Kapitel 6

 

Wie stets, wenn Pater Colavin ein einigermaßen zahlungskräftiges Gemeindemitglied erwartete, saß er auch bei Kittys Eintreten über das Hauptbuch der Pfarrei gebeugt. Zu der Gepflogenheit gehörte, dass er den Gast aufforderte, sich zu setzen und einen Moment zu gedulden, weil er noch einige Posten zu Ende durchgehen müsste. Während des Lesens glitt der Stift über die Einträge in den Spalten des Hauptbuches, hier und da begleitet von einem erschrockenen Aufseufzen oder kleinem Stöhnen, doch ohne jeden Kommentar. Für Kitty war seine Verhaltensweise nichts Neues. Sie wartete, bis der gute Mann fertig war und er mit seinem Stuhl etwas von dem Tisch abrückte, an dem sie beide saßen – er auf der einen Seite, sie auf der anderen, sich getreu an die vorgeschriebene Etikette haltend, wie er es im Priesterseminar gelernt hatte: Bist du allein mit einer Frau, sorge für eine deutliche Trennlinie zwischen dir und ihr. Die Gründe dafür lagen auf der Hand – kein Gelöbnis konnte den Lockkünsten standhalten, die von dem weiblichen Geschlecht der Spezies Mensch ausgingen, viel schlimmer noch, die Frau als solche war schon von Natur aus eine Verführerin, der nicht zu trauen war.

Pater Colavins Wohnzimmertisch war mit so etwas wie einem großen Schal bedeckt – einem Kleidungsstück seiner Mutter? –, einem Erinnerungsstück aus seiner Kindheit oder noch früherer Zeit, als seine Vorfahren vor fünf Generationen aus Ulster hierher gezogen waren. Sie waren inzwischen fast echtere Einwohner von Kerry als die seit Ewigkeiten Ansässigen selbst. Der Schal mit breiten braunen und rötlichbraunen Streifen, an den Enden mit grauen Fransen, die an dichtes, stumpfes Haar erinnerten, sollte dem Raum etwas Anheimelndes geben. Mitten auf dem Tisch stand eine leere Glasschale, die eigentlich für Obst gedacht war und den Versuch einer gutbürgerlichen Wohnzimmergestaltung abrundete.

Was Kitty von Kindheit an fasziniert hatte, waren die Tischbeine. Oben schon reichlich voluminös, schwollen sie förmlich an, um auf halber Höhe wieder zu ihrem ursprünglichen Umfang zurückzufinden, was in Kitty die Vorstellung erweckte, das jedes Bein eine Melone verschluckt hatte und nicht in der Lage war, den Verdauungsprozess zu beenden. Die Stühle waren gepolstert, der bunt gewirkte Stoffbezug namentlich bei einem Stuhl schon fadenscheinig, nämlich bei dem am oberen Tischende, Pater Colavins Platz. Bei den anderen Stühlen war der Stoff nur ausgeblichen, das Rot der Rosen verblasst und das Grün der Blätter zu einer ähnlich bräunlichen Tönung verkommen – Laub und Blüte waren halt gleichermaßen vergänglich. Auch legten die Stühle Zeugnis für das einsame Leben des Priesters ab, seinen Verzicht auf das selbstverständlichste tägliche Ritual im zivilisierten Leben, das gemeinsame Mahl. Vielleicht genügte ihm das Abendmahl – das heiligste aller Mahle, das man mit dem Erlöser teilte –, es übertraf möglicherweise jedes andere, und er wusste gar nicht, was er entbehrte.

An der Wand stand eine Anrichte, Ablage für die selten genutzten Platzdeckchen und die Flasche mit Jameson Whiskey, die bei Besuchen von Würdenträgern oder Gemeindemitgliedern, die wegen der Vorbereitung einer Hochzeit, Beerdigung oder Taufe zu ihm kamen, ihre Dienste tat. (Auch Kitty und Kieran waren im Zuge ihrer Hochzeitsvorbereitungen mit einem großzügigen Schluck bedacht worden, ein Vorgeschmack auf das, was sie im Falle von Taufen oder Trauerfeiern erwartete). Mitten über der Anrichte hing das Kreuz des heiligen Patrick, das Keltenkreuz mit verkürztem horizontalen Balken. Die übrige Wand war freigelassen, um die Wirkung des Kreuzes – ein weit wichtigeres Symbol der Iren als das Kleeblatt – nicht zu beeinträchtigen.

Neben der Tür, die zur Speisekammer führte, hingen die Bilder, die nicht fehlen durften: das Herz-Jesu-Bild im Glorienschein und Maria die Schmerzensreiche, das entblößte Herz durchbohrt von den Dolchen ihrer sieben Schmerzen.

Auf der anderen Seite neben der Tür hingen gerahmte, durch Lichteinwirkung gelblichbraun gewordene Fotos der Eltern des Priesters. Der Mann mit dem hohen gestärkten Kragen wirkte etwas steif, die Frau, eine geborene Fitzgibbons, durchaus gelöst mit ihrem Spitzenband um den Hals und der Brosche vorn. Die Fenster gegenüber der Anrichte hatten hauchdünne Tüllgardinen, während die Seitenschals aus bernsteinfarbenem Samt waren; sie wurden von Kordeln zusammengehalten, die möglicherweise schon früher mal als Bademantelgürtel gedient hatten. Das Teppichstück war so dünn und das Gewebe dermaßen abgewetzt, dass es sich zusammenschob, sowie man nur den Fuß bewegte.

