mit dem Kopf etwas zurück, zog die Nase kraus und gab sich alle erdenkliche Mühe, hinter den Sinn der Zeichen zu kommen. Ohne es sonderlich zu betonen, sagte Kieran: »Das Schießpulver. Es ist in den Steinplatten, mit denen die Große Halle gepflastert ist. Wir sind die ganze Zeit darüber hin und her gelaufen. Und die Kühe auch.«

»Und Lord Shaftoe«, fügte Kitty mit tonloser Stimme hinzu. Sie starrte auf die offene Schriftrolle in ihren Händen. Der Text war irisch, aber die Schrift war schwer zu lesen, Schriftzeichen von früher, wie sie zuerst glaubte, für die zu entziffern man den Stein von Rosette gebraucht hätte. Bei längerem Betrachten allerdings hatten die Buchstaben eine gewisse Ähnlichkeit mit der Handschrift, wie sie Schwester Clothilde von den Kindern in der ersten Klasse verlangt hatte. Gruppen von Buchstaben ergaben erkennbare Wörter, und allmählich vermochte das Hirn auch eine Bedeutung hinter den Wörtern auszumachen. Die Zeichnungen jedoch, mehr oder weniger grobe Skizzen, entzogen sich jeder Deutung. Davon überzeugt, dass sie ihr Geheimnis preisgeben würden, wenn Kitty lange genug darauf stierte, ließ sie kein Auge von ihnen und versuchte auch das flüchtigste Blinzeln zu vermeiden. Und dann kam sie schließlich dahinter. Es handelte sich um Anweisungen, wie die Steinplatten zu legen waren, mit allen Vorsichtsmaßnahmen, die zu bedenken waren, um sie keinesfalls mit einem Element in Kontakt zu bringen, das eine vorzeitige Explosion hätte auslösen können: Feuer. Auch waren lauter Namen aufgelistet, vermutlich die der Dienerschaft, die zur Burg gehörten. Sie sollten einen Vorwand ersinnen – Arbeit, die woanders zu erledigen war, Besuche eines kranken Verwandten –, irgendeine Entschuldigung, um zu dem Zeitpunkt, da der Sprengstoff gezündet werden sollte, nicht in der Burg zu sein. Einzig und allein der jüngst eingetroffene Lord Shaftoe sollte zugegen sein, der Mann, der auf Geheiß der Krone erschienen war, um die ländliche Bevölkerung strengsten »Zwangsmaßnahmen« zu unterwerfen, weil die sich entschieden geweigert hatte, sich vertreiben oder auspeitschen zu lassen oder Hungers zu sterben, wie es die Krone verlangte.

Kittys Bemühungen, die Zeichnungen zu deuten, wurden von Kieran unterbrochen. »Wir brauchen uns keinen Kopf zu machen. Bei all der Feuchtigkeit und nach all den Jahren taugt das Schießpulver sowieso nichts mehr. Nur als Steinplatten im Fußboden hat es überdauert.«

Kitty gab das Enträtseln auf. »Können wir da wirklich sicher sein?«

»Es ist über zweihundert Jahre her. Und vergiss nicht: Das Schießpulver von Guy Fawkes war schon nach wenigen Wochen nicht mehr zu gebrauchen, nur dass er es nicht wusste. Die Elemente trennen sich in kürzester Zeit voneinander. Nie im Leben hätte der das Parlament in die Luft sprengen können. Und wir haben hier nur Steinplatten. Nichts weiter.«

»Zwischen Guy Fawkes und der Zeit, als die Platten hier gelegt wurden, liegen fast zweihundert Jahre. Hast du das vergessen? Keine Zivilisation kann Schritt halten mit den ›Verbesserungen‹, wenn es gilt, neues Schießzeug und sonstige Zerstörungsmittel zu ersinnen. Die Schwierigkeiten, die ein Mr. Fawkes hatte, dürften in den folgenden beiden Jahrhunderten überwunden worden sein.«

Kieran zuckte mit den Achseln. »Wir können es ja versuchen, wenn dich das glücklich macht. Wenn wir uns selbst hochjagen, wissen wir wenigstens, dass es noch funktioniert.«

