Der fröhliche Monat August war gekommen und mit ihm Kitty McClouds und Kieran Sweeneys beinahe lebenslanges Muss, das berühmte Pferderennen in Dingle zu sehen und, wichtiger noch, dort gesehen zu werden. Es würde das erste Mal sein, dass sie zusammen in Dingle erschienen. In früheren Tagen, vor ihrer wundersamen Eheschließung, hatte ihr Bestreben, sich gegenseitig aus dem Wege zu gehen, und der Austausch von Beschimpfungen, wenn sie dann doch einander trafen, stets eine zum Lauf der Pferde zusätzliche Belustigung geboten. Natürlich hatte sich jedermann bemüßigt gefühlt, für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen. Stammten doch sowohl die McClouds wie die Sweeneys aus bekannten, wenn auch nicht immer geschätzten Sippen. Niemand wusste genau, worum es bei dem uralten Streit zwischen ihnen eigentlich ging, weshalb ebenso viele todsichere Mutmaßungen kursierten, wie es Leute in der Grafschaft Kerry gab. Einige meinten, es hätte sich um Viehdiebstahl gehandelt, andere sagten, es sei ein Grenzstreit zwischen den Clans gewesen. Nicht wenige behaupteten auch, der Grund sei die Entführung einer Ehefrau gewesen, oder eine Tochter wäre mit ihrem Geliebten durchgebrannt. Die meisten jedoch erwärmten sich dafür, dass ein Priester aus der Sippe der Sweeneys von einem Denunzianten aus dem McCloud-Clan verraten worden wäre, oder es hieß – abhängig von den familiären Bindungen, die man hatte –, ein zu den McClouds gehöriger Geistlicher hätte versucht, durch den Geheimgang zur See zu entkommen, wäre aber von einem geldgierigen Sweeney dabei überrascht worden. Der Mann wurde gefangen genommen und gehängt. Da derartige Anklagen Verbrechen betrafen, die jenseits jeder Vergebung geschweige denn Versöhnung lagen, musste man bei dem Thema Stellung beziehen. Ein Ignorieren verbot sich von selbst.
In längst vergangenen Jahren drohte der Fall sich zu einem Dauerstreit in der Gemeinde auszuwachsen, von Generation zu Generation wurde er weitergegeben wie der Konflikt zwischen den Welfen und den Ghibellinen, den Montagues und den Capulets, den Hatfields und den McCoys. Er spaltete die Gemeinschaft, zerriss die gesellschaftlichen Bande, schwächte den Gemeinsinn und lenkte die Leute von der gemeinsamen Aufgabe ab, die den Einsatz all ihrer Kräfte und ihrer ganzen Findigkeit verlangte: vom Kampf ums tägliche Brot.
Um die so dringend benötigte Eintracht wiederherzustellen, streute ein gewisser Pater Fitzsimmons – vor vielen Jahren verschieden, aber ein Mann von salomonischer Weisheit –, eine Reihe von Gerüchten aus, flüsterte diesem oder jenem etwas vertraulich ins Ohr und verbürgte sich für die reine Wahrheit: Die Sache mit den verratenen Priestern wäre eigentlich nur erfunden worden, um einen viel unbedeutenderen Streitgrund zu bemänteln, der längst nicht den heroischen Anstrich hatte und weniger aufregend war. Stolz wie sie waren, ließen sich die Sweeneys und die McClouds davon nicht beeindrucken. Die braven Bürger jedoch, die nur zu bereit waren, einem Freund oder Nachbarn etwas am Zeuge zu flicken, griffen die von ihrem Priester verbreiteten Gerüchte auf, erhoben sie in den Rang eines Evangeliums und verspotteten so die Anmaßung der Sweeneys und McClouds. Deren Familienfehde diente fortan der allgemeinen Belustigung und löste keinen erbitterten Streit mehr aus – zwischen den Sweeneys und McClouds schwelte er dessen ungeachtet weiter und wurde zum Gesprächsstoff, auf den man zurückgriff, wenn die Unterhaltung mal ins Stocken geriet oder ein Fernsehapparat seinen Geist aufgab.