Vater Colavin faltete die Hände über der Tischplatte, blickte Kitty müde an und sagte: »Gott sei’s geklagt. Das leidige Dach, und nur der Teufel, der es flickt.«

Kitty wusste aus Erfahrung, dass der Priester sie nicht auf eine bestimmte Summe festnageln würde, sondern ihr die Höhe ihrer Spende überließ. Sie war gekommen, weil sie etwas von ihm wollte. Die meisten kamen, um Beschwerde zu führen – über die Musik, die Predigt, das Verhalten von Gemeindemitgliedern, über die Ministranten, die sich an ungehörigen Stellen kratzten. Stets nahm Pater Colavin derartige Hinweise mit gebührendem Dank zur Kenntnis, ließ auch eine Bemerkung fallen, dass er ketzerischen Verhaltensweisen, schlimmen Verstößen gegen die Liturgie und Versündigungen anderer Art nachgehen würde, um sich dann seinen Aufgaben in allem Gleichmut zu widmen, wie er nur denen gegeben ist, die die Vermessenheit von Möchtegernen schlechthin ignorieren.

Meistens war Kitty dankbar für die Schranken, die er ihr setzte. In unmittelbarer Nähe von ihm hätte sie schwerlich dem Drang widerstanden, sich zu ihm zu neigen und einen Kuss auf die vom Alter gefurchte Stirn zu drücken. Auch in der heutigen Sitzung würde es ihr so gehen, umso mehr, da die ersten Minuten – Hauptbuch, Stöhnen, Verzweiflung – darauf hindeuteten, dass alles nach Plan verlaufen und damit enden würde, dass Kitty eine beträchtliche Summe für die Dachreparatur zusicherte, obwohl sie für dessen Instandsetzung bereits bei ihren letzten Besuchen in Vorbereitung der Hochzeit tief in die Tasche gegriffen hatte.

Dankbar war Kitty auch dafür, dass der Pater just diesen Tag für ihre Begegnung vorgeschlagen hatte. Eben erst war sie aus Cork zurückgekehrt, wohin sie ihre Anwältin, eine Debra McAlevey, zu einer Unterredung gebeten hatte, nachdem Kitty mehrere E-Mails ignoriert hatte, in denen ihr mitgeteilt wurde, dass der gegenwärtige Lord Shaftoe, mit vollem Namen George Noel Gordon Lord Shaftoe, in London Rechtsanwälte angeheuert hatte, die seinen rechtmäßigen Anspruch – wohlgemerkt seinen alleinigen Anspruch und nicht den der Krone oder der Republik Irland – auf den Besitz der Burg Kissane vertreten sollten. Kitty hatte die bisherigen E-Mails und deren Inhalt mit Nichtachtung gestraft, jetzt aber hatte Mrs. McAlevey gedroht, sie würde sie als Klientin fallen lassen, falls sie sich länger in Stillschweigen hüllte.

An diesem Morgen nun hatte Kitty zur Kenntnis nehmen müssen, dass Seiner Lordschaft Forderung alles andere als harmlos war. Es lagen Dokumente vor, die möglicherweise frühere Zusicherungen null und nichtig machten, dass die Burg aufgrund längeren Nichtzahlens von Steuern in den Besitz der Republik gelangt war, von der wiederum Kitty die Burg erworben hatte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu reagieren. Sie musste Papiere unterzeichnen, eidesstattliche Erklärungen abgeben und durfte in Zukunft den misslichen Vorgang nicht einfach beiseiteschieben.

Sie versuchte sich zu beruhigen und die ganze Geschichte als ein leidiges Ärgernis abzutun. Ihr Kaufrecht hatte man seinerzeit gründlich recherchiert und nach Recht und Gesetz abgewickelt. Ihr Besitzanspruch war auf ebenso solidem Grund gebaut wie die Burgmauern selbst; es wäre ja noch schöner, wenn sich da plötzlich nach zweihundert Jahren jemand blicken ließe und sich anmaßte, seine blutbesudelte Hand auch auf nur einen Zoll irischen Grund und Bodens zu legen. Gut, sie hatte auf jeder ihr von Mrs. McAlevey bedeuteten punktierten Linie ihre Unterschrift gegeben, doch aus ihrem schier unerschöpflichen Fundus an Missmut hatte sie die Gewissheit geschöpft, dass das ganze gerichtliche Verfahren nicht mehr als eine lachhafte und vorübergehende Ablenkung von ihren wahren Schwierigkeiten war, die sie gegenwärtig bedrückten – Schwierigkeiten, die sie das Pfarrhaus hatten aufsuchen lassen und deretwegen sie nun gemeinsam mit Pater Colavin, wenn auch hübsch säuberlich voneinander getrennt, an einem Tisch saß.

Kopfschüttelnd heftete Pater Colavin den Blick auf die hartnäckigen Eintragungen im vor ihm aufgeschlagenen Hauptbuch. »Erst fehlte es an einer Stätte, wo Gottes Sohn sein Haupt hätte betten können, und nun haben wir nicht mal ein Dach, es zu bedecken«, jammerte er. »Aber das hat ja nichts mit dir zu tun. Dich haben gewiss ganz andere Kümmernisse zu mir geführt.« Kitty zog in Erwägung, nur mal so probehalber, schon gleich eine Spende anzubieten und danach ihr Anliegen zur Sprache zu bringen. Aber weise, wie Pater Colavin war, könnte er das falsch auslegen und als Aufforderung verstehen, mit ihm angesichts ihrer Nöte handeln zu wollen. Er würde nicht geradeheraus um eine größere Summe bitten, sondern ihre Rede nur immer wieder unterbrechen und sie Verständnis heischend wissen lassen, dass der bevorstehende Einsturz des Daches seiner Konzentration abträglich sei. Um seine Sorgen zu lindern und seiner Konzentration nachzuhelfen, wäre ein geringfügiges Aufstocken ihrer Spende vielleicht doch zu erwägen.