»Es sagt ja niemand, dass wir die ganze Burg in die Luft sprengen müssen. Würde es nicht eine Ecke, ein kleines Stückchen, ein Steinbrocken tun? Dann wüssten wir doch, woran wir sind.«

»Von mir aus können wir es probieren.«

»Ich bin dabei.«

Sie trieben – nicht ohne gelegentliches Fluchen – die Kuh und das Schwein durch die Lücke in der Mauer zurück, brachen aus einer Steinplatte in der Großen Halle ein Stück aus, schafften es über die Straße und ein Ende weiter hinunter zu einer Weide mit felsigem Untergrund, machten ein Feuer an, und Kieran warf aus einiger Entfernung den Steinbrocken in die lodernden Flammen. Sie zogen sich ein Stück zurück. Nichts geschah. Sie warteten. Immer noch nichts. Augenscheinlich war Kitty in ihrem Lob des Fortschritts der Zivilisation zu großzügig gewesen.

Sie kehrten um und gingen die Straße entlang und waren schon fast bei den Ställen angelangt, als sie ein lautes Krachen vernahmen, es klang, als hätte man riesige Popcornkörner zum Platzen gebracht. Sie sahen sich vielsagend an und schauten dann zurück zum Feld. Flammende Holzscheite flogen durch die Luft, Funken zerstoben und rieselten zur Erde. Ganz in der Nähe stand Brid, starrte ungläubig auf das Geschehen und hielt die Hände ausgestreckt, um den einen oder anderen Funken zu erhaschen – als wären es Schneeflocken, die sie zum ersten Mal sah und über die sie nicht genug staunen konnte. Auch Taddy war wie betäubt von dem Schauspiel, blickte fasziniert auf der Erde umher, dass sie schon dachten, er würde die kleinen Bruchstücke, die eben noch undurchdringlicher Fels waren, zählen.

Rasch, wiederum nicht zu rasch, gingen Kitty und Kieran zu dem Wiesenstück zurück und bestaunten mit offenem Mund, was von dem von ihnen aufgebauten Holzstoß geblieben war: noch brennende, versprengte Holzsplitter zwischen geborstenen Steinen. Langsam wagten sie sich bis zum Brandherd vor. Sie brauchten eine ganze Weile, um die Reste der Glut auszutreten; Kierans Stiefeln bekam das nicht gerade gut, und Kitty opferte ein Paar Sneakers, die bei der Hitze schmolzen.

Taddy und Brid sahen zu, ihre Trauer schien verflogen. Mit großen, erwartungsvollen Augen verfolgten sie, was geschah. Kieran deutete ihren Gesichtsausdruck als ein zaghaftes Flehen, Kitty mehr als ein Hoffen, das von der Furcht, ihr Traum könnte nicht in Erfüllung gehen, gedämpft wurde.

»Jetzt können wir zum Werke schreiten und tun, was getan werden muss.« Kitty flüsterte, als hätten die Steine Ohren.

»Nichts dergleichen können wir tun. Nicht einmal in Erwägung ziehen.«

»Und einfach zulassen, dass sie gehängt werden?«

»Sie sind längst gehängt worden.«

»Ja, und man wird sie immer wieder hängen, wieder und wieder, bis …«

»Nein. Die Burg ist nicht mehr unsere. Oder wird es bald nicht mehr sein. Wenn du unbedingt eine Burg in die Luft sprengen willst, dann geh und kauf dir eine andere, und ich helfe dir, sie in jede x-beliebige Richtung hochzujagen. Nach oben, nach unten, nach allen Seiten. Ganz, wie du wünschst. Diese jedenfalls nicht.«

»Aber sieh doch, wie sie da stehen …«

»Ich sehe sie, ja. Und ich möchte, dass sie gehen …« Er hielt inne, um dann in aller Ruhe fortzufahren: »… obwohl ich es eigentlich nicht möchte.«

»Was … was soll das heißen?«

»Ich weiß es selbst nicht. Ich kann es nicht erklären. Aber die Vorstellung, ohne sie zu sein …«. Er sprach nicht weiter.