Der Fußmarsch vom Städtchen Dingle zu dem Gelände, auf dem die Rennstrecke abgesteckt war, betrug keinen halben Kilometer. Der Morgenregen hatte sich in Richtung Tralee verzogen, und Kitty und Kieran schritten ohne Mühe auf der sanft ansteigenden Straße dahin, sie hatten lediglich darauf zu achten, nicht von denjenigen überfahren zu werden, die faul oder töricht genug waren, mit ihren Autos zur Rennstrecke zu gelangen. Da es sie juckte, anderen spitze Bemerkungen zu entlocken, gingen sie Hand in Hand. Heute war der letzte der vier Renntage. Kitty hatte am ersten Tag dabei sein wollen. Da sei die Stimmung festlicher, und die Pferde würden in besserer Verfassung sein, denn die meisten müssten jeden Tag ins Rennen gehen, mitunter öfter als nur in einem Lauf. Kieran, der melancholischer veranlagt war, gab dem Schlusstag den Vorzug, denn der erinnere an das unausweichliche Ende aller Dinge. Bei der Verteidigung seiner Ansicht mauserte er sich zu einem ausgesprochenen Anhänger Darwins. Nur die besten Pferde, die es bis hierher geschafft hatten, wären dann noch im Rennen. Die unterlegenen und verletzten hätte man bereits ausgesondert, so dass zu seinem und zu Kittys Vergnügen nur die stärksten übriggeblieben wären.
Kitty hatte kurz überlegt, sich danach aber seiner Meinung angeschlossen. Es gab andere und gewichtigere Dinge, über die man sich streiten konnte. Sie war überzeugt davon, dass sich Kieran Sweeny in Brid verliebt hatte. Wie konnte dieser Mann, dessen Leidenschaft und Zuneigung sich als schier unerschöpflich erwies – und in ihren gemeinsamen Tagen und Nächten sogar an Kraft und Ausdauer zunahm –, wie konnte dieser höchst standhafte und aufrichtige Mann sich verlieben, dazu nicht einfach in eine andere Frau, sondern in den Geist einer anderen Frau?
Einem solchen Gedanken gestattet zu haben, sich in ihrem Hirn einzunisten, reichte Kitty bereits, um ihre eigene geistige Standfestigkeit anzuzweifeln. Der gesunde Menschenverstand, selbst wenn man die überwältigende Fülle der Gegenbeweise außer Acht ließ, wehrte sich gegen einen solchen Unsinn. Trotzdem wurde sie ihren Verdacht nicht los. Von woher der kam, wusste sie selbst nicht. Wenn sie in ihrem bedrängten Kopf eine lange Liste zur Entlastung ihres Gatten entwarf, in der sie seinen an den Tag gelegten Eifer aufführte, sein Sich-Fügen in ihre lachhaften Launen, seinen Überschwang, sobald er mit ihr zusammen war, und die kleinen Freuden und intimen Vergnügungen, die er ihr bereitete, dann war ihr das ein Trost, vermittelte ihr sogar die Gewissheit, dass ihre Einbildungskraft hyperaktiv sei – was sie ja gewöhnlich auch war.
Aber es vergingen nur wenige Sekunden, und sie gelangte zu einer ausgefalleneren Bewertung dieser positiven Punkte. Ihr Gatte war mehr oder weniger dabei, seine sich mehrenden Vergehen zu verschleiern. Sein diesbezüglicher Eifer nahm in dem Maße zu, wie seine Untreue wuchs.
Andeutungen davon hatten völlig unauffällig begonnen. Während Kitty und Kieran Gemüse- und Kräuterbeete anlegten, hatte Kieran erwähnt, dass Brid mitunter erschien, wenn er die Mahlzeiten bereitete. Sie würde dann auf einem Schemel in der Küchenecke sitzen und ihm zusehen, eher gespannt als verwirrt, doch deutlich die Wunderwerke anerkennend, die er produzierte. Kitty zeigte nicht das geringste Interesse dafür. Anfänglich jedenfalls.
Ein anderes Mal, sie spielten gerade ihre abendliche Runde Tischtennis – dies von den Hausbesetzern hinterlassene Tischtennisplatte nutzten sie weidlich –, sprach Kieran davon, dass er Brid am Bach gesehen hätte, wieder mit den traurigen Gesichtszügen, die sich auch nicht aufhellten, wenn sie beim Anblick der Kühe lächelte, die das Schilfgras am Ufer ausrissen und es genüsslich mampften. Er fügte noch hinzu, dass er stehen geblieben sei und sie eine Weile beobachtet hätte, weil er sie nicht erschrecken wollte. Kittys Unterbewusstsein nahm davon Notiz.
Während sie die Obstbäume auslichteten, wahrscheinlich schon zu spät, um noch in diesem Jahr eine ansehnliche Ernte zu erzielen, ließ sich Kieran über den lieblichen Ernst in Brids blauen Augen aus. Sie wäre frühmorgens beim Melken erschienen, saß aufrecht auf einem Schemel und beobachtete die alltäglichen Verrichtungen, die sie wahrscheinlich einst selbst erledigt hatte. Ihre schmutzigen bloßen Füße berührten die Steinplatten auf dem Fußboden. Kitty hatte sich alles angehört und nur »Hmm« gesagt.