Kitty beschloss, bei ihrer alten Taktik zu bleiben: Erst ihr Anliegen vortragen, feilschen konnte man später. Sie wusste nur allzu gut, dass noch im Verlaufe ihrer Unterredung nicht nur das Dach, sondern auch ein Buntglasfenster, wenn nicht zwei, und eine neue Glocke für die Glockenstube zur Disposition stehen würden, kompliziert wie ihr Problem war, die Burg von nur einem Geist, nicht aber dem anderen, befreit zu wissen. Sie war bereit, die Glocke in ihrer Spende zu bedenken, die Fenster jedoch nicht. Ein paar Dinge musste man noch für spätere Notfälle in Reserve halten.

»Also, Caitlin« – der Pater sprach sie mit dem Namen an, mit dem er sie getauft hatte –, »sag, was ich für dich tun kann, und ich werde alles, was in meinen schwachen Kräften liegt, tun.«

»Was mir auf der Seele liegt, lässt sich nicht so einfach sagen, Pater.«

»Oh, nicht das! Nicht du und Kieran. Nicht schon nach so kurzer Zeit.«

»O nein, Pater. Das ist es nicht. Oder – nein – nicht wirklich …«

»Gott sei Dank! Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt, so sehr bin ich seit den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht mehr erschrocken.«

Damals hatten die Reformen des Konzils den guten Priester entsetzt. Der Gedanke, dass der Papst sich mit den Bischöfen abspricht, statt vom Stuhl Petri Glaubensgrundsätze zu verkünden, hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht geworfen. Zur Erleichterung des alternden Paters hatten nachfolgende Päpste – Männer, die nicht so sehr an das Wirken des Heiligen Geistes glaubten wie Papst Johannes XXIII. – mit der feigen Billigung eben der Bischöfe, die das Konzil hatte stärken wollen, die Reform weitgehend zurückgenommen. Damit vertrauten sie die Kinder Gottes wieder einem Sterblichen an, der zögerte, die Lehren der allgemeinen Kirche so auszulegen, dass die gesamte Heilige Dreifaltigkeit mitgestaltend eingreifen konnte.

Die Reform, die Bestand hatte – die Liturgie in der Sprache der Gläubigen zu halten –, kam Pater Colavin recht. Dass er die göttlichen Mysterien und die gute Nachricht von der Erlösung auf Irisch zelebrieren durfte, schien ihm die Korrektur eines uralten Übels, das man – entgegen dem gesunden Menschenverstand – vor vielen Jahrhunderten eingeführt hatte: Rom als Sitz des Papstes beizubehalten und ihn nicht an den einzigen Ort der Erde zu verlegen, der von dem Raubzug der Barbaren verschont geblieben war, infolgedessen ein ganzer Kontinent ins Analphabetentum versank. Pater Colavin glaubte unerschütterlich daran, dass es ein irischer Mönch gewesen war, der nach seiner Studienzeit in einem irischen Kloster ins Land der Franken gezogen war, um Karl dem Großen das Lesen beizubringen. Im Grunde genommen lag es auf der Hand, dass man Dublin zum Herz und Haupt des Christentums hätte erklären müssen, war es doch von Heiligen und Gelehrten umgeben, die ganz offensichtlich das Zeug dazu hatten, einen verkommenen Kontinent wieder zur Zivilisation zurückzuführen. Dass es dazu nie gekommen war, hatte den Pater zeitlebens gequält, doch blieb ihm der Trost, dass er nun mit gälischen Worten beim Messopfer die unmittelbare Gegenwart Gottes herbeibeten konnte. Leider blieb dieses bisschen Irisch in der Liturgie auf einen winzigen Flecken des Planeten an der Küste des Atlantik beschränkt; aber immer, wenn ihn dieser Gedanke beschlich, zelebrierte er eine weitere Messe in der rechtmäßigen Zunge der Kirche – auf Irisch – und empfand stolzgeschwellt einen kleinen Triumph, in dessen Genuss nur die kamen, die geduldig auf die fällige Nachbesserung der Geschichte gewartet hatten.

Kitty heftete ihren Blick auf den Schal, der den Tisch bedeckte. »Ich bin nicht wegen Kieran hier.«

»Ah, meine Gebete sind erhört. Ich darf nicht vergessen, Dank zu sagen.«

»Ja, tun Sie das bitte.« Kitty legte jetzt wie Pater Colavin die gefalteten Hände auf die Tischplatte. Sie war bereit zu beginnen. Oder, wenn auch nicht bereit, jedenfalls beginnen wollte sie. »In der Burg sind Geister.«

»Geister in der Burg«, wiederholte Pater Colavin und schien durchaus bereit, das zu glauben. »Ah, ja. Es überrascht mich nicht. Interessant.«

»Sie glauben mir also?«

»Brid und Taddy. Sind das die beiden?«

»Sie kennen ihre Namen?«

»Die kennt doch jeder. Und außerdem, einer der wenigen Nachteile eines langen Lebens ist es, dass man dermaßen viel Wissen anhäuft, dass ich befürchten muss, mein armer Schädel platzt eines Tages und alle Gehirnzellen purzeln auf die Erde wie die Kotkügelchen von Papageientauchern.«

Mit einer so selbstverständlichen Reaktion hatte Kitty nicht gerechnet. Der Pater verdarb ihr Konzept; wie sollte sie jetzt zu dem nächsten Schritt übergehen – der Bitte um einen Exorzismus oder was auch immer nötig wäre, ihre Ehe vor dieser nicht zu duldenden Bedrohung zu retten und das Gespenst Brid zu vertreiben. Sie hatte einen längeren Diskurs erwartet, in dem der Pater sich über ihre wenig glaubhaften Einbildungen ausließ, hatte sich für weitere Beweisführungen gewappnet, war auf seine Mahnungen zur Vernunft eingestellt gewesen und auf Erwiderungen ihrerseits, die belegen sollten, dass Übernatürliches in ihrer Burg umging, war auch darauf gefasst, dass er ihr gut zureden und sich auf seine Erfahrung berufen würde, dass Jungvermählte auf Ungewöhnliches sehr leicht sensibel reagierten, worauf sie aufgebracht und zornig entgegnen würde, bis er schließlich nachgab – nur als Zugeständnis seinerseits, damit sie nicht hysterisch wurde.