Peter McCloskey war auf das Feld gekommen. Er trat an das ausgelöschte Feuer und betrachtete es. Kitty brachte es zuwege, ihren Blick von ihrem Mann zu lösen. Sie sah von Peter zu Brid, von Peter zu Taddy. Peter bückte sich, hob ein kleines, abgesprengtes Stückchen Stein auf und drehte es in der Hand hin und her. »Ich habe es krachen gehört«, sagte er. »Es stört Sie doch hoffentlich nicht, dass ich gekommen bin, weil ich sehen wollte, was passiert ist.« Er ließ keinen Blick von dem Bruchstück, drehte es um und um. Als reagierte er auf ein Geräusch, das nur er hören konnte, hob er den Kopf und blickte über Taddy und Brid hinweg auf ein Heidegestrüpp unmittelbar hinter ihnen. Er blinzelte zweimal und schenkte dann seine Aufmerksamkeit wieder dem Stein.

»Du siehst sie, nicht wahr?«, fragte Kitty im Flüsterton.

»Sehen, wen?« Peter blickte auf und starrte auf das Heidekraut.

»Brid«, sagte Kitty, »und Taddy. Da drüben. Dort, wo du hinguckst.«

»Sie sind also hier?« Auch er flüsterte.

Kieran schurrte mit seinen lädierten Stiefeln auf dem eben erst entstandenen Schutt herum. »Du kannst sie nicht sehen?«

»Wie sollte ich? Sie beide sind die Einzigen, die sie sehen können.« Bei diesen Worten hob Taddy die Hand, als gäbe er ein Versprechen oder leistete einen Schwur, und ward nicht mehr gesehen. Brid streckte eine Hand nach Kieran aus und verschwand gleichfalls.

»Sie sind fort«, stellte Kieran leise und fast traurig fest.

»Und du hast sie nicht gesehen?«, fragte Kitty Peter.

Peter hatte sich wieder dem Stein zugewandt, hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte dabei das Handgelenk. »Außer Ihnen sieht sie niemand. Was für einen Grund sollte ich haben, sie zu sehen?«

»Und was für einen Grund haben wir?« Kitty vermochte immer noch nicht, etwas lauter zu sprechen.

»Da müssen Sie meine Mutter fragen.«

»Ich hab sie gefragt. Sie hatte nur irgendeine alberne Theorie und meinte, sie wüsste es selbst nicht recht.«

»Na, gut. Vielleicht weiß sie es jetzt.«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil sie mir gerade vorhin erst gesagt hat, sie wüsste jetzt, wo das Schießpulver ist. Es sei ihr just eingekommen.«

Kieran sah erst seine Frau, dann den Jungen an. »Und wo, sagt sie, ist es?«

»Da, wo Sie das Bruchstück herhaben, das Sie gerade hochgejagt haben. Die Steinplatten in der Großen Halle.«

»Wie hat sie das herausgefunden?«

»Das weiß sie selbst nicht so genau. Sie hat nur so was gesagt wie »eine Tür ging auf«, und das war’s. Vielleicht hob sich auch der Deckel von irgendwo und gab das Geheimnis preis. Dann dachte sie, es hätte ihre Großtante sein können, die es ihr erzählt hatte, damals, als sie noch klein war, und später hatte sie es vergessen. Sie sagte, so genau wisse sie es nicht. Und als sie das gesagt hatte, fing sie an, Muffins zu backen, hörte mittendrin auf und …« Das Drehen und Wenden mit dem Stein hatte ein Ende.

»Ja? Und dann?« Kitty beugte sich vor, aus Angst, sie könnte von dem, was gleich gesagt werden würde, etwas verpassen.

»Sie müssen sie selbst fragen.«

»Sie hat dir doch aber etwas gesagt. Erzähl es uns«, drängte ihn Kieran und stocherte mit der Spitze seines kaputten Stiefels in der Asche, in den geschwärzten Holzstückchen und Steinsplittern herum.

»Das könnte ich schon machen, aber ich will nicht.«

»Warum nicht?«, fragte Kitty.

»Weil Sie es gar nicht hören wollen.«

»Wir wollen es aber hören!« Mit Kittys Flüstern war es vorbei.

»Das glauben Sie nur. Sie wollen das garantiert nicht hören.«

Kieran nahm einen Stein aus der Asche. Er war heiß. Er ließ ihn fallen. »Egal, erzähl.«

»Fragen Sie lieber meine Mutter.«

»Bitte, sag’s uns«, bettelte Kitty.