Abends hatten sie hinter der Burg ein Feuer gemacht und die ausgelichteten Zweige verbrannt, und Kieran hatte davon gesprochen, dass er Mitleid empfand mit der verstörten Brid. Das ließ Kitty aufhorchen. Dann redete er über das stille Vergnügen, das es ihm bereitete, wenn er sah, welche Zuneigung sie zu den Kühen empfand, wenn er sie beobachtete, wie sie zwischen den Tieren den Hang heraufkam, die aus dem Sumpfgelände nach oben trotteten. Mit einem verschlagenen Lächeln hatte er dabei zugegeben, dass ihn der Gedanke, dass man Lösungen finden müsste, die ihr endgültiges Verschwinden bewirkten, nicht mehr so schmerzte wie anfangs. Kitty hatte einen widerspenstigen Zweig mit einem Fußtritt in die Flammen befördert und später einen schon brennenden Ast gepackt, oben auf den Scheiterhaufen geworfen und ohne Unterlass zugeschaut, wie das Feuer ihn verzehrte.
Kieran war das nicht entgangen.
Danach sprach er nicht mehr über Brid. Erwähnte sie mit keinem Wort. Dieses Schweigen war es, das Kittys Vermutung beförderte. Zunächst hatte sie das von sich gewiesen, dann hatte sie dem Gedanken eine wenn auch nur geringe Möglichkeit zugestanden, die sich zu einem Verdacht auswuchs, und schließlich war sie sich absolut sicher, dass ihr Mann sich in Brid verliebt hatte.
Wonach es sie unersättlich gelüstete, waren weitere Beweise. Sein Schweigen über die Sache war einer. Warum vermied er es, Brids Namen auch nur zu erwähnen? Ein anderer Beweis war darin zu sehen, dass er bei ihrem Liebesspiel mit gesteigerter Leidenschaft zu Werke ging. Das war lediglich eine vorsätzlich betriebene Ablenkung, gewiss nichts anderes. Einmal hatte Kitty ihn auch ganz unverfänglich gefragt: »Brid siehst du wohl gar nicht mehr?« Und er hatte mit einem aus Kittys Vokabular entlehnten Wort geantwortet: »Hmm.«
Die Rennstrecke in Dingle bestand aus einer unbefestigten Aschen- (oder Modder-)bahn, hatte etwa die Breite eines Fahrstreifens und war mit weißen Latten begrenzt. Sie befand sich auf leicht ansteigendem Gelände, oben war der Start und gleich links daneben die Tribüne. Die Rennstrecke war ausreichend bemessen, doch wiederum nur so lang, dass die Pferde in der Regel zweimal an der Tribüne vorbeimussten, bevor sie ins Ziel kamen. Letztere war grob zusammengezimmert, doch, eng wie sie war, in ihrer Art auch gemütlich. Die Sitzplätze darauf waren beschränkt; sie machte den Eindruck einer geräumigen, aber überbevölkerten Opernloge. Dort drängte sich eine Menge in Feierstimmung, die eigens zusammengeströmt war, um ihren Spaß zu haben und im Verlauf der Ereignisse so viel Krawall zu veranstalten, wie nur möglich.
Kitty und Kieran zogen es vor, auf der Wiese im Innenring zu bleiben. Dort konnten sie nach Lust und Laune umherwandern, sich zwischen Pferden, Transportern und Jockeys vergnügen, Jungen im Alter von etwa vierzehn, dünn wie Bohnenstangen und voll wilder Besessenheit, im Kern aber von einer Gutmütigkeit, die sich selbst vom ungestümen Drang zu gewinnen nicht verdrängen ließ. Für Verpflegung sorgte das Fahrende Volk, Leute, die von den Zigeunern abstammten und noch immer das Wandern liebten; ihre Planwagen und Marktstände hatten sie mitgebracht und boten dort Hotdogs, Potato-Chips, Bier an und was sonst geeignet war, den Appetit der Zuschauer zu befriedigen.
Höchst wichtig waren die Buchmacher: Männer in wollenen Hosen, schlampigen Sweatern, abgetragenen Schuhen und meist mit einem speckigen Filzhut, der lässig auf den Hinterkopf geschoben war, damit ein Gesicht besser zur Geltung kam, das tiefes Wissen zerfurcht und Intuition gegerbt hatte, was ihm erlaubte, das ganze Theater mit herablassendem Gleichmut zu betrachten. Jeder Buchmacher stand auf seiner Kiste und hatte eine Schiefertafel zur Hand, auf der mit Kreide die Wetten für die nächsten Rennen angeschrieben waren. Er pries den Wettlustigen lauthals seine Empfehlungen an und gab sich dabei beiläufig überlegen, als hätte nur er und er allein einen direkten Draht zu den Nüstern der Pferde oder doch zumindest zu jenen nicht sichtbaren, wenig gerühmten Schiedsrichtern, die Einfluss nahmen oder auch nicht, deren Wirken aber tunlichst mit zu bedenken war.
