Kapitel 9

 

Unlängst hatte Lord Shaftoe die Burg bei strömendem Regen verlassen, nun kehrte er in einem Wolkenbruch zurück. Die See war aufgebracht und hatte den Himmel gewonnen, ihr in ihrem Zerstörungsrausch beizustehen. Schäumende Wogen fielen in das Land ein, Wasserwälle wälzten sich über die schutzlose Landschaft. Die Wolken, die der Blitz zerriss und aus denen der Donner grollte, hatten sich weit aufgetan und schütteten ungebändigt ihr ganzes Regenaufgebot auf Berge und Spitztürme, auf Häuser und zwangsläufig auch auf Burgen. Das Wasser schien sich nicht nur der Erdanziehung zu fügen, es fiel nicht bloß, es stürzte herab, als hätten die Wolken im Wettstreit, wem die Herrschaft über den Himmel gehöre, ihre Schleusen geöffnet.

So erbarmungslos die Natur auch gegen sich selbst wütete, es war nichts im Vergleich zu dem Unheil, das vor einigen Tagen auf Kittys unvorbereitetes Haupt niedergegangen war. Zu ihrem sprachlosen Erstaunen hatten die Gerichte zugunsten von George Noel Gordon Lord Shaftoe und zu ungunsten von Caitlin McCloud und Kieran Sweeney entschieden. Beweise waren vorgelegt worden, dass die Shaftoes aus dem weit entfernten Australien ihre Steuern stets in voller Höhe und unverzüglich überwiesen hatten, was bedeutete, dass die Besitztitel auf die Burg Kissane niemals an die Krone übergegangen waren, noch viel weniger an die Republik und am allerwenigsten an Caitlin McCloud, ungeachtet der Tatsache, dass sie eine beträchtliche Summe in bar gezahlt hatte. Gegen diesen Triumph der Shaftoes war keine Berufung möglich. Ihr Wehklagen mochte bis an die Tore des Himmels aufsteigen, bewirkte aber ebenso wenig wie all die verzweifelten Gebete, die in jenen Jahren an die gleiche Adresse gingen, als das Land verwüstet und die Unschuldigen gehängt wurden, wo immer sich ein Ast oder Balken dazu bot.

Nachdem sie dem Himmel mit ihrem nutzlosen Gejammere zugesetzt hatte, musste sie ihrem weniger beeindruckten Gatten zuhören, der ihr darlegte, er habe weder die Mittel noch das Wissen, um die Burg in die Luft zu jagen, wie sie gedroht hatte. Außerdem gehöre ihr die Burg nicht länger und durfte nicht nach Lust und Laune zerstört werden. Sie würde wegen der angerichteten Verwüstung im Gefängnis landen, könnte allerdings die Zeit dort ununterbrochen nutzen, ihre Korrekturen am Roman Die Mühle am Floss anzubringen, und unter Umständen würde ihr der Richter sogar zusätzliche Zeit gewähren, ein, zwei weitere Romane zu korrigieren.

Dass sie einfach wahnsinnig werden könnte, wurde als weitere Möglichkeit in Betracht gezogen. In ihrem fast geistesgestörten Zustand spürte Kitty, dass ihr nach der ungeheuerlichen Empörung nichts anderes übrigblieb, als das zu tun, was jeder sich selbst achtende Bürger der Republik angesichts einer bevorstehenden Vertreibung von Haus und Hof tun würde: ein großes und fulminantes Festgelage veranstalten und jedermann dazu einladen. Mit Brids und Taddys Schicksal würde sie sich später befassen. Ihr Verstand konnte nur eine gewisse Menge an Ereignissen aufnehmen und war schon dermaßen mit einander widerstreitenden Dingen überlastet, dass schierer Wahnsinn das einzige Mittel blieb, eben diesen ihren Verstand zu retten.

Die Entscheidung für das Fest gab ihrem Leben wieder Sinn und Zweck, sie konnte sich über die jähe Schicksalswende hinwegsetzen und wurde mit der neuen Aufgabe von allem und jedem abgelenkt, das sie leicht ins Gefängnis oder in die Irrenanstalt hätte bringen können.

Zunächst war sie vollauf mit dem tosenden Unwetter beschäftigt, dessen Ziel es offenbar war, die zivilisierte Welt auszulöschen, was wiederum nichts Ungewöhnliches in dieser Gegend darstellte. Kieran war nach Caherciveen gefahren, um Schalotten für das Dinner zu besorgen. Kitty musste sich zu den Gemeindewiesen unterhalb des Gipfels des Crohan-Bergs über die Abhänge hinaufquälen und mit Flüchen und unflätigen Ausdrücken, mit Drohungen und begütigenden Worten die in den Regenfluten fast ertrinkenden Kühe nicht nur von den Weidehängen sicher herunterbringen, sondern auch in die Große Halle der Burg bugsieren.

Brid hatte sie begleitet, aber abgesehen davon, dass ihre Gegenwart ermutigend wirkte, konnte sie keine praktische Hilfe leisten. Doch da sie sich inmitten des verwirrten und verängstigten Viehs hielt, brachte sie bis zu einem gewissen Grade Ruhe in die Herde, die Kittys Klapse und Schubse nur noch mehr verstörten.

Kitty war im Begriff, die gewaltigen Türen der Großen Halle zu sichern, nachdem auch die letzte der triefnassen Kühe drin war, da tauchte das Schwein auf. Sein Gequieke und seine lautstarke Empörung gegen die Ungeheuerlichkeiten von Blitz, Donner, Wasser und Wind konnten durchaus mithalten mit dem Heulen des Sturms. Kitty unternahm einen zweiten Versuch, die Türen gegen das Wüten der Elemente zu schließen, doch jetzt erschien nicht einfach nur das Schwein, sondern Lord Shaftoe höchstpersönlich, heraufbeschworen vom Sturm als eine weitere Geißel, welche die Erde und alle darauf Lebenden strafen sollte.

Neben der anderen Erscheinung in der Großen Halle – Brid, der Wasser und Wind nichts anhaben konnten und die den Berg hinauf- und wieder herabgestiegen und in die Burg gelangt war, so trocken und unbeschwert wie nur möglich – wirkte Seine Lordschaft gespenstischer, als es Brid oder Taddy je gewesen waren. Sein letzter Besuch hatte ihn nicht gelehrt, dass ein Regenschirm ein nützlicher Gegenstand ist, wenn man durch die Grafschaft reist. So sah er aus, als wäre er aus den Tiefen des Meeres emporgestiegen. Durchnässt und verdreckt, gehüllt in den Nebel seiner eigenen Ausdünstungen, brachte er in die durch die Kühe anheimelnd gemachten Räumlichkeiten den Geruch von nasser Wolle, der seiner Tweed-Jacke, den nassen Hosen, der Schirmmütze und dem zugeknöpften Regenmantel entströmte, der eigentlich die Feuchtigkeit hätte abhalten sollen.