Mit gesenktem Kopf erklärte Peter: »Meine Mutter hat gesagt, Sie sehen Taddy und Brid – und nur Sie –, weil es eine Katie McCloud und ein Kevin Sweeney waren, die seinerzeit das Schießpulver zünden sollten. Und Kevin sah damals genauso aus wie Mr. Sweeney heute. Und Katie sah damals genauso aus wie Sie, Mrs. Sweeney.«

»McCloud.« Kitty hatte sich wieder aufs Flüstern verlegt.

»McCloud«, verbesserte Peter. »Brid und Taddy haben Sie erkannt. Sie denken, Sie sind endlich gekommen, um die Burg in die Luft zu sprengen. Die beiden haben nicht die Zeitvorstellung wie wir, sagt meine Mutter. Ihr Schicksal hängt von Ihnen ab. Sie warten.«

»Es soll ein Sweeney gewesen sein, der …« Kieran griff sich mit der rechten Hand an die Brust und schob sie von dort weiter, bis sie unter seinem Bart verschwand, vielleicht, um die Hand zu verbergen, aber wahrscheinlich eher, um sich an die Kehle zu fahren.

Kitty schüttelte leicht den Kopf. »Eine McCloud würde nie …« Sie wendete sich ab, ihr Augenmerk schien plötzlich nur den Ställen zu gelten, als stünde sie vor der dringenden Aufgabe, wegen deren Reparatur zu einem Entschluss zu kommen.

Peter schob mit der Fußspitze ein Stückchen verkohltes Holz von einem Steinbröckchen weg. Eine Meise hatte sich im Obstgarten nebenan auf einem Baum niedergelassen und gab ihr Zweitonlied in klagendem Moll zum Besten. Gleich darauf kam aus der Ferne die Antwort, in ebenden zwei Tönen, nur etwas tiefer. Ohne aufzusehen, sagte Peter: »Meine Mutter wusste nicht recht, ob sie es von ihrem Urgroßvater mütterlicherseits gehört hatte und sich erst jetzt wieder daran erinnerte, oder ob es etwas war, was sie zuvor überhaupt nicht gewusst hatte und erst jetzt weiß. Dann wieder sagte sie, sie hätte es zuvor nicht gewusst, es sei die reine Wahrheit, die sich ihr offenbart hätte, ob sie nun wollte oder nicht.«

Kitty griff mit der rechten Hand zum linken Ellenbogen und legte damit ihren Arm lahm, sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie mit ihm anfangen sollte. »Eine McCloud hätte nie zugelassen, dass jemand gehängt wird; und dass sie etwas nicht ausführt, was sie geschworen hat zu tun, ist gar nicht vorstellbar.« Die Worte kamen abgehackt, aber bestimmt.

Kieran schüttelte immer noch den Kopf. »Wie sollte ein Sweeney – ein Sweeney – Verrat üben … oder sich nicht zur Tat bekennen und damit zwei unschuldige …« Von der Vorstellung gepeinigt, kniff er die Augen zusammen und schien seine Fragen an eine Fuchsie zu richten, von denen viele zwischen den Begrenzungssteinen der Straße wuchsen. »Das kann nicht wahr sein. Es kann einfach nicht stimmen …« Er wandte sich Peter zu. »Bei allem Respekt, deine Mutter führt etwas im Schilde, wenn sie dir solche Dinge erzählt.«

Kitty sagte nichts, gab aber ihren Ellenbogen frei, ließ die Hand sinken und packte den Arm stattdessen am Handgelenk.