(Zum festlichen Anlass hatte Kitty eine Baseballmütze, wie sie die Londoner Polizei trug, aufgesetzt und Kieran einen Schlapphut, dessen Krempe den oberen Rand der Ohren kitzelte – weswegen er ihn nur trug.)
Nachdem sie ihre Wetten für das dritte Rennen getätigt hatten – Kitty hatte zwei Euro auf Rory’s Boy sieben gegen eins gesetzt, Kieran fünf Euro auf Quodlibet drei gegen eins –, war es Zeit für einen Hotdog und ein Bier. Sie schlängelten sich durch die Menge, die im Innenfeld ziellos umherschlenderte; einige beäugten die fürs nächste Rennen angezeigten Pferde, andere standen in Gruppen und verglichen ihre Notizen, die meisten aber genossen einfach den Ausflug in milder Nachmittagsluft. Zuerst bemerkte es Kitty, dann auch Kieran, dass man sie anstarrte, vorwiegend Frauen in mittleren Jahren, jedoch fielen keinerlei Bemerkungen, wenn sie zynisch lächelnd grüßten. Kieran fasste nach Kittys Hand, doch sie zog sie weg. »Sollten wir uns nicht lieber zanken, um sie so richtig froh zu stimmen?«
»Ich spiele mit. Doch worüber? Hast du ’ne Idee?«
Ehe Kitty einen Vorschlag machen konnte, war Kieran stehen geblieben und schaute aufmerksam zu einem der Pferdetransporter. Als Kitty seinem Blick folgte, sah sie, was ihn fesselte. Im Gespräch vertieft mit einem der Jockeys – einem Burschen in blauen und weißen Seidensachen – stand dort ein Mädchen mit cremig weißer Haut und Haaren, so schwarz, dass man unwillkürlich an den Raben aus ferner Vorzeit dachte. Sie trug etwas, das an die Wiederkehr des Minirocks gemahnte, aus schwarzem Leder, und ließ Beine sehen, die so vollendet geformt waren, dass es ein Verbrechen gewesen wäre, sie zu verhüllen. Ihr Top war stillos – aber welches Top ist das nicht? –, und dass es beige war, änderte daran auch nichts. (Kitty hätte in vergleichbarer Situation und gesegnet mit ähnlicher Figur Rot bevorzugt, ließ dabei allerdings außer Acht, dass jene junge Frau dergleichen Extravaganzen nicht bedurfte, um die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu lenken.) Am auffälligsten war jedoch der schlanke Hals, der makellos aus den zart und zerbrechlich scheinenden Schultern zu einem Kopf emporstrebte, der den angenehmen Beweis dafür lieferte, was Gott alles tun konnte, sofern ihm die rechten Gene zur Verfügung standen.
Im Augenblick ergänzte ein lebhaftes Lachen die so offensichtlichen Vorzüge, dass der Jockey zu seinem Selbstschutz nur dümmlich grinste und es vermied, ihr direkt ins Gesicht zu sehen. Dabei schlug er seine kurze Reitpeitsche gegen den rechten Schenkel und empfand den Schmerz gewiss als Buße für seine lüsternen Gedanken und ein in ihm aufkeimendes Verlangen.
»Das ist Brid«, flüsterte Kieran.
Kitty gluckste unverhohlen vor sich hin und lachte kurz auf. »Brid ist das nicht, auf keinen Fall.«
»Aber überleg’ doch mal, das Gesicht. Wie oft haben wir das gesehen? Schau sie dir genau an.«
»Warum sollte ich? Du hast schon lange genug hingeschaut, das reicht für uns beide.«
Kieran war von dem Mädchen so gefangen genommen, dass er nicht merkte, wie gefühlsgeladen die Worte seiner Frau waren, und fuhr fort: »Hör doch mal, wie sie lacht. Sie ist gar nicht mehr traurig. Sie ist zum Leben erwacht.«
»Hast du noch nie was davon gehört, wie sich genetische Merkmale vererben? Brid mag ja gestorben sein, doch ihre Brüder und Schwestern haben dieselben Gene und geben sie an die nächste Generation und deren Kinder. Reichen sie die Erbinformationen nicht weiter und immer weiter bis heute?«
»Ich möchte aber, dass es Brid ist. Dass sie lebendig ist. Und glücklich.«
»Brid ist es ganz sicher nicht. Vergiss es.«
Das Mädchen trennte sich von dem Jockey und ging hinüber zu den Buchmachern. Dabei stieß sie mal den einen, mal rempelte sie einen anderen in der Menge an, doch niemand schien sich der Ehre bewusst zu sein, mit ihr in Berührung zu kommen. Das Grienen des Burschen hatte sich zu einem Grinsen von so anzüglicher Gemeinheit gewandelt, das Kitty am liebsten hingegangen wäre, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Er schlug mit der Reitpeitsche noch heftiger gegen sein rechtes Bein und fing an, mit Daumen und Zeigefinger der freien Hand am linken Ohrläppchen zu ziehen; das sollte wohl ein Kneifen ersetzen, um sich zu vergewissern, ob er nicht etwa träumte.