So vollgesogen mit Wasser, schien Seine Lordschaft unfähig, sich zu bewegen – war vielleicht auch gelähmt durch die Erkenntnis, dass er wie jedermann sonst, der in ein sich rasend gebärdendes Unwetter gerät, Opfer von Unannehmlichkeiten und Unbequemlichkeiten wurde. Gewiss widersprach das dem, was seiner Person, erst recht seiner Kleidung, auf göttliche Weisung beschieden war, nämlich von allem verschont zu bleiben, was er nicht mochte. Der Affront ließ ihn unbeweglich stehen, wo er war. Zu seinen Füßen bildete sich eine Pfütze, die seine ohnehin schon in Mitleidenschaft gezogenen Lederschuhe bedrohte.

Die Kühe reckten die Hälse hoch und muhten. Mit dem Auftauchen Seiner Lordschaft war Brid prompt verschwunden und hatte das Einzige, was Ruhe und Schicksalsergebenheit in der Halle bewirkt hatte, mit sich genommen. Die Kühe wurden unruhig, rieben ihre Flanken aneinander, schlugen sich gegenseitig mit den Schwänzen in die Augen und scharrten und trampelten mit den Hufen auf dem Steinplattenpflaster herum. Das Schwein hatte sich immerhin beruhigt und schabte mit seinem Messingring an des Lords Füßen, sein Schnaufen und Grunzen mischte sich in das Heulen des Sturms.

Trotz des Getöses verschaffte sich Seine Lordschaft Gehör. »Es war gewiss nicht meine Absicht, in diesem Aufzug hier zu erscheinen, doch heftiger Regen machte uns zu schaffen, und mein Fahrzeug widersteht den Fluten nicht mit der Selbstverständlichkeit, die man erwarten könnte. Ich musste es unten auf der Straße stehenlassen, und mein Architekt sitzt noch darin. Besteht Ihrer Erfahrung nach die Gefahr, dass der Wagen – und er – fortgespült werden? Er hat mich gedrängt, die Unwägbarkeiten zu erkunden. Ich hatte die Absicht, ihm nur das Äußere der Burg zu zeigen, damit er sich eine Vorstellung davon macht, worauf er sich einlässt, wenn er die bereits beschlossenen Veränderungen in Angriff nimmt. Ob Sie wohl jemand von Ihrer Dienerschaft hinunterschicken würden, ihn von dort zu erlösen? Dann könnte er sich vielleicht auch einen Eindruck von den Räumlichkeiten hier verschaffen, wenn Sie nichts dagegen haben – und ich bin sicher, Sie haben nichts dagegen –, und somit würden wir, wie man so sagt, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir werden Ihnen so wenig Unannehmlichkeiten wie nur möglich bereiten. Außer, dass Sie vielleicht einen Ihrer Angestellten veranlassen könnten, uns ein Tässchen Tee zu bringen. Auch ein paar Kekse wären uns willkommen.«

Kitty geriet in einen Widerstreit der Gefühle. Der Kerl hätte es verdient, in den Aufruhr der Elemente zurückgestoßen zu werden, aus dem er gekommen war. Er würde so auch den Geruch seiner teuren Wollsachen mit sich nehmen und sie der Versuchung entheben, ihn mit der ganzen Kraft ihrer Zunge zu strafen und ihn mit ihrem Sarkasmus zu beglücken.

Dieser Mensch verschaffte ihr die Erfahrung, die jeder Angehörige ihres Volkes am meisten fürchtete: von Haus und Hof vertrieben zu werden. Und dabei war er nicht mehr und nicht weniger als ein Lord mit Großgrundbesitz. Selbst der Rabe krächzte sich heiser, als er Shaftoes Betreten der Burg ankündigte.

Doch man war in Irland, und dazu noch in der Grafschaft Kerry. In ihren Adern floss Kerry-Blut, und das würde sich auflehnen, verweigerte man jemandem Aufnahme an einem Tag wie diesem. Ihre Ahnen setzten sich für diesen durchnässten Mann ein. Tradition, die schon in den Nebeln der Vorzeit entstanden war, lastete auf ihrer Seele. Verhaltensregeln, die ihr Vater und ihre Mutter gepredigt hatten, ihre Onkel und Tanten, ihre Großeltern väterlicherseits und ihre Großeltern mütterlicherseits, drangen ihr ins Herz. Obwohl sie an ihrer Wut fast erstickte, fügte sie sich den Geboten ihres Volkes und sagte: »Außer Ihnen wüsste ich keinen, den ich zu Ihrem bedrohten Architekten schicken könnte. Aber ich weiß, wie man Tee macht, und kann wahrscheinlich auch ein bisschen Gebäck auftreiben, wenn Sie das gern hätten.«

Damit ging das Licht aus. Die Stromversorgung war zusammengebrochen, wahrscheinlich für viele Meilen im Umkreis. »Ah, Lord Shaftoe«, krähte Kitty. »Willkommen! Das ist das Leben in der Burg!«

»Was ist mit dem Licht passiert?«

»Es ist ausgegangen.«

»Aber der Generator …«

»Was für ein Generator?«

»Haben Sie etwa keinen Generator?«

»Kerzen. Sind eine wunderbare Erfindung. Garantieren einem Unabhängigkeit von Wind und Wetter und erst recht von dem Kraftwerk und den Stromkonzernen. Außerdem haben wir eine Vorrichtung, Streichholz genannt. Man fährt damit über eine raue Oberfläche, und schon flammt es auf.« Während sie so daherredete, ging sie von einem Wandleuchter zum anderen und zündete Kerzen an, die flackerndes Licht auf die Kühe warfen, vor allem auf Köpfe und Mäuler, deren Schatten an den Steinmauern auf und nieder tanzten.

»Ich darf nicht vergessen, Mr. Skiddings, meinem Architekten, zu sagen, dass er vor allem anderen einen Generator anschaffen muss.«

»Sie sollten ihn zuallererst nach dem Schießpulver suchen lassen.«

»Hier gibt es kein Schießpulver.«

»Klare Entscheidung. Lässt einen nachts ruhig schlafen.«

Jetzt waren alle Kerzen angezündet, mit Ausnahme derer in dem großen schmiedeeisernen Kronleuchter, der in der Mitte von der hohen Balkendecke herabhing. Kitty war der Ansicht, sie hätte genug getan, um die Dunkelheit einzudämmen. Auch hatte der Nachmittag erst begonnen, und es war damit zu rechnen, dass die Sonne noch hervorkam. Sie hätte extra den dreifachen Ring mittels eines Flaschenzugs und eines Seils herablassen müssen. Das dabei entstehende Geräusch würde die Kühe nur noch mehr verstören, deren Milch zweifelsohne bereits flockte, bei all den Blitzen, dem Donner, der Dunkelheit und der Anwesenheit von Lord Shaftoe. Als letzte Geste und Verbeugung vor der Gabe des Prometheus entzündete Kitty eine einzelne Kerze, die in einem Leuchter stand. Der hatte die Gestalt eines persischen Schuhs und war an der Ferse nicht mit Seidentroddeln geschmückt, sondern mit einem kräftigen Ring, durch den sie den Zeigefinger stecken konnte, während sie sich den Weg – und den des Lords – zur Burgküche erhellte, wo Tee und Kekse gereicht werden würden.