Nichts dergleichen war geschehen. Sie musste sich auf eine unvorhergesehene Situation einstellen, ohne dass ihr die Zeit blieb, sich auf ihr Geschick zu besinnen, ihre Gerissenheit ins Spiel zu bringen, Fähigkeiten, die ihr aus der viel zitierten Hilflosigkeit des Weibes zuflossen, mit der wiederum sie auf ihren Seelenhirten und dessen unermessliche geistliche Kräfte Eindruck machen würde.

Sie wäre nicht Kitty McCloud gewesen, wenn sie sich nicht im Nu gefasst hätte. Pater Colavin bemerkte nichts von ihrer Verwirrung, und die war selbst für Kitty nur ein kleiner Schluckauf in ihrem Auftritt und musste nicht weiter beachtet werden.

Pater Colavin räusperte sich. »Du hast doch aber bestimmt von Brid und Taddy gewusst, bevor du die Burg erworben hast.«

»Na ja. In gewisser Weise schon. Die alten Geschichten hört man ja immer wieder.«

»Ich kann mich noch gut an sie erinnern«, gestand Pater Colavin. »›Sei vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause, sonst holt dich Taddy und sperrt dich in den Turm.‹«

Kitty versuchte dem Priester klarzumachen, dass ihre Eltern, ihre ganze Familie einzig und allein auf die Blutfehde mit den Sweeneys konzentriert waren – »Die Sweeneys werden dich holen!« oder »Ich geb dich zu den Sweeneys!« Mit Gespenstern wie Brid und Taddy zu drohen, war da nicht nötig gewesen. Doch den Pater ließen die Erinnerungen nicht los, jede Ablenkung war vergebliche Liebesmüh.

»›Brid und Taddy möchten einen kleinen Jungen, der auf den Namen Colavin hört, ich hätte nicht übel Lust, ihnen zu verraten, wo du schläfst, sie nehmen dich herzlich gern ...‹ Wie sollte ich das je vergessen? Meine Mutter …« Er sprach nicht weiter, weilte in der Vergangenheit, ein trauriges Lächeln auf dem Gesicht. Seine Mutter, seine von Sorgen gezeichnete Mutter, die die Augen nicht von der Näharbeit nahm, wenn sie ihn mahnte, die Katze nicht zu hänseln, lieber Torf für die Herdstelle hereinzuholen, wie geheißen. Oder sich an die Schularbeiten zu setzen, anstatt Unfug mit den Zöpfen seiner Schwester zu treiben. »Taddy und Brid, Brid und Taddy. Ach ja …« Er verstummte.

Kitty wartete ein Weilchen, um sicherzugehen, dass seine Träumereien ein Ende hatten. »Haben Sie sie damals gesehen?«

»O nein. Ich tat wie geheißen, und so wurden sie nie ernstlich gerufen.«

»Wenn Sie sie erleben wollen, kommen Sie zur Burg.«

»Ich würde sie dort sehen?«

»Könnte sein.« Garantieren konnte es Kitty nicht, und falsche Versprechungen wollte sie nicht machen, so fügte sie nur hinzu: »Nur Kieran und ich haben sie gesehen, bis jetzt jedenfalls. Aber Sie können es ja gern probieren.«

Der Priester schüttelte den Kopf. »Ich weiß deine Großherzigkeit zu schätzen, aber es sind die Letzten, die ich zu Gesicht bekommen möchte. Mich würden Angst und Schrecken packen. Von Kindesbeinen an predigte man mir, es seien böse Geister, die keine Ruhe finden, durch Wiesen und Wälder streifen, durch die Nebel schweben oder plötzlich aus Nebelschwaden auftauchen, sich böse Buben und kecke Mädchen schnappen und ihnen Dinge antun, wie man sie sich als normaler Mensch, der Herr seiner Sinne ist, gar nicht vorstellen kann.«

»Und trotzdem haben Sie sich etwas vorgestellt.«

»Selbstverständlich. Wie sollte ich nicht?«

»Und was haben Sie gedacht, könnte geschehen?«

Pater Colavin senkte den Kopf und legte die rechte Hand auf die Brust. »Ich hatte Angst, sie würden meiner Mutter etwas antun und ich wäre nicht da, um sie zu beschützen.« Wieder schüttelte er den Kopf, hoffte inständig, die Erinnerung möge von ihm lassen und ihn nicht länger quälen. Er ließ die Hände erneut auf das Hauptbuch sinken, blickte Kitty an und flüsterte erregt: »Wie sehen sie aus?«

So hatte sich Kitty ihre Unterredung nicht vorgestellt. Sie war gekommen, um sich von Geistern zu befreien, nicht aber, um sie heraufzubeschwören – wenn auch nur vor ihrem geistigen Auge – und sie dem Priester zu beschreiben, den sie doch eigentlich um Hilfe bitten wollte, damit er sie verjagte.