Kierans Blicke folgten ihr. An sich selbst zweifelnd, schüttelte er den Kopf. »Lass uns rübergehen und sehen, auf welches Pferd sie setzt. Könnte uns doch Glück bringen.«
Kitty packte ihn am Oberarm und kniff herzhaft hinein. »Erzähl du mir noch mal, dass ich abergläubisch bin.«
Kieran schaute zu Boden und sagte leise: »Früher muss sie einmal so fröhlich gewesen sein wie jetzt. In der Burg sieht sie immer so bekümmert aus, als frage sie sich, wo bin ich, wohin sind all die anderen und wohin ist alles verschwunden. Nur der Anblick der Kühe bleibt ihr, um sie zu trösten, und das traurige Einerlei am Webstuhl und Taddy mit der Harfe, der ihr vorspielt, was sie hören möchte. Hast du sie nie dort sitzen sehen, die schmuddligen Füße auf den Steinplatten? Mit endloser Geduld trotz allem für sie Rätselhaften. Und mit einer Sanftheit, die so gut zu ihrem lieblichen Gesicht und zu den Händen passt, die nicht geschaffen waren, so viel zu arbeiten wie sie wohl musste. Hast du sie dir jemals wirklich richtig angesehen?«
»Ja. Ich habe sie mir angesehen.« Kitty lockerte ihren Griff und ließ die Hand sinken. Sie sah, wie sich das Mädchen tiefer in die Menge drängte, sie sah den Schwung ihrer Hüften, wenn sie einem Hindernis aus dem Weg ging, sie sah, wie sie keineswegs ihre Schritte der Umgebung anpasste und keine Spur von der Richtung abwich, die sie eingeschlagen hatte.
Zum Lunch gestattete sich Kieran zwei Hotdogs mit Ketchup und Zwiebeln, Kitty nahm drei mit Senf und Sauerkraut. Kieran leistete sich ein Bier, Kitty zwei. Als das kleine Mädchen, das den Stand versah – ein Kind von etwa zehn Jahren –, Kieran zu wenig Wechselgeld herausgab, monierte er es nicht. Sie fragte ihn auch, ob sie ihm aus der Hand lesen sollte. Er lächelte nur und sagte »Nein.« Kitty überlegte noch, ob sie ihm zureden sollte, es sich anders zu überlegen, besann sich dann aber eines Besseren, stellte ihren Plastikbecher auf dem Tisch ab und ließ das zweite Bier halb ausgetrunken stehen. Dass das Kind nicht daran interessiert war, ihr aus der Hand zu lesen, wunderte Kitty – schließlich schlussfolgerte sie (freilich verkehrt), dass die Kleine nur die Hand ihres Mannes hatte halten wollen.
Das Mädchen aber, das Kieran so an Brid erinnerte, ward nicht weiter gesehen, doch bald schon sollte es Kitty mit ihren Visionen ähnlich ergehen. Drei in Führung liegende Pferde waren in die Zielgerade eingeschwenkt. Kitty und Kieran standen an der Begrenzung fast unterhalb der Tribüne. Kieran hatte fünf Euro auf Jackeen gesetzt drei gegen eins, auf den Jockey in Blau und Weiß, den die vermeintliche Brid mit ihren Reizen gepeinigt hatte. Kitty hatte einen Euro auf – wie konnte es anders sein – Pig-O’-My-Heart gesetzt zwanzig gegen eins. Der Jockey trug Seide in Pastellgrün, worauf riesige rosa Punkte gemalt waren, dadurch sah der Junge – der einzige pausbäckige Jockey in dem ganzen Rudel – wie ein anämischer Marienkäfer aus. Jackeen war noch am hinteren Ende der Strecke, aber Pig-O’-My-Heart hielt sich hartnäckig als Dritter im Feld. Jetzt holte das Pferd gewaltig aus und machte sich an Fisherman’s Folly heran. Kitty presste die Fäuste in die Wangen. Kieran, wieder ganz der mitfiebernde Partner, brüllte: »Pig! Pig! Pig!«
Als die Pferde aufs Ziel zu galoppierten, setzte Kitty gerade zu einem Schrei an, da rutschte der pausbäckige Junge seitlich vom Sattel, nicht dass er herunterfiel, er hielt sich fest, so gut er konnte, riss den Kopf des Pferdes hoch und gab ihm somit das Zeichen, sich nicht weiter anzustrengen, denn das Rennen sei gelaufen. Für Kitty wie für Pig-O’-My-Heart und den pausbäckigen Jungen war damit alles gelaufen. Wer Erster wurde, war nicht länger von Interesse. Pig passierte die Ziellinie als Siebenter, immerhin noch ein ganzes Stück vor Jackeen. Der Junge hing parallel zum Boden, hielt aber den Kopf etwas höher, das rechte Bein hatte er in die Höhe gestreckt, wie um die Zuschauer auf der Tribüne zu grüßen, die in Jubel ausbrachen, wie sonst den ganzen Tag nicht.