»Sie führt nichts im Schilde.« Peter beäugte weiterhin den kleinen Steinbrocken und schien mehr an seiner Zusammensetzung als an einer Deutung interessiert. »Es ist die Wahrheit. Sie erwartet von keinem, ihr zu glauben oder nicht zu glauben. Und mir geht es genauso. Sie brauchen nicht zu glauben, was ich gesagt habe. Die Wahrheit hängt nicht davon ab, ob man sie glaubt oder nicht.« Sein Blick haftete immer noch an dem Bruchstück in der Hand, er hielt es jetzt aber still. »Wenn Sie besser damit klarkommen, sie haben es nicht absichtlich getan, Katie oder Kevin. Sie wollten heiraten, und sie waren nach Tralee gegangen, um Katies Onkel und Kevins Cousins und Cousinen, die dort, beziehungsweise auf dem Weg dorthin, wohnten, zur Hochzeit einzuladen. Und sie mussten hin und zurück zu Fuß laufen, denn das war die einzige Möglichkeit damals. Katie blieb unterwegs über Nacht bei ihren Onkeln und Kevin bei seinen Verwandten, aber den Abend verbrachten sie immer mit der einen oder anderen Familie und aßen und tranken gemeinsam mit ihnen. Und der Einzige, der wusste, dass es ihre Aufgabe war, die Tat zu vollbringen, war der Mann aus Cork, der die Steinplatten gelegt hatte, sie wussten nicht einmal seinen Namen. Aber das Gerücht über das Schießpulver machte schon die Runde, nur war es ein Gerücht, das sich leider bewahrheitete. Diejenigen, die es in die Welt setzten, dachten nicht im Geringsten daran, dass sie die Wahrheit sprachen, sondern verbreiteten es nur, um Lord Shaftoe abzuschrecken, der schon auf dem Weg war. Und als sie – Katie und Kevin – nach Hause kamen, war es bereits zu spät. Taddy und Brid hatte man gehängt, und nichts war mehr zu retten. Katie beschimpfte Kevin, und Kevin gab Katie die Schuld, und es kam nie zur Hochzeit, sie beschuldigten einander dermaßen, dass sie sich nicht einmal mehr ansahen. Und so nahm die Fehde ihren Anfang, nur dass niemand erfuhr, womit sie begann, jeder erfand eine eigene Geschichte, selbst Katie und Kevin. Eine Geschichte von verratenen Priestern vor langen, langen Zeiten. Bei ihr hieß es, ein Sweeney habe sie verraten, und er sagte, eine McCloud habe es getan. Der Gedanke des Verrats vergiftete ihre Seelen, und ständig war nur davon die Rede. Eine Geschichte, in der ein Fünkchen Wahrheit steckte. Der Verrat. Die Schuld. Einer schob es auf den anderen.«

Kitty machte den Mund auf und wieder zu, ehe sie einen Satz herausbringen konnte. »Deine Mutter … hat sie gesagt, wer ihr das vor langer Zeit erzählt hat … dass sie sich jetzt wieder entsann …«

»O nein.« Peters Augen waren über dem, was er erzählt hatte, traurig geworden. Er sah Kitty an. »Von dem letzten Teil der Geschichte hat meine Mutter nichts gesagt. Auch niemand anders hat darüber zu ihr gesprochen. Und mir hat es ebenfalls keiner gesagt. Es ist einfach etwas, das ich weiß, so wie ich hier stehe, und Sie meinten, Sie wollten es hören.«

Kieran schaute den Jungen an. »Du hast das alles erfunden. Hier und jetzt?«

»Nichts davon habe ich erfunden. Wie könnte ich mir so etwas ausdenken, wo ich doch erst sieben bin?«

»Ans Geschichtenhören bist du von Geburt an gewöhnt.«

»Die hier habe ich nie gehört. Ich weiß aber, dass sie wahr ist, und auch ohne dass sie geglaubt wird, ist sie wahr. Sie wissen nun, warum nur Sie beide Brid sehen können. Und nur Sie beide sehen Taddy. Sie zeigen sich Ihnen, weil sie darauf gewartet haben, dass Sie kommen. Und sie haben Sie nie als die Schuldigen betrachtet, weil sie wussten, dass Sie es nicht mit Absicht getan haben. Es geschehen zu lassen, dass sie gehängt wurden, meine ich. Und nun sind Sie beide hier, und Brid und Taddy sind auch hier. Und mehr kann ich Ihnen nicht dazu sagen.«

Wieder hörten sie die Meisen rufen und antworten, und wieder konnte Kieran den Blick nur auf die Fuchsie heften, die sich aus der Hecke drängte. Kitty ließ das Handgelenk los und führte beide Hände, wie zum Gebet gefaltet, an die Lippen. Peter hielt den kleinen Steinbrocken über die gelöschte Feuerstelle und ließ ihn fallen. Dann verscharrte er ihn mit seinem Schuh in der Asche.