Doch bevor sie in der dienstfertigen Weise einer Haushälterin, die sich in ihrem Status und Wertgefühl über jeden Lord erhaben fühlte, die von alters her vorgeschriebenen Worte sagen konnte – »Bitte hier entlang, wenn es Ihnen recht ist« –, hörte man von draußen, das Heulen des Sturms übertönend, einen erbärmlichen Angstschrei, den man nur als den Ruf der Todesfee deuten konnte.

»Ah, gut. Mr. Skiddings, mein Architekt. Seien Sie bitte so nett, ihn hereinzulassen. Er holt sich sonst noch den Tod.«

Das war der Moment, in dem Kitty entschied, die folgenden Momente zu einer Zeit der Prüfung zu gestalten. Jetzt war ihre Chance zu testen, wie viel sie ertragen konnte, wie viel Unfug sie verkraftete, ohne aus der Haut zu fahren. Sie würde sich voll und ganz auf die Wünsche Seiner Lordschaft einstellen, seine Forderungen, Bemerkungen und Betrachtungen. Was er an Hochmut und Herablassung an den Tag legte, wollte sie über sich ergehen lassen, wollte es still hinnehmen, dass er eine Dummheit nach der anderen in ihr Bewusstsein hämmerte, bis sich schließlich der schicksalhafte Ausbruch nicht mehr verhindern ließ, ihr Vulkanausbruch, der den Mann zu Asche verwandeln und unter der heißen Lava ihres Unmuts begraben würde. Sie würde die schwächste ihrer vielen Tugenden auskosten, ihre Geduld. Sie würde erkunden, wie stark sie war, würde sie bis an ihre letzte Grenze ausreizen. Früheren Gegnern gegenüber hatte sie Rücksicht genommen, hatte ihren Ausbruch kommen lassen, lange bevor er seine volle Wucht zeigen konnte. Seine Lordschaft wollte sie nicht so nachsichtig behandeln. Er ahnte nicht, auf welches Risiko er sich einließ, wohingegen ihr sehr wohl bewusst war, worauf sie sich einließ. Sie begab sich auf bislang unerforschtes Terrain. Niemals zuvor hatte sie sich etwas Derartiges erlaubt. Schon schwelgte sie in einer Euphorie, wie sie nur einem boshaften Vorhaben vorangeht. Sie genoss das Gefühl geradezu. Geduld, die erste Phase des Experiments, ergriff von ihr Besitz.

In Erwiderung auf die Bitte Seiner Lordschaft, den Architekten hereinzulassen, sagte Kitty in einem liebenswürdigen Ton, der ihrem Wesen so völlig fremd war, dass ihr Magen sich anschickte zu rebellieren: »Oh, der Ärmste. Ja, natürlich, nur zu gern.« Sie zog die Tür weit auf, wusste sie doch, dass der schräg hereinfallende Regen jeden im Abstand von einem Meter durchnässen würde – wozu natürlich auch Seine Lordschaft gehörte. Sie selbst trat gerissenerweise beiseite und machte dem vor Nässe triefenden Architekten Platz. »Herein mit Ihnen, bitte sehr. Bei dem Unwetter dürfen Sie nicht länger draußen bleiben«, rief sie ihm in dem Sturm entgegen.

Ein gequälter Aufschrei der Erlösung entrang sich dem Haufen nasser Wolle, der unmittelbar vor der Tür stand. Er stolperte über die Schwelle herein, blieb stehen und gab einen weiteren Schrei von sich, diesmal klang er nach Ärger und Protest.

»Treten Sie doch bitte näher, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann könnte ich die Tür schließen.« Kitty brüllte dem Mann direkt ins Ohr, der reflexartig die Hand hob, um sein Gehör vor dauerhaftem Schaden zu bewahren. Bereitwillig schlurfte er drei Schritte weiter, wobei aus seiner triefenden Kleidung ein Rinnsal auf die Steinplatten sickerte. »Sehr freundlich«, schrie er zurück und vergaß, dass er nicht länger gegen das Tosen der Sintflut draußen anschrie. Kitty zuckte zusammen, brachte aber ein schwaches Lächeln zustande, das sich schnell zu strahlender Liebenswürdigkeit über das ganze Gesicht verbreitete. In dieser Stellung ließ sie ihre Züge so lange erstarren, bis sie sicher war, es hätten alle gesehen, erst dann durften sich die selten benutzten Muskeln in den bislang gebotenen Anblick dienstwilliger Überlegenheit zurückbilden. Sie nahm wieder die Kerze zur Hand. »Tee wird in der Burgküche serviert, wenn Sie die Güte hätten, mir hier entlang zu folgen.«

»Oh«, sagte Seine Lordschaft. »Wie interessant.« Er überlegte einen Moment, reckte den Oberkörper, hob besonders Kopf und Schultern und fügte hinzu: »In der Burgküche. Nun ja, warum denn nicht?«

Mag sein, es war den Eindringlingen nicht bewusst, jedenfalls wurden sie in den am besten ausgestatteten Raum der Burg geführt, vorbei an anderen Räumlichkeiten.

Was als Wohnzimmer galt, bestand unter anderem aus einer von den Hausbesetzern zurückgelassenen abgenutzten Couch und einem Stuhl mit zu straff gepolsterter Sitzfläche, dessen hohe Lehne Fettflecken aufwies und eine Vorliebe für Purpur-Haarfarbe erkennen ließ. Außer zwei Stühlen mit Querstreben in der Rückenlehne – ebenfalls Gaben von den lernbegierigen Hausbesetzern – stammte das übrige Mobiliar von Kierans Gutshof: ein Ohrensessel in der Nähe des Kamins; ein niedriger Tisch vor der Couch, grob gezimmert zwar, doch standfest; ein runder Tisch mit Säulenfuß, auf dem eine Lampe stand, ihr Schirm aus braunem Pergament ohne jedes schmückende Element; und ein von Generationen von Sweeney-Stiefeln abgetretenes Teppichstück. Die Feuerböcke im Kamin hatten die Gestalt von riesigen Schachspielbauern, die anzuheben und zu bewegen man die Bärenkräfte des irischen Sagenhelden Cuchulain benötigt hätte. Sie verliehen dem Raum den rechten herrschaftlichen Anstrich. Der Gitterrost, der zum Verbrennen von Torf geeigneter war als die Feuerböcke, bestand einfach aus Eisen. Die Asche hatte ihn über die Jahre guten und getreulichen Gebrauchs mit ihrem einheitlichen Farbton versehen. Der Schornstein zog einwandfrei und machte den Raum trotz seiner fleckigen, mit Mörtel und Kalk verputzten Feldsteinwände zum anheimelndsten in der ganzen Burg, seinesgleichen hätte man in jedem Bauernhaus in der Umgebung finden können – er war eigentlich viel zu gemütlich für den Lord und seinen gebeutelten Gehilfen.