Jenseits der Rennbahn, im Schatten der Tribüne, stand Taddy und schaute verärgert auf das Ticket in der Hand. Vielleicht nicht genau Taddy, aber immerhin war er vorwiegend in Braun gekleidet: braune Kordhosen, ein brauner Sweater und als Zugeständnis an die heutige Zeit weiße Sneaker. Das Haar war nur ein bisschen kürzer, doch die Schultern waren sehr ähnlich, ebenmäßig und breit, und der Oberkörper verjüngte sich zu einer schmalen Taille. Die Hände hatten keinerlei Evolution erfahren. Jetzt zerrissen sie das Ticket und ließen die Schnipsel ins Grass flattern, und Kitty stellte fest, sie waren ungewaschen und schwielig, wohl von harter Arbeit, hatten sich ähnlich anstrengen müssen wie die Hände von Kittys visionärem Taddy. Als der junge Mann aufblickte, wanderte der Blick aus den braunen Augen nach links, unmittelbar an Kitty vorbei. Traurig sah er aus, und da war auch wieder diese Verwirrtheit. Er musste wohl ebenfalls auf Pig-O’-My-Heart gesetzt haben, und falls er nicht wusste, wer ihm das eingegeben hatte, Kitty wusste es.
Oben auf der Burg hatte sich das Schwein Taddy als liebsten Begleiter erkoren. Und Taddy schien diese Ehre angenommen zu haben. Aus dem Turmfenster ihres Arbeitszimmers hatte sie des Öfteren das Schwein umherlaufen sehen, die Schnauze tief im Gras. Wahrscheinlich hoffte es immer noch, so aussichtslos es auch war, dass der Ring, den man ihm eingezogen hatte, es nicht daran hindern würde, in Kerrys grünem und lieblichem Land die üblichen Verwüstungen anzurichten. Taddy stand derweil daneben und schaute zu, begleitete in leicht gebeugter Haltung interessiert die ersten Wühlversuche der Schnauze. Dabei machte er kleine ruckartige Bewegungen, hielt immer mal inne, drehte den Kopf dann zu einem anderen Punkt des hundertachtzig Grad weiten Halbkreises, als hielte er Wache gegen jedermann, der versuchte, die glücklosen Versuche des Schweins zu verlachen. Wenn niemand erschien, senkte Taddy wieder den Kopf, beruhigt, dass da niemand die Demütigung des Schweins bemerkt hatte, und dass er, Taddy, getreu wie er war, darüber wachen und niemandem gestatten würde, sich über das Schwein lustig zu machen.
Bei anderen Gelegenheiten ergab es sich, dass er und das Schwein im Umfeld der Burg einfach umherwanderten. Dann ging Taddy voran, und das Schwein folgte ihm, ein Bild, mehr wie Hund und Herr als wie ein Schwein und ein Geist. Bei solchen Ausflügen hatte Taddy einen langsamen Schritt, schaute nicht auf den Boden, sondern blickte irgendwo in die Ferne. Als Ausgeschlossener hatte er möglicherweise eine Vision von der Welt, die man ihm vor langer, langer Zeit genommen hatte. So hilfsbedürftig wirkte er in seiner Verstörtheit, so gänzlich verloren in seinem Verlust, doch in jeder Bewegung so unschuldig und mannhaft, dass Kitty über die Tage und Wochen und Monate hinweg Sympathie für ihn empfand, dann ein tiefes Mitgefühl und schließlich ein Sehnen, ein Verlangen, ihn zu umarmen und aufzumuntern, ihn zu trösten und …
Hier bremste sie sich jedes Mal. Sie musste sich wohl ganz und gar vergessen haben. Vor ihr lag die Arbeit, die getan werden wollte. Maggie Tulliver war längst noch nicht durch die veränderten Handlungsstränge geschleust worden, womit Mary Anns Unvermögen ausgeglichen werden sollte. Kittys Literaturagent, ihr Verleger und natürlich das begierige Publikum warteten mit gesteigertem Appetit und Geld, das sie gern bereit waren auszugeben. Sie musste sich wieder an den Computer setzen und die Wand vor ihrem Schreibtisch anstarren. Sie durfte sich nicht wegrühren, bis ihr die erforderlichen Korrekturen einfielen, bis ein Wort auf dem Bildschirm erschien, dann noch eins und noch eins. Wie angewurzelt musste sie an ihrem Platz bleiben, obwohl es sie schier unaufhaltsam drängte, aufzustehen, ans Fenster zu treten und wieder auf die in Braun gekleidete Gestalt zu schauen, die durch das hohe Gras der Wiesen schlenderte mit den kräftigen Beinen, der schlanken Taille und den großen mit Schwielen bedeckten Händen, durch deren wie dicke Schnüre hervortretenden Venen gewiss Kerry-Blut pochte, obwohl er doch nicht mehr als ein umherwandernder Schatten war, der sich diesseits des Styx befand und dem niemand den Obolus für den Fährmann gab, damit er ihn sicher hinüber in die elysäischen Gefilde brachte.