»Sie sind barfuß«, begann sie, ohne aufzusehen. »Und rings um den Hals erkennt man das rohe Fleisch, aufgescheuert vom Strang.«

»Nein«, unterbrach sie der Priester. »Hör auf. Mehr will ich nicht hören«, um sie im nächsten Moment zu drängen: »Doch, ich will es hören. Erzähl.«

»Ihre Augen sind traurig, unsäglich traurig. Es scheint ihnen selbst ein Rätsel, was sie da in der Burg hält. Gekleidet sind sie in Braun, Brid in einem einfachen Kleid, das ihr nicht ganz bis zu den Knöcheln reicht. Schwarzes Haar. Hohe Wangenknochen. Frische, junge Lippen. Beide sehen sie wie siebzehn aus.«

»Genau so alt waren sie. Sind sie.« Er schwieg, und Kitty hatte den Verdacht, dass er innerlich ein Gebet gen Himmel sandte. Sie wartete geduldig, bis er wieder sprach. »Und Taddy?«

»Trägt einen Kittel, mit einem Strick gegürtet. Braune Jacke, grob gewirkte braune Hose, die ihm gerade bis unter die Knie reicht. Braunes Haar. Dunkelbraune Augen. Schwielen an den Händen, vernarbte Risse von harter Arbeit. Er spielt Harfe. Sie webt am Webstuhl.«

»Das machen sie wirklich? Und du hast sie dabei gesehen?« Es verschlug ihm fast den Atem.

»Manchmal. Kurz vor Sonnenuntergang. Sie verbringt die meiste Zeit bei den Kühen, geht mit ihnen mit, will einfach mit ihnen zusammen sein. Er wandert mit dem Schwein, das wir haben, umher. Sie sind wie verirrt, wissen nicht, wohin sie eigentlich wollen.«

»Aber Angst machen sie dir nicht?« Er erwartete eine Antwort wie »O doch!«, eine gegenteilige Behauptung wäre ihm unglaubhaft erschienen.

»Nein. Wieso sollten sie mir Angst machen? Meine Mutter hat sie nie erwähnt. Nie ist mir mit ihnen … gedroht worden.«

»Trotzdem. Es sind Geister.«

»Ja, ich weiß.«

»Und du hast keine Angst vor Geistern?«

»Müsste ich die haben?«

»Ich weiß nicht. Ich habe nie einen Geist gesehen. Und ich hoffe auch, nie einen zu Gesicht zu bekommen. Ich würde mich zu Tode erschrecken, da bin ich ganz sicher.«

»Sie brauchen nichts zu befürchten. Von ihnen jedenfalls nicht.«

»Der bloße Anblick allein – nein, danke! Ich könnte den nicht ertragen. Ich fiele auf der Stelle tot um.«

»Nein, das würden Sie nicht. Es würde Ihnen eher das Herz zerreißen, und Sie würden denen an den Kragen wollen, die sie gehängt haben.«

»Das geschah in längst vergangenen Zeiten. Wir sollten Gott dafür danken. Und auf Herzzerreißen kann ich verzichten. Nicht noch einmal.«

»Oh?«

»Schon gut. Nicht mehr und nicht weniger, als ein jeder von uns auf dieser Welt erleidet.«

Kitty wartete, ob er auf die Andeutung vielleicht doch noch etwas näher eingehen würde. Er tat es, aber nur in Gedanken. Mit in sich gekehrtem Blick starrte er auf das Fenster, als erschienen ihm tatsächlich Geister. Er hoffte, sie würden verschwinden, presste die Lippen fest aufeinander, darauf bedacht, ihnen keinen Laut, kein Wort entschlüpfen zu lassen. Der Mund entspannte sich. Sein Blick ging zu den Händen. Er holte tief Atem, verfolgte, wie die Luft in die Lungen strömte, soweit der gealterte Körper das zuließ. »Gibt es noch mehr, was du mir sagen möchtest?«

»Kann man sie irgendwie dazu bringen, dass sie gehen?«

»Du möchtest sie aus der Burg haben?«

»Ja, natürlich. Sie haben doch selbst gesagt, Sie möchten keine umherwandernden Geister um sich haben.«

»Na ja, weil es etwas Mystisches ist, das sich nicht mit meinem Glauben vereinbaren lässt.«

»Ich dachte immer, die Menschen haben stets Visionen. Überall.«

»Es sind aber keine Visionen. Es sind Geister.«

»Wo ist da der Unterschied?«

»Visionen hat man, weil Gott sie in seiner Gnade erscheinen lässt. Er tut es aus für uns unerfindlichen Gründen. Bei Geistern weiß man nie, worauf sie aus sind.«

»Sie sind auf gar nichts aus. Sie sind einfach da.«

»Das ist es ja eben. Aber woher soll ich wissen, dass sie nichts im Schilde führen?«

»Was anderes sollten sie vorhaben, als einfach umherzuwandern, den Webstuhl zu betätigen oder Harfe zu spielen?«

»Können sie das tatsächlich?«

»Ja. Ich hab schon erwähnt, dass ich Brid am Webstuhl gesehen habe. Keine Fäden, aber sie hält ihn mit dem Tritt in Gang und jagt das Schiffchen hin und her, als würde sie richtig weben. Und … und Taddy zupft die Harfe, obwohl sie keine Saiten hat. Einmal allerdings haben wir Musik gehört. Und ein anderes Mal auch gesehen, wie richtig Tuch gewebt wurde.«

»Gott steh uns bei.« Pater Colavin schüttelte erneut den Kopf. »Ich kann mir nicht helfen. Sie müssen doch irgendeinen Zweck verfolgen. So wie jeder andere auch.«

»Kann ja sein, die tun es. Aber warum sollten Sie darüber, was es sein könnte, mehr wissen als ich – und was mich betrifft, ich weiß es nicht.«

»Wenn ich aber nicht …«

»Ja?«

»... nicht weiß, woran ich bin, dann will ich auch nichts mit der Sache zu tun haben.«

»Das heißt, Sie würden nichts unternehmen, um mir zu helfen?«

»Was genau schwebt dir vor?«

»Gibt es nicht auch heute noch so was wie Exorzismen?« »Ja.«

»Na, dann …«

»Nein. Das kommt nicht in Frage.«

»Weshalb nicht?«

»Ich kann dem Bösen nicht unmittelbar gegenübertreten – kann mich nicht mit ihm einlassen …«