Was sich Speisezimmer nannte, war anstelle des Tischs mit einer Tischtennisplatte ausgestattet und mit sieben nicht zueinander passenden Stühlen – einige gepolstert, andere nicht. Sie waren nicht um den Tisch gruppiert, sondern standen an den Wänden. Die Tischtennisplatte selbst wurde für das Spiel genutzt, für das sie erfunden war, und bot Kitty und Kieran eine willkommene Abwechslung nach der durch des Tages Mühen erzwungenen Trennung.

Die Burgküche jedoch war der Ort, an dem sich das Gemeinschaftsleben in der Burg abspielte. Hier war der Kamin geräumig genug, um darin ein Schwein am Spieß zu braten – doch sollte der Spießbraten, der für das hohe Fest geplant war, nicht in der Burgküche zubereitet werden, sondern auf einem Gelände einen Kilometer weiter westwärts, von wo man den Burgturm noch gut sehen konnte. (Das Schwein, dem die Ehre zuteilwerden sollte, hatte man noch nicht ausgewählt.)

Der Küchentisch war gleichzeitig Fleischerblock, und die vier Stühle, die ihn umgaben, hatte Kieran wie andere Sachen auch seiner Braut als Hochzeitsgabe aus seinem Elternhaus mitgebracht, in dem jetzt sein Bruder, dessen Frau und ihre drei Kinder wohnten. Zu den auffälligeren Schätzen der Küche gehörten der Backofen, die Spüle und die Gerätschaften, auf die kein Koch, der die Bezeichnung verdient, tot oder lebendig verzichten würde. Der Kühlschrank und die Kühltruhe allein schickten wahrscheinlich mehr Ozon vernichtende Schadstoffe in die Landschaft als alle Familienhaushalte im Dorf zusammengenommen. Abzugshauben, eine Mikrowelle, ein Geschirrspüler, eine Maschine zum Schlagen, Reiben, Rühren, Schneiden und Kneten – alle waren zum Erstaunen der Besucher und zum Entzücken von Kieran Sweeney in der geräumigen Küche rundum angeordnet. Ihm war zusammen mit der Einführung in die ehelichen Wonnen das bislang unvermutete Wissen zuteilgeworden, dass er ein hochbegabter Koch war, der teils instinktiv handelte, teils aus Erfahrung lernte. Das zeigte sich, nachdem Lolly – jetzt eine McCloud – in einem fehlgeleiteten Versuch, witzig zu sein, ihrer neuen Schwiegertante zur Hochzeit ein Kochbuch schenkte. Kitty, die diesen humorigen Einfall als völlig daneben empfand, wollte das Buch zusammen mit Unterwäsche der Marke »Victorias Geheimnis« und den gesammelten Werken von Doris Lessing schon wegwerfen. Doch Kieran, dem der Hochglanzdeckel des Buches gefiel, auf dem ein Schwein am Bratspieß dargestellt war, ging dazwischen und entwand den Band ihren Händen. Je länger er darin blätterte, desto mehr erschlossen sich ihm die bislang ungeahnten Möglichkeiten, seine Kochkünste zu verfeinern.

Lord Shaftoe und Mr. Skiddings allerdings mussten sich mit Tee und Keksen begnügen, die seit wer weiß wann auf dem Boden einer Blechbüchse lagerten. Während Kitty mit dem Kessel, der Teekanne, dem Milchkännchen, der Zuckerdose und dem Teller hart gewordener Kekse hantierte – einer Sorte, deren Buttergehalt man nur unzulänglich traute und in die man deshalb, um sie marktreif zu machen, wie Hasenkötel aussehende Schokotröpfchen eingeschlossen hatte –, fühlten sich Seine Lordschaft und sein Leibarchitekt, nachdem sie sich damit abgefunden hatten, in die Küche verwiesen zu werden, bemüßigt, ihrer Verwunderung Ausdruck zu geben und zu loben, was sich ihren Augen darbot. Mr. Skiddings interessierten vor allem die verschiedenen Vorrichtungen und Geräte, und ohne um Erlaubnis zu fragen, öffnete und schloss er Türen, stellte etliche der Maschinen an und aus – freilich ohne Wirkung, da ja ein Generator fehlte –, bis der Strom wunderbarerweise wieder da war, wodurch ein leicht erregbarer Gemüseschnitzler plötzlich in Bewegung geriet. Der arme Mann erlitt beinahe einen Herzinfarkt. Doch kaum hatte er sich von dem Schrecken erholt, fuhr er fort, wenngleich nun mit gebührender Vorsicht, die übrigen Töpfe und Tiegel sowie Schränke und Schubladen zu inspizieren.

Um ihn zurück an den Tisch zu locken und seinem Eindringen in die Privatsphäre von Kierans Küche ein Ende zu setzen, sagte Kitty: »Bedienen Sie sich mit Milch und Zucker. Ich nehme weder das eine noch das andere und verstehe mich deshalb nicht so aufs Servieren. Und Kekse sind auch noch da.«

»Oh«, tönte Seine Lordschaft, »heißt das, ich soll mich selber bedienen?«

»Versuchen Sie es nur«, sagte Kitty »Und lassen Sie sich überraschen.«

»Kommen Sie, Mr. Skiddings, die Kekse hier werden kaum länger auf uns warten.«

Der Architekt ließ davon ab, Kierans Messer zu begutachten – eine Begutachtung, die vor allem darin bestanden hatte, in den blinkenden Klingen sein Spiegelbild zu betrachten, sein Profil, sein vorspringendes Kinn und schließlich Belag und Farbe der Zunge. Er kam an den Tisch zurück, doch mit den Augen konnte er sich nicht von den Wundern der Einrichtung trennen, die er erblickte. Seiner Lordschaft fiel es ebenfalls schwer, sich auf den Imbiss zu konzentrieren, den Kitty mit so viel Umsicht bereitet hatte. Auch er schaute sich um und schien alles nur allzu auffällig zu billigen. Um im Keim zu ersticken, was beide Gäste bei sich dachten, sagte Kitty: »Sie müssen sich keine Sorgen machen. All das hier wird entfernt, nichts von alledem wird Ihren Plänen im Wege stehen, die, wie ich sicher bin, unsere armseligen Bemühungen in den Schatten stellen werden.«