Kitty musste zurück an ihren Computer. Wie konnte Maggie so naiv sein und ihrem (nach Freud) unbeherrschten »Es« erlauben, sich einem Mann wie Stephen Guest zuzuwenden, der ihr unmöglich das ersehnte Liebesglück bieten konnte. Natürlich konnte Liebe ihre Ansprüche anmelden, dochwasunmöglichwar, bliebunmöglich, undjede Frau, die sich auf ihre Geschlechterrolle besann, würde gewiss ihre Triebe bezähmen und ihrem Herzen Wünsche verwehren, ehe das Unheil über sie hereinbrach. Gott sei Dank, dass sie, Kitty McCloud, nie einer solchen Sinnwidrigkeit fähig wäre. Niemals. Sie nicht. Bestimmt nicht Kitty McCloud. Niemals. Et cetera.
Sie musste den leeren Bildschirm fixieren, würde weiter auf die Wand starren. Etwa zu der Zeit hatte sie auch begonnen, ihren Mann zu verdächtigen, dass er sich in Brid verliebt hatte. Beweise dafür gab es genug – wenn sie nur wüsste, wo sie danach suchen sollte.
Der junge Mann jenseits der Rennstrecke stieß mit dem Fuß nach den verstreuten Schnipseln des zerrissenen Tickets. Kitty überlegte schon, ob sie ihren Mann auf den Burschen aufmerksam machen sollte, indem sie etwa sagte: Oh, schau mal! Da drüben steht Taddy! Doch sie unterließ es. War ja auch nicht weiter von Interesse. Und der junge Mann sah eigentlich nicht wirklich aus wie Taddy. Taddy war viel hübscher, wirkte männlicher, nicht so verdrossen. Bestimmt hätte er auch nicht die Reste eines wertlos gewordenen Wettscheins achtlos auf den Boden geworfen. Und dann noch diese Sneaker. Nein, zu dem richtigen Taddy gehörten die nackten Füße, schmutzig und voller Schwielen.
»Oh, schaumal! Da drüben steht Taddy!«, hörte sie Kieran sagen.
Kitty sah ihren Mann von der Seite an. Hatte sie zu intensiv nach dem jungen Mann geschaut? War es das, was Kieran veranlasst hatte, hinüberzublicken? Hatte er sie in ihren Grübeleien beobachtet? Sie war erlöst, als sie bemerkte, dass ihr Mann mehr belustigt diese Erscheinung einer Erscheinung betrachtete. Es berührte ihn kaum, wenn überhaupt.
»Wo?«, fragte Kitty.
»Siehst du ihn denn nicht? Da, genau gegenüber. Scharrt mit dem Fuß auf der Erde herum.«
»Ach, den meinst du.« Sie schüttelte nur leicht den Kopf. »Na, ja. Irgendwie ähnlich sieht er schon aus. In der Grafschaft gibt es Taddys wahrscheinlich zu Hunderten. Gehen wir uns jetzt die Pferde fürs nächste Rennen ansehen?«
»Dich interessiert er wohl gar nicht?«
»Nicht sonderlich. Mehr als genealogisches Phänomen. Der Genpool von Kerry kann Mutationen leicht umgehen, wie du gesagt hast, und Kopien kommen ab und zu einmal vor.« Sie ging drei Schritte Richtung Sattelplatz, auf dem die Pferde für das nächste Rennen standen. »Kommst du oder kommst du nicht?«
»Ich dachte, du würdest dich mehr für ihn interessieren. Schließlich ist das Taddy.«
»Das ist nicht Taddy. Und selbst wenn er es wäre, sehen wir ihn nicht oft genug, mehr als uns lieb ist?«
Kieran zuckte die Achsen. »Wenn du meinst.« Sie ging noch drei Schritte weiter und wartete, bis Kieran nachkam. Als er bei ihr war, sagte sie: »Wir haben Taddy gesehen. Wir haben Brid gesehen. Können wir uns jetzt auf die Pferde konzentrieren?«
»Nein. Warte mal.« Kieran blieb stehen. Er lachte schallend los. »Da ist Brid wieder.«
»Wo?«
»Du hast sie verpasst. Sie war eben dahinten, bei den Pferdetransportern.«
»Unsere Brid oder irgendeine andere? Brids scheint’s hier in der Gegend ohne Ende zu geben.«
»Die von vorhin. Mit dem Top.«