»Aber sie sind doch nicht böse. Sie sind gut. Sie … sie sind Märtyrer.«

Der Priester brauchte etwas länger, dieses Argument zu überdenken. Er nahm es in sich auf, verinnerlichte es. Schließlich kam er nur wieder auf sein Kopfschütteln zurück, wenn auch diesmal weniger heftig. »Uns von Teufeln, von bösen Geistern zu befreien, dafür gibt es Wege und Möglichkeiten. Aber man hat uns nicht gewiesen, uns von guten Erscheinungen zu befreien. Du hast selbst gesagt, sie sind nicht böse; sie sind gut, und das macht mich nun vollends hilflos.«

»Sie finden aber keinen Frieden. Einer von ihnen zumindest.« Und dann platzte sie damit heraus: »Und außerdem hat sich mein Mann in Brid verliebt. So. Nun wissen Sie es.«

»Hast du nicht eingangs gesagt, es hätte nichts mit dir und Kieran zu tun?«

»Na, gut. Ich hab gelogen. Darüber wollte ich auch gar nicht sprechen, nicht über diesen Punkt der … der …«

»Misslichen Lage?«

»Ja, der misslichen Lage.«

»Und die missliche Lage besteht darin, dass dein Mann, Kieran Sweeney, sich in einen Geist verliebt hat?«

»In einen Geist verliebt ist, ja.« Sie atmete tief ein, ehe sie weiterredete. »Sie ist jung. Sie … sie ist schön.« Noch eine Pause, und dann die knappe Wiederholung: »Sehr schön.«

»Hat er selbst davon gesprochen?«

»Das ist gar nicht nötig.«

»Wie willst du es dann wissen?«

»Ich weiß es halt.«

»Aber es muss doch irgendeinen Hinweis geben, irgendetwas, was er gesagt oder getan hat …«

»Es ist einfach, wie er von ihr spricht.«

»Wie denn?«

»Dass sie schön ist. Dass er sie bei den Kühen sieht. Manchmal auch, wenn er beim Melken ist. Sie ist dann einfach bei ihm. Sieht ihm zu. Beim Melken.«

Kitty versuchte, es ihm zu erklären. Erzählte eins nach dem anderen. Schilderte den Abend, der sie davon überzeugt hatte, dass ihr Mann auf Abwege geraten war, mit seinen Gedanken, mit seinem Herzen. Pater Colavin nickte die ganze Zeit, als sorgte die Kopfbewegung dafür, dass das Gehörte in sein Bewusstsein drang. Kitty ließ nichts aus: wie Kieran aufhörte, Brid zu erwähnen, sein Liebesbegehren ihr selbst gegenüber sogar ungestümer wurde. Wie er es offensichtlich darauf anlegte, sie von dem Gegenteil dessen zu überzeugen, was sie wusste und was doch die Wahrheit war. Die nackte Wahrheit.

Nach vielleicht zwei Drittel ihrer ausführlichen Schilderungen hatte Pater Colavin das Kopfnicken eingestellt. Möglicherweise war es ein Zeichen dafür, dass er mehr an Informationen bei einer Sitzung nicht verkraften konnte. Oder er machte sich seine eigenen Gedanken, legte sich Erwiderungen zu dem Gesagten zurecht, wollte Kitty aber nicht unterbrechen. Sie hatte ihm ausführlich erzählt, wie Kieran Brid am Webstuhl beobachtet hatte. Nun ging sie dazu über, von Taddy an der Harfe zu berichten.

»Er saß einfach da, Taddy, mein ich, die Harfe an sich gedrückt, die todtraurigen Augen niedergeschlagen, so tiefliegend, du denkst, du schaust in einen Brunnen. Er saß kerzengerade, die Füße berührten nur leicht den Boden, und niemand da, der ihm die schmuddligen Zehen wusch. Engelgleich, und doch mehr Mensch als Engel. Ein Engel könnte nie so traurig sein und doch nicht weinen. Dabei ist er kein gewöhnlicher Mensch wie unsereins, selbst wenn er nur noch der Geist eines Menschen ist. Kein gewöhnlicher Mann könnte so kräftig und gleichzeitig so zart sein. Sie hätten ihn sehen müssen, so, wie ich ihn gesehen habe. Der arme Mann, gänzlich verloren, und ich die einzige lebende Frau, die seinen Kummer kennt. Nicht einmal Brid kennt ihn. Da bin ich mir ganz sicher. Brid muss fort. Taddy kann bleiben.«

Für die weiteren Gedanken und Bilder, die sie bewegten, fand sie keine Worte. Sie spielten sich nur vor ihrem inneren Auge ab, und sie behielt sie stumm für sich. Pater Colavin blieb verborgen, was sie sah. Er wartete, schurrte unruhig mit den Füßen unter dem Tisch hin und her, während Kopf und Hände ihre Position nicht veränderten. Als Kitty sich auf ihrem Stuhl bewegte und gekünstelt hüstelte, reagierte er mit einem leisen »Ich verstehe«.

Und er verstand tatsächlich, worum es ihr ging. Er begriff, weshalb Caitlin McCloud zu ihm gekommen war. Doch was von ihm erwartet wurde, hatte ihm bislang noch niemand angetragen. Sich jetzt darauf zu konzentrieren, würde nicht viel bringen. Das würde das Puzzle nur undurchsichtiger, die Situation undurchdringlicher machen. Er musste einen klaren Kopf bekommen, die Gehirnwindungen nicht unnötig verknoten. Zum Glück hatte er Rettung zur Hand. Er entkrampfte die Finger, löste die Handflächen voneinander und schob sie zum Hauptbuch. Bedächtig zog er es an sich heran. Er durfte seinem Kopf eine Ruhepause gönnen, durfte sich voll und ganz etwas anderem zuwenden, was rein gar nichts mit den Wahrheiten zu tun hatte, die man ihm eben offenbart hatte.