Der Lord, nicht daran gewöhnt, Enttäuschungen zu verbergen, reagierte nur mit einem »Oh?« Mr. Skiddings brauchte eine Weile, ehe ihm aufging, was er eben gehört hatte, nahm verstört einen weiteren Löffel Zucker für seinen Tee, rührte den Tee um, legte den Löffel beiseite und starrte in die Tasse. Kitty war mit der Wirkung ihrer Worte so zufrieden, dass sie noch hinzufügte: »Sie können sich darauf verlassen, wir werden Ihnen das ganze Zeug aus dem Weg schaffen. Wie ich gesagt habe, wir wollen die Übergabe für jeden von uns so angenehm und unkompliziert wie möglich machen. Und das kommt gewiss auch Ihnen entgegen, Mr. Skiddings.«

Er nahm seine Tasse auf, setzte sie an die Unterlippe, stellte sie wieder ab und erwiderte: »Ja, wird es wohl.«

Lord Shaftoe blickte zum Architekten und schlug ihm vor: »Da wir schon so grässliche Unannehmlichkeiten auf uns genommen haben, sollten wir die Gelegenheit nutzen, dass Sie sich einen ersten Überblick über das Anwesen verschaffen. Wir könnten dann auf der Rückfahrt die sich bietenden Möglichkeiten erörtern.«

Kitty mimte die perfekte Gastgeberin, lächelte und sagte: »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Ich habe die Burg nicht für Besucher hergerichtet – schon gar nicht für so bedeutende Besucher wie Sie.«

Der Lord, dem eine liebenswürdige Umgangsart abging, entgegnete: »Wir sind doch wohl alles andere als Besucher.«

Kittys Lächeln blieb unverändert, wenngleich sie das Kinn hob. »In Anbetracht des kürzlich ergangenen Gerichtsbeschlusses sind Sie hier bis zum festgesetzten Termin ›Besucher‹. Möchten Sie noch etwas Tee?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fügte sie hinzu: »Oh, der Regen hat aufgehört. Oder er hat sich, wenn mein Gehör mich nicht trügt, in einen gewöhnlichen Nieselregen verwandelt, der Männern, die so robust und kernig wie Sie sind, kaum etwas anhaben dürfte.«

Seine Lordschaft hatte zweimal vom Tee genippt, Mr. Skkiddings überhaupt nicht. Kitty hatte ihre Tasse geleert und einen der Kekse genossen, soweit man die genießen konnte. »Es könnte aber jeden Moment von neuem losgehen, und ich kann mir vorstellen, Sie möchten den Weg hinunter zu Ihrem Wagen nicht unbedingt in einem Wolkenbruch zurücklegen.« Sie hielt ihnen den Teller mit den Keksen hin. »Möchten Sie noch einen mitnehmen? Als Stärkung auf Ihrer Reise?«

Mr. Skiddings Hand zuckte bereits, doch bei dem missbilligenden Blick Seiner Lordschaft lenkte er sie in eine andere Richtung, nämlich neben die noch volle Tasse.

Der Lord erhob sich, berührte die Senke zwischen Lippen und Kinn und verbeugte sich zur Gastgeberin. »Wir müssen Sie bitten, uns zu entschuldigen. Sie waren ungemein freundlich, aber wir müssen uns nun wirklich auf den Weg machen. Der Sturm hat sich zu unseren Gunsten gelegt, und wir wären mehr als undankbar, wollten wir Ihre Erwägungen unbeachtet lassen. Nicht wahr, Mr. Skiddings?«

Der Architekt stand derart ungestüm auf, dass er beinahe den Stuhl umwarf. Auch der Tisch bekam seinen Eifer, der Aufforderung Seiner Lordschaft nachzukommen, zu spüren – mit der rechten Hand, die er so verschlagen neben die Teetasse gelegt hatte, stieß er gegen die Untertasse, so dass Tee auf den Keksteller schwappte. Damit war die Knusprigkeit der Kekse, die sie ungezählten Tagen und Nächten in einer Blechdose verdankten, für immer dahin. Er wollte schon zu einer Entschuldigung ansetzen, beschloss aber, nicht weitere Aufmerksamkeit auf sein Missgeschick zu lenken, und fragte einfach: »Ob ich wohl Ihre Toilette benutzen könnte?«

Dass er das konnte, bezweifelte Kitty nicht. Doch sie war sich nicht so sicher, ob sie auch willens war, ihm das zu gestatten. Sie befleißigte sich immer noch eines Lächelns, schon war sie versucht, dem Mann zu sagen, dass in dem Zustand, in dem er sich ohnehin befand – nass bis auf die Knochen –, niemand Anstoß daran nehmen würde, wenn er selbst noch einen Beitrag zur Nässe seiner Kleidung lieferte. Doch dann bemerkte sie, dass der arme Mann wirklich in Bedrängnis war. Ihr fiel auch jetzt erst auf, dass der Mensch reichlich gewöhnlich aussah. Im Stillen fand sie sogar, »hässlich wie die Sünde«. Genau besehen bildeten die Runzeln und Falten in seinem Gesicht ein Muster von immer kleiner werdenden Kreisen, je näher sie Mund und Nase kamen. Die Nase selbst gab einen annehmbaren Mittelpunkt der sie umgebenden konzentrischen Kreise ab. Dass die Augen grau waren, half auch nicht viel. Eher schloss Kitty daraus, der Mann sei farbenblind. Sein Haar bestand aus unregelmäßig auf dem Schädel verteilten Büscheln, die einen an Transplantate denken ließen, hätte das den Spender nicht so augenfällig diskreditiert. Die Ohren waren zwar ganz nett an den Kopf gepinnt, nur sprossen auch dort aus Gehörgang und Ohrläppchen Haare. Ob es an seiner Haltung oder einer genetischen Fehlplanung lag oder an beiden, war unklar, jedenfalls hatte er eine merkwürdige Figur, und sein maßgeschneiderter Anzug – besonders im gegenwärtig ruinösen Zustand – konnte die traurige und ins Auge springende Tatsache nicht verbergen. Auf eine gewisse Art war der Mann perfekt geformt, nur war die Perfektion die einer perfekt geformten, reifen Birne.