Es stieß Kitty sofort auf, welcher Teil von Brids Anatomie ihm zuallererst einfiel. Das Top. Die Brüste. Das makellose Fleisch. Die schlanken Arme. Die zarten Hände. Sie war drauf und dran, ihn der Untreue zu bezichtigen, des Bruchs des Ehegelöbnisses, was immer man darunter verstehen wollte. Er hatte sich in Brid verliebt. Jetzt hatte sie den Beweis. Ihr Zorn verlangte nach einer handfesten Auseinandersetzung: Genau das erwarteten Freunde und Nachbarn von ihnen. Die Menge durfte nicht enttäuscht werden. Ihre gebündelten Anklagen, ihre angehäuften Beschimpfungen, ihr Verletztsein, ihre Racheschreie – all das musste sich jetzt entladen. Bei dem Pferderennen von Dingle. Zur Belustigung aller, auch der Fremden und des Fahrenden Volks. Vor den Jockeys und ihren Trainern, den Pferdebesitzern und den Buchmachern. Sie und Kieran waren noch nahe genug bei der Tribüne und konnten so einer würdigen Zuschauerschaft sicher sein. Sollte sie ihn ohrfeigen? Sollte sie weinen? Kurz stellte sie sich auch vor, wie es wäre, sich auf den Rasen zu werfen, doch übertreiben musste man es ja nicht.
Gleich wollte sie beginnen. Sie würde mit der Wiederholung seiner Bemerkungen anfangen: »Die mit dem Top!« Das würde sie sarkastisch hervorbringen und ihn somit warnen, dass Gefahr im Anzug war. Die Worte lagen ihr schon auf der Zunge. Sie brauchte nur den Mund zu öffnen und sie auf die Welt loszulassen. Wie Killerbienen. Wie aufgestörte Wespen. Wie Stechmücken.
Doch schon bemächtigte sich ihrer ein anderer Gedanke. Es war Zeit, die Geister loszuwerden. Sie mussten verschwinden. Geeignete Mittel mussten gefunden werden – und sie würde sie finden. Wohin man sie schicken sollte, wusste sie nicht, und es war ihr auch gleichgültig. Sie würden ihre Trauer, ihre Leiden und ihre Ratlosigkeit mit sich nehmen. Ihre Ehe wäre gerettet, ihre aufgewühlte Brust würde besänftigt werden und wieder dem ehelichen Miteinander geneigt sein. Nie mehr würden Brid und Taddy umherwandern, wie sie wollten – wenn sie denn überhaupt etwas wollten. Nie mehr würden sie nach Lust und Laune erscheinen und sich danach entmaterialisieren, wie es ihnen in den Sinn kam oder in den Kram passte. Sie würden frei sein, könnten wandern, wohin sie wollten, beide gemeinsam, zu einem wer weiß wo befindlichen Hort, der ehezerstörenden Geistern offenstand.
Der Gedanke an ihr Fortwandern – gemeinsam – ließ sie innehalten. Wieso sollte auch Taddy vertrieben werden? Ihm war doch nichts vorzuwerfen. Er stellte kaum eine Bedrohung ihrer ehelichen Erwartungen dar. Er war einfach damit zufrieden, in der Burg zu sein. Dem Schwein würde er fehlen. Doch, Taddy könnte bleiben. Aber Brid müsste gehen.
Derart von ihrem vernunftmäßigen Selbst beruhigt, ging Kitty neben ihrem Gatten her und nahm sogar seine Hand in ihre. Ein dicker Mann in einem schwarzen Anzug, der so abgenutzt war, dass er speckig glänzte, und einem weißen Hemd, das vom vielen Tragen grau geworden war, und einer Krawatte, der man die Mahlzeiten ansah, die zur Fettleibigkeit des Trägers beigetragen hatten, lächelte sie an und nickte ihnen wohlgefällig zu, als sie vorbeigingen. Die alte Mrs. Fitzgerald mit den strahlenden blauen Augen sagte leise: »Gott sei mit euch.« Und Kitty und Kieran erwiderten, wie sie es ihrer Erziehung schuldeten: »Gott und Maria seien mit dir.«
Ohne den Schritt zu verlangsamen, flötete Kitty so leicht dahin, wie es selbst Vögel nicht vermochten: »Ein Top trug sie, sagst du? Hatte ich schon vergessen. Hatte sie nicht auch einen schwarzen Minirock an?«
»So, hatte sie? Ist mir nicht aufgefallen.«
Oh, dieser Heuchler. Kitty wollte schon zu Plan A zurückkehren, bezähmte sich aber. Bald würde ja alles gut sein. Alles würde wundervoll gut werden.