»Verzeih, Caitlin«, sagte er. »Verzeih die Unterbrechung, aber mir fiel da gerade ein …« Er fühlte sich nicht bemüßigt, genauer auszuführen, was ihm eingefallen war, zerrte das schwere Buch dicht zu sich und seufzte, als brauchte er diese Art Begleitmusik, um seine Gedanken von Kitty auf die Eintragungen im Hauptbuch zu lenken. Vielleicht verhalf ihm die Pause zu Eingebungen, wie sich Kittys Problem lösen ließ.

Mühsam schlug er den Einbanddeckel auf, und unter weiteren Seufzern und bedeutsamem Schütteln des weißen Hauptes wendete er Blatt um Blatt mit benetztem Finger und gab so Kitty eine Vorstellung von all den Zahlen, all den säuberlich geführten Spalten, die Zeugnis ablegten von der Last seines geistlichen Amtes. Nachdem er weitere Seiten und Spalten durchgegangen war – sorgfältig von oben nach unten und nicht ohne entsprechende Kopfbewegung, um die Mühen seiner Überprüfung zu unterstreichen –, seufzte er wieder und legte die rechte Hand auf eine Spalte voller Zahlen, als wollte er sie festhalten, damit die Eintragungen ihm nicht durcheinanderpurzelten, wenn er Soll und Haben abermals sorgenvoll durchging.

Kittys Unruhe steigerte sich. Sie befürchtete – und nicht zu Unrecht –, Dinge gesagt zu haben, die sie nicht hatte sagen wollen. Aber ihre Befürchtungen schwanden, als sie bedachte, dass Pater Colavin wahrscheinlich nichts oder nur wenig von dem, was sie ihm erzählt hatte, bewusst aufgenommen hatte. Er war mit seinen Spalten und Zahlen beschäftigt, mit seinem Dach, seinen Fenstern, seiner Glocke. Sie empfand eine solche Dankbarkeit, dass sie trotz der Barriere, die der Tisch darstellte, am liebsten seine Braue, sein weißes Haar, seinen mit Sommersprossen übersäten Handrücken geküsst hätte.

Sie bezähmte sich aber und wartete gespannt auf die Summe, die man ihr als Gegenleistung für die gewährte Unterredung, die sich dem Ende näherte, nennen würde. Dass nichts geklärt, nichts beschlossen worden war, störte sie im Augenblick nicht. Sie hatte erfahren – ohne dass des Langen und Breiten darüber geredet worden wäre –, dass der Pater nichts für sie tun konnte. Er war für böse Geister zuständig, gute wurden sich selbst überlassen. Von ihm konnte sie keine Hilfe erwarten, sie hätte es eigentlich wissen können. Aber katholisch, wie sie war, hatte sie es wenigstens versuchen wollen. Sie war ihrer Verpflichtung nachgekommen, die Kirche als Erste von ihren Problemen zu unterrichten. Sie brauchte hier nicht länger zu verweilen, würde lediglich auf die Rechnung für die Dienstleistungen warten, die sie in gewisser Weise sogar zu ihrer Zufriedenheit geboten bekommen hatte.

Pater Colavin kritzelte ein paar Zahlen auf einen Notizblock, der rechts neben dem Hauptbuch lag. Für sie stand fest, dass er zusammenrechnete, was sie zu begleichen hatte. Er kritzelte immer noch, als er sagte: »Du bist also überzeugt, dass dein Mann in Brid verliebt ist. In ihren Geist.«

»Ja.«

»Hast du ihn jemals gefragt, ob es sich so verhält?«

»Wieso? Nein.«

»Und warum hast du es nicht getan?«

»Weil … weil ich ihn nicht erst fragen muss. Ich weiß es auch so.«

»Hm.« Er nahm einen Finger zur Hilfe, um die Zahlen in einer Spalte besser entziffern zu können, hielt inne und notierte drei Einträge auf dem Notizblock. Er zählte sie zusammen, blickte lustlos auf das Ende der Spalte, drehte die Seite um und kritzelte weiter. »Und Taddy ist kein Problem?«

»Sie meinen, ob Taddy wegen Kieran etwas argwöhnt? Ich glaube, Taddy und Brid, ich glaube, sie sind … nun gut … sie waren ineinander verliebt. Brid und Taddy. Ich denke, man kann ihnen nichts anhaben. Sie existieren in einer ihnen eigenen Daseinsform. Fast hätte ich gesagt, sie führen ein Eigenleben, aber das ist wohl nicht das passende Wort.«

Ihre Augen blickten gedankenverloren, und sie murmelte in sich gekehrt: »Keiner von beiden interessiert sich für uns. Für mich. Für meine Gefühle.«

»Das bedeutet, irgendwelche Gefühle für sie zu hegen, wäre aussichtslos?«

»Ja. Aussichtslos.« Sie machte sich die volle Bedeutung des Wortes klar und ließ sie in aller Schwere auf sich wirken. »Aussichtslos.«

»Was dir also vorschwebt, ist, jemanden vor einem Verlangen zu bewahren, das aussichtslos ist. Sehe ich das richtig?«

Resignation gehörte nicht zu ihrem Repertoire, jetzt aber übte sie sich darin, und das gehörig, um schließlich seine Feststellung zu bestätigen: »Ja. Genauso verhält es sich. Ich … ich möchte ihn nicht verletzen. Ich könnte es nicht ertragen, ihn leiden zu sehen.«

»Wir reden von deinem Mann.«

»Ja. Wieso? Natürlich.«

»Ist dir irgendetwas in dieser Richtung schon aufgefallen? Dass er leidet, meine ich.«