Voller Mitleid sagte Kitty: »Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo’s langgeht. Wenn Eure Lordschaft uns entschuldigen wollten.«

»Gewiss doch. Dann kann ich mich noch ein wenig umsehen.«

»Ich bin gleich wieder da.«

Kaum eine Minute war vergangen, da war sie zurück. Sie hatte Mr. Skiddings die Treppe hochgescheucht und ihn mit einer Kopfbewegung zur zweiten Tür links gewiesen. »Saubere Handtücher sind im Schränkchen.«

Seine Lordschaft fuhr mit der Hand über die Steinmauer im Durchgang zur Großen Halle. »Das wird natürlich alles verkleidet.« Er zog die Hand zurück und rieb Finger und Daumen aneinander, um sie wieder sauber zu bekommen. Suchend schaute er sich nach etwas um, woran er die Hände abwischen konnte, und fand einen schmuddligen Samtvorhang, den die Hausbesetzer aufgehängt hatten. Er hatte wohl die mittelalterlichen Wandbehänge ersetzen sollen, mit deren Hilfe die durch die Mauern dringende Feuchtigkeit zurückgehalten wurde. »Unterlagen im Archiv habe ich entnommen, mein Vorfahr hätte das Werk vollendet, das die primitiven ursprünglichen Bewohner kaum vorangebracht hatten, nachdem die Urform des Baus errichtet war. Er wurde jedoch durch die schändliche Verschwörung vertrieben, ehe er noch von der Burg völlig Besitz ergreifen konnte. Man kann nicht in einem bloßen Steinhaufen hausen und sich für zivilisiert halten. Ich zweifle nicht, dass Sie ähnliche Pläne hatten, in die ich nun störend eingreifen muss wegen meiner traurigen Pflicht, die ich meinen Ahnen schuldig bin.«

»Es ist eine Burg, kein Palast.«

»Aber sie wird sich dem Aussehen eines Palastes nähern, wenn ich meine Pläne umgesetzt habe. Ich darf nun eine viel zu lange vernachlässigte Aufgabe vollenden. Das erfüllt einen mit dem Gefühl, eine Mission zu haben, meinen Sie nicht auch?«

Da Mr. Skiddings erschien, blieb Seiner Lordschaft Kittys Erwiderung erspart. Der Architekt hatte beim Abtrocknen die Haarbüschel platt auf den Schädel gedrückt. Auch hatte er sich die Zeit genommen, die vom Regen verschrumpelte Krawatte glatt zu ziehen und versucht, die sorgsame Fältelung des Taschentuchs in seiner Brusttasche wiederherzustellen. »Die Spülung im Klo …«, fragte er zögernd, »die Spülung …?«

»Oh«, sagte Kitty, und das Lächeln glitt wieder auf ihr Gesicht, »habe ich vergessen, Ihnen zu sagen. Sie müssen nur in den Wasserkasten greifen und den Mechanismus hochziehen. Funktioniert einwandfrei, wenn man es richtig anpackt.«

»Ah ja.« Der Mann wollte schon wieder zur Treppe.

»Nein, lassen Sie nur«, sagte Kitty. »Ist nur eine Kleinigkeit, bringe ich später in Ordnung. Ich bin sicher, dass Sie, meine Herren, da es nun aufgehört hat zu regnen…«

»Es hat nicht aufgehört.« Seine Lordschaft unterbrach sie in dem knappen Ton, der ihm stets zu Gebot stand.

Was anderes blieb Kitty übrig, als ihr liebenswürdiges Lächeln zu verstärken? »Sagen wir, es hat nachgelassen.«

»Nässer, als man schon ist, kann man kaum werden.«

Dass er von sich in der dritten Person sprach, nahm Kitty befriedigt zur Kenntnis, bevorzugte der Lord doch sonst sicher den Plural majestatis. Als weiteren Beweis der in ihm schlummernden Demut hatte er den Hals gereckt und das Kinn ein wenig vorgeschoben, die Kiefer fest aufeinandergepresst und so seine Worte durch die zusammengebissenen Zähne gemurmelt. Hätte Kitty ein noch breiteres Lächeln aufsetzen können, wären ihr die Gesichtszüge vollends entglitten. »Wer nass wird, wird auch wieder trocken«, sagte sie nur und hoffte, Seine Lordschaft würde sich so wie sie daran erinnern, dass sie ihn mit genau diesem Rat bei seinem letzten Besuch verabschiedet hatte.

Jetzt wie damals fügte sich der Lord stoisch ins Unvermeidliche, wie es schon seine Vorfahren getan hatten, wenn sie erstmals von einer Lebensweisheit erfuhren, die ihnen bislang fremd gewesen war. »Einen Regenschirm haben Sie wohl immer noch nicht.«

»Manche Sachen vergesse ich ständig.« Kitty neigte leicht den Kopf.

»Es geht weniger um mich, mehr um Mr. Skiddings, er ist empfänglich für Lungenentzündung.«

Der Architekt riss bei dieser Feststellung überrascht die Augen auf.

»Im Wagen haben Sie wohl keinen?«, erkundigte sich Kitty.

»Hätten wir uns seiner nicht bedient, um hierherzugelangen?«

»Verzeihen Sie. Wie dumm von mir.«

Da Seine Lordschaft nicht widersprach, hob Kitty den Kopf, um ihr noch immer strahlendes Lächeln, an das sich ihr Gesicht allmählich gewöhnt hatte, besser zur Geltung zu bringen, zweifelsohne hielt Lord Shaftoe es für die Grimasse eines Idioten, und Kitty, der diese Auslegung sehr gefiel, lächelte nicht länger krampfhaft, sondern aus ehrlichem Glücksgefühl und herzlichem Vergnügen. »Bitte, hier entlang.« Kitty wies zum Eingangsportal der Großen Halle. »Aber seien Sie vorsichtig. Hier sind Kühe untergebracht.« Sie trat beiseite und ließ den beiden Herren den Vortritt. Seine Lordschaft ging voran.

»Ein Schwein versperrt mir den Weg und glotzt mich an.« Lord Shaftoe blieb stehen, um sogleich verblüfft und beleidigt fortzufahren: »Oh, und jetzt … nein, so etwas!«

Kitty beugte sich vor und sah die Bescherung. Das Schwein stand unmittelbar vor dem Lord und glotzte ihn nicht nur an, sondern schickte hinten, wie es Säue eben machen, einen Bogen goldfarbener Pisse zielsicher in die Mitte eines nur wenige Fuß entfernten dampfenden Kuhfladens.

»Faugh a Ballagh! Faugh a Ballagh!« Kitty klatschte in die Hände, wie es ihre Schwiegernichte Lolly machte. Das Schwein senkte den Rüssel, drehte den rosa Kopf zur Seite, trottete in eine Ecke der Halle und legte sich neben eine Kuh, die den Vorgang mit Interesse betrachtet hatte, soweit ein Fettkloß dazu imstande ist.

Mr. Skiddings stand inzwischen neben Lord Shaftoe. Kitty hoffte, sie würden nun weitergehen, doch George Noel Gordon Lord Shaftoe gestikulierte großspurig mit einem Arm. »All das hier müssen wir uns vornehmen. Wenn der Raum erst einmal ordentlich gescheuert ist, bietet er bemerkenswerte Möglichkeiten. Der ganze Dreck lässt sich beseitigen. Mir schweben Kamine vor an beiden Enden der Halle, vielleicht auch umrahmt von Figuren aus Marmor.«

Beim Wort Marmor wurde Kitty aus ihrer lächelnden Selbstzufriedenheit aufgeschreckt. Marmor? In einer Burg? Überall war sie hier von Steinen umgeben, die irgendwann einmal von den Berggipfeln gestürzt und krachend zu Tal gegangen waren. Selbst den alles zermalmenden Gletschern der Eiszeit hatten sie getrotzt: Bis hierher und nicht weiter –, hatten sich gegen elementare Kräfte behauptet, die in ihrer Zerstörungswut herzlos und nicht zu besänftigen sind. Auf keinen Fall durften diese Steine kultiviert werden. Sie mit dekadentem Marmor zusammenzubringen, wäre eine Abscheulichkeit, die das in ihren Adern fließende Blut der Vorfahren nie zulassen würde. Allein zu behaupten, sie wären in ihrem jetzigen Zustand unzulänglich, kam einer Ketzerei gleich, der sie nie und nimmer Vorschub leisten würde.

Lord Shaftoe wandte sich seinem Architekten zu. »Ich muss Sie nach East Anglia mitnehmen und Ihnen zeigen, was mir vorschwebt. Einfach unglaublich, was man hier sieht.« Und etwas leiser fuhr er fort: »Ist auf eine Art schon faszinierend, bestätigt zu bekommen, was man über die Leute hier sagt. Man braucht sich bloß umzusehen. Ich glaube, der Himmel hat mich rechtzeitig gesandt – oder darf ich sagen uns? Ein wenig später – und alles wäre den Bach runtergegangen, was, Skiddings?«

Kitty war inzwischen dermaßen wütend, dass nur völlige Ruhe sie vor einem spontanen Vulkanausbruch retten konnte. Das zu bewerkstelligen, gelang ihr mühelos. Durch natürliche Auslese hatte sich in ihrer Gattung die Anlage entwickelt, dass ein innerer Mechanismus ausgelöst wurde, wenn bei Ansteigen von rechtschaffenem Zorn Selbstzerstörung drohte. Für einen Moment wenigstens trat dann an die Stelle der Furien, die schon ihr Hirn zerfetzten und an ihrer Seele zerrten, eine übernatürliche Gelassenheit. Gefasst, wie sie nun war, legte sie ihr Lächeln ab und beschloss, den törichten Bemerkungen Seiner Lordschaft einfach mit Schweigen, Gleichmut und Geduld zu begegnen. Auch wollte sie den Aufbruch nicht länger verzögern. Sie würde stehen bleiben, wo sie stand, und abwarten. Was ihr noch an Zumutungen geboten werden würde, wollte sie, wenn auch nicht ignorieren, so doch einstweilen verdrängen, um später darauf zurückzugreifen, wenn Nachsicht übende Vernunft eine Rache ersinnen würde, mit der die Beleidigungen am besten vergolten werden konnten, die wie vergiftete Pfeile in ihr unschuldiges Selbst drangen.

George Noel Gordon Lord Shaftoe drehte sich zu seiner Gastgeberin um. »Es wird Sie froh machen zu erfahren, dass ich beabsichtige, Feierstimmung in die Gegend zu bringen. Ich schmiede bereits Pläne für Gastmähler und Lustbarkeiten, die zweifelsohne die Burg mit ausgelassener Fröhlichkeit erfüllen und ähnliche Festivitäten in der weiteren Umgebung anregen werden.«

»Tanzvergnügen? Partys? Und jedermann ist eingeladen?«

»Oh, nein. Sie missverstehen mich. Berühmte Persönlichkeiten, die schon viel zu lange dieser Gegend ferngeblieben sind, will ich auf die Burg einladen und als Gäste willkommen heißen. Meine fröhlichen Zusammenkünfte werden die Stimmung ringsum beflügeln, und das umso mehr, da von einem derart sichtlich herausragenden Ort wie der Burg eine Vorbildwirkung ausgeht. Ich betrachte es als meine Pflicht, von dieser Stätte aus tonangebend zu wirken, wenn ich das so sagen darf. Und der Ton, den ich zum Nutzen der Landwirte und Fischer, ja selbst der Kätner anschlage, wird andere ermuntern, ebenfalls Lustbarkeiten nach ihrem Geschmack und in Übereinstimmung mit den örtlichen Sitten und Gebräuchen auszurichten. Das leuchtet doch ein, nicht wahr? «

Kittys Ruhe war unerschütterlich, ihre Geduld blieb ihr erhalten.

»Ein weiterer Vorzug meiner Pläne«, fügte Seine Lordschaft hinzu, »sind die Arbeitsplätze, die dadurch geschaffen werden. In dem Stil, in dem ich hier zu leben gedenke, kann ich unmöglich ohne Dienerschaft auskommen. Von Zeit zu Zeit werden weitere Hilfskräfte nötig sein, die ich ausreichend entlohnen werde. Das damit einhergehende Anwachsen des allgemeinen Wohlstands dürfte beträchtlich sein.«

Kitty juckte es, Seiner Lordschaft klarzumachen, dass ihr Land längst nicht mehr der bevorzugte Brutplatz einer willfährigen Klasse von Bediensteten war. Der allgemeine Wohlstand hatte es auch ohne Lord Shaftoes Zutun bereits erreicht. Das Blatt hatte sich gewendet. Während der Touristen-Saison im Sommer wurden Mädchen aus Amerika als Aushilfen in Hotels und Restaurants eingestellt. Auch junge Männer von jenseits des großen Meeres waren als Kellner oder Hilfskräfte willkommen. Lord Shaftoe würde sich seine Dienerschaft eher unter den Studenten amerikanischer Colleges zusammensuchen müssen; die Hoffnung, sie unter den Ortsansässigen zu rekrutieren, konnte er begraben. Da Kitty aber von heiterem Gleichmut erfüllt war, fühlte sie sich nicht bemüßigt, Seine Lordschaft mit Realitäten zu verunsichern, auf die er ohnehin stoßen würde. Sollte er doch aus Erfahrung lernen. Schadenfreude drohte ihre Seelenruhe zu verdrängen; als sie aber Mr. Skiddings sagen hörte: »Werden wir nicht in zwei Stunden in Cork zum Dinner mit Ihrer Ladyship erwartet?«, stellte sich ihre Gelassenheit wieder ein.

»Ah, Ihre Ladyship. Richtig. Wir müssen ihr von unserem Abenteuer berichten, es wird sie höchlichst amüsieren.«

Kitty fühlte sich erleichtert, dass man offenbar zum Aufbruch drängte, wunderte sich aber, dass von einer Ladyship die Rede war. George Noel Gordon war, soviel sie wusste, bis dato unbeweibt. Er hatte weder Ehefrau noch Familie, wenngleich er nun, da er Besitzer einer Burg war, einen Erben benötigen würde. Dazu wäre eine Gattin vonnöten. Vielleicht war die erwähnte Lady eine Kandidatin für diese Ehre. Kitty ging weiter durch den Sinn, dass es der armen Frau nicht vergönnt sein würde, ihr zukünftiges Heim kennenzulernen, bevor die für nötig gehaltenen Verunstaltungen vorgenommen wurden.