»Hm, nein. Bisher nicht. Aber … aber eines Tages wird es sich zeigen. Da bin ich ganz sicher. Man kann nicht so tief empfinden … und doch wissen, dass nie etwas daraus wird … dass egal, wie sehr man auch liebt … wie groß auch das Sehnen und Verlangen ist …« Sie stockte, fasste sich wieder und erklärte: »Meine Gefühle sind mit mir durchgegangen, Sie haben es gewiss gemerkt. Es nimmt mich maßlos mit, das mit meinem Mann.«

»Es ist nicht zu übersehen.« Pater Colavin legte den Stift zur Seite und faltete die Hände über dem aufgeschlagenen Hauptbuch. »Hast du das Bedürfnis, dir noch mehr von der Seele zu reden?«

» Ich … ich glaube nicht. Viel mehr gibt es wirklich nicht zu sagen, eigentlich gar nichts mehr. Sie sind jetzt über die Situation im Bilde. Und wenn ich richtig verstanden habe, können Sie kaum etwas tun.«

»Darf ich dich etwas fragen, Caitlin?«

»Warum nicht? Natürlich, Pater.«

»Betest du und betet Kieran für die beiden jungen Menschen? Für ihre Seelen? Für ihre ewige Ruhe?«

Da war er wieder, dieser Drang, sich zu drehen und zu winden, aber Kitty war entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen und jede Bewegung zu unterdrücken. »Wie soll ich sagen … nein. Ich habe nie in dieser Richtung gedacht. Ich habe einfach ihre Anwesenheit akzeptiert, und weder ich noch Kieran hätten gewusst, wie wir an der Tatsache etwas hätten ändern können.«

»Ich verstehe.« Er senkte den Kopf, hob ihn dann wieder und schwieg.

»Vielleicht sollten wir es mit dem Beten versuchen.« Kitty konnte nun doch nicht länger stillsitzen.

Pater Colavin kräuselte die Lippen, blähte die Backen etwas auf und zuckte mit den Schultern. »Es würde nicht schaden.«

»Ich schäme mich, dass ich nicht daran gedacht habe.«

»Dein Kopf ist mit anderen Dingen voll.«

»Wohl wahr.«

»Aber gestatte mir noch eine Frage.«

»Selbstverständlich, Pater.«

»Wenn ich es richtig verstehe, möchtest du, dass nur Brid geht. Um deinen Mann zu schonen. Aber ist es richtig, die beiden zu trennen? Nach dem, was du erzählst, sucht einer die Nähe des anderen. Sollten sie nicht besser beide … erlöst werden?«

Wieder dieses innere Sich-Winden. »Vielleicht ja. Wenn aber Taddy bleiben möchte …«

»Weshalb sollte er bleiben wollen?«

Kitty richtete sich auf ihrem Stuhl gerade auf, lachte dann sogar kurz auf. »Wie … wie soll ich das wissen? Ich weiß ja nicht einmal, wieso er eigentlich da ist.«

Der Pater sah sie ernster an, als ihr lieb war. Sie hätte gar nicht erst herkommen sollen. Die Sache wurde mit jeder Minute unerquicklicher. Sie hatte auf Mittel und Wege gehofft, Brid loszuwerden, irgendeine Zeremonie, die sie verscheuchte. Und nun sollte sie für das Frauenzimmer beten. Wiederum, wenn es half und Brid tatsächlich ewige Ruhe fand, dann wäre sie nicht mehr da und Kieran könnte sich nicht in sie vergucken.

Ganz schön kompliziert, das Ganze. Sie verspürte keine Lust, länger darüber nachzudenken. Jedenfalls nicht hier, wo Pater Colavin sie ansah, als wüsste er mehr, als er zugab, und sie zappeln ließ. Sie war bemüht, für sich und ihn wieder sicheren Boden zu gewinnen, wo beide wussten, worauf der andere hinauswollte, wo für beide die Welt in Ordnung war. »Ich will nicht vom Thema ablenken, Pater, nur so ein Gedanke. Hatten Sie nicht etwas von der Glockenstube gesagt, von notwendigen Reparaturen, damit die Glocke beim nächsten Läuten nicht auf der Straße landet?«

»Oh, das ist längst erledigt. Aber nett von dir, dass du daran gedacht hast.«

»Und die Fenster. Welche waren es doch gleich? Die hinter dem Altar?«

»Auch schon repariert. Trotzdem, vielen Dank.«

»Oh.« Sie rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Aber das Dach …«

»Ach, Caitlin, Caitlin. Darum kann ich dich nun wirklich nicht bitten. Du hast schon zweimal für das Dach gespendet. Nein, das bringe ich nicht fertig.«

»Aber … ich könnte doch vielleicht …«

»Nein, nein, nein. Du hast mehr als einmal dein Scherflein beigetragen – und das nicht erst gestern.« Er schlug das Hauptbuch zu.

»Sollte es aber sonst etwas geben …«

»Nächsten Dienstag komme ich zur Burg und lese dort die Messe. In dem Raum mit der Harfe und dem Webstuhl. Eine Messe für Taddy und Brid. Damit sie Ruhe finden. Vielleicht hat der Spuk damit ein Ende.«

»Ich wollte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, Pater.«

»Ob du das willst oder nicht, interessiert mich nicht. Sieben Uhr. Du musst nicht zugegen sein. Das gilt auch für Taddy oder Brid oder Kieran oder sonst wen. Und sollte ich bei ihrem Anblick vor Schreck zu Boden sinken, dann komm ich auch allein wieder auf die Beine, macht euch keine Sorge. So viel steht fest, ich werde meine Messe dort lesen. Ist das klar?«

Kitty hätte sich am liebsten geohrfeigt, mit den Zähnen geknirscht und laut aufgekreischt. Aber sie nickte nur zustimmend.