Vorsichtig wichen die beiden Männer dem Kuhfladen aus, umgingen Pfützen sowohl aus Rindvieh- wie aus Schweinepisse und gelangten schließlich, so schnell sie es in ihrem vornehmen Getue vermochten, ans Tor. »Sie sehen doch wohl auch die Möglichkeiten, die sich uns hier bieten, Mr. Skiddings?«

»Viele, kann ich Ihnen versichern.«

»Schade, dass Sie den Turm nicht besichtigen konnten. Er ist voller Gerümpel, wie fast jeder Winkel hier, aber auch da gibt es ungeahnte Freiräume für Ihre Ideen.«

»Einiges kann ich mir schon sehr gut vorstellen.«

»Und natürlich haben Sie jederzeit meine volle Unterstützung.«

»Ich bin Euer Lordschaft sehr verbunden.«

»Ich muss gestehen, mir liegt ungeheuer viel an Komfort.«

Ohne die herausgeforderte Erwiderung abzuwarten, drehte sich Seine Lordschaft zu Kitty um und sagte mit freudiger Stimme: »Jetzt fällt’s mir wieder ein. House of Splendid Isolation.«

»Tut mir leid. Edna O’Brien. Abermals daneben!«

»Nein, wirklich? Na, gut.« Damit trat er ins Freie und sagte zu seinem Begleiter: »Für die Burgküche werde ich ein angemessenes Angebot unterbreiten. Frage mich nur, wer die so eingerichtet hat.«

Ohne ein weiteres Wort, ohne Abschiedswinken oder ein Dankeschön gingen die beiden davon, selbst der Nieselregen schien sie nicht zu beeindrucken, der ihre während des Aufenthalts in der Burg getrocknete Kleidung erneut durchnässte. Kitty schaute ihnen nach, ihre Geduld und ihr Seelenfrieden überstanden auch diese Unhöflichkeit wie andere von der Aristokratie bekannte Ungezogenheiten. Seine Lordschaft redete weiter; Mr. Skiddings hörte weiter zu, ein Kopfnicken war sein einziger Beitrag zu dieser höchst zivilisierten Errungenschaft der Menschheit: der Konversation.

Der Regen hatte sich mittlerweile des größten Teils seiner überreichen Gaben entledigt, so dass Kitty die Kühe und das Schwein wieder an die frisch gewaschene Luft treiben konnte. Sie ging rückwärts, wollte die Kühe herauslocken, hielt an der Schwelle kurz an, machte noch einen Schritt nach draußen in den Nieselregen und den aufsteigenden Nebel. Ihr Blick war in die Große Halle gerichtet, auf die sich hin und her bewegenden Kühe, die muhten und unruhig auf den Steinplatten scharrten, die mit den Schwänzen schlugen und deren Euter mit gewichtiger Bedächtigkeit hin und her schwangen. Sie gab sich einen Ruck, zwang sich, die Augen zu heben und nach oben zu schauen, um noch einmal das zu sehen, was sie bereits gesehen hatte. Vom Eisenring des mit Kerzen bestückten Kronleuchters hingen die jungen, hübschen Leichname von Brid und Taddy. Ihre schmuddligen Füße, in Kittys Wahrnehmung zart und feingliedrig, waren nach unten gestreckt, die Zehen wiesen in die dunkler werdenden Ecken der Halle. Da waren die groben Stricke, die sich in ihre schlanken Hälse schnitten, die Augen quollen vor Entsetzen über das ihnen Angetane heraus, die geschwollenen Zungen hingen seitlich aus den angstvoll geweiteten Mündern, Zungen, die nie wieder sprechen, nie die Geschichte ihrer erlittenen Leiden erzählen würden. Langsam drehten sich die Körper, blickten noch einmal in der Halle umher, ohne die Kühe und das gleichgültige Schwein zu beachten, die teilnahmslos schissen und pissten und die es nicht rührte, dass so viel jugendliche Herrlichkeit vom Antlitz der Erde getilgt war.

Sie waren nur Schatten, das wusste Kitty sehr wohl. Dennoch konnte man sie nicht dort baumeln lassen, so entstellt, stumm, blind, mit schmutzverkrusteten Füßen, die mal gegen den Kopf der einen Kuh, mal gegen die Ohren einer anderen strichen. Sie wollte schon flehentlich darum bitten, dass sie verschwänden, sich in die schattigen Winkel der Burgräume zurückzögen oder sich wieder zu Harfe und Webstuhl im Turm oben begäben. Doch sie unterließ es. Sie wollte im sanft fallenden Regen stehen bleiben, im von der Erde aufsteigenden Nebel. Ihre Augen sollten nichts anderes sehen als diese beiden Geister. Sie wollte Wache halten, bis sie sich in Nichts auflösten, ihr aus dem Blick schwanden, bis sie aus der Henkerschlinge freikamen, wieder nach Belieben in der Burg, über die Weidegründe, die Hügel, die mit Steinen übersäten Äcker wandern konnten. Selbst wenn sie dort hingen bis zum letzten von Kittys Tagen, würde sie nicht von der Stelle weichen, wo sie jetzt stand. Sie würde die Ärmsten nicht alleinlassen in ihrem Grauen und ihrer Todesangst.

Der Regen, der immer noch sanft fiel, verschleierte ihr die Augen, und der Nebel zog durch die geöffneten Türen in die Große Halle. Kitty bewegte sich nicht. Es sollte geschehen, was geschehen sollte. Unmerklich fiel der Regen, nahm ihr die Sicht. Noch sah sie die Gestalten, doch der Nebel wurde dichter. Sie wusste, wessen Gegenwart verschuldet hatte, dass sie dort hingen. Es konnte nicht sein, dass sie für alle Ewigkeit zu diesem Horror verdammt waren, schließlich und endlich musste ihnen Frieden gewährt werden. Sie mussten erlöst und freigegeben werden, um wieder zueinanderzufinden. Was getan werden musste, das sollte getan werden. Das schwor sie sich, und es würde vollbracht werden, oder sie wäre nicht die, die sie war.

Mit einem Mal teilten sich die Nebel, der Regen ließ nach. Brid und Taddy waren verschwunden, waren nirgendwo mehr zu sehen. Kitty schaute noch einmal hoch zum schmiedeeisernen Ring. Sie klatschte dabei den Kühen auf die Flanken. »Bewegt euch!«, sagte sie. »Mach schon. Ja, dich meine ich. Raus mit euch. Bewegt euch!«