Kieran musste sich große Mühe geben, seine Verärgerung über Kitty nicht an den Kühen auszulassen. Sie hatten ihm nichts Böses angetan. Sie waren nicht von einem Zimmer ins andere gerannt, hatten nicht auf Geräusche gelauscht, die nur sie hören konnten, hatten nicht nach schemenhaften Schatten gesucht, hatten nicht forschend in die eine, dann in die nächste Ecke gespäht. Auch hatten sie nicht, als über das seltsame Gebaren befragt, wie Kitty geantwortet: »Oh, habe ich das wirklich getan? Tut mir leid, ich bin manchmal ein bisschen verwirrt. Du verstehst das bestimmt.«
Unter unerklärlichem Verwirrtsein litten die Kühe nicht. Gleich bei der ersten Aufforderung hatten sie sich von der Weide am Fluss nach oben begeben. Er hatte sie ohne weiteres in die Große Halle treiben können, sie hatten die Steinplatten auf dem Fußboden hingenommen und sich sogar hübsch nebeneinander ihren Stellplatz gesucht, mit dem Kopf zur Wand.
Sie waren das, was man von einer Kuh erwartete, solange er sich bewusst war, dass er mit keinerlei Gefühlsregungen oder irgendeiner Anteilnahme rechnen durfte. Wenn Kitty McCloud es beliebte, seine Geduld auf die Probe zu stellen, wenn Mrs. McCloud – sie hatte trotz der Eheschließung ihren Geburtsnamen beibehalten –, wenn es Mrs. McCloud gefiel, sich in unberechenbarem Gehabe zu üben, wenn seine Liebste und Teuerste es für nötig befand, ihn völlig von ihrem dichterischen Tun auszuschließen, die Tiere durften dafür nicht büßen.
Kieran wusste um die Quelle ihres inneren Aufruhrs. Aber etwas verstehen hieß noch lange nicht, es zu akzeptieren. Wiederum hatte er wissentlich eine Schriftstellerin geheiratet, eine mit sich selbst beschäftigte Gattung Mensch, abgeschieden von den anderen, die sich aus dieser Welt zurückzog und mit Gewalt in eine andere eindrang.
Auch hatte sie ihn glauben gemacht, dass sie Grund genug für das ihre Mitmenschen nervende Verhalten hatte. Trotz des obersten Gesetzes, das für jeden Schriftsteller gilt, hatte seine Frau auf ihrer Hochzeitsreise nach Ballinskelligs und auf die vor der Küste gelegene Insel Skellig Michael einige ihrer Geheimnisse preisgegeben. Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Die Loslösung von ihrem Computer – von dem sie durch die Hochzeitsreise gewaltsam getrennt worden war, andernfalls hätten sie gar nicht fahren können – empfand sie als so großen Verlust, dass sie diesen Kummer einfach mit jemandem teilen musste.
Er wiederum hatte ihr bekannt, dass er ohne seine Kühe nicht leben konnte. Nur hatte er zugeben müssen, dass er in eine vertraute und wohlgeordnete Welt zurückkehren würde. Sie hingegen erwartete ein heilloses Durcheinander, das geradezu an Chaos grenzte. Sie hatte, wie sie selbst gestand, es mit einer Herausforderung aufgenommen, die sie fast in den Abgrund stürzte. Sie hatte sich, wenn auch zögerlich, entschieden, George Eliots Die Mühle am Floss (durch die er sich nie bis zum Ende hatte durchkämpfen können) zu überarbeiten. Flüche wie »Dämliche Maggie! Heilige Einfalt! Du dummes Stück!« konnten die schönsten Momente ihres Beisammenseins stören. »Verrückter Tom Tulliver! Angsthase, ich werd dir schon Beine machen!« Ausdrücke wie diese konnten ihrer beschwingten Fahrt nach Ballinskelligs zu einem Tanzabend im dortigen Pub »Tig Rosie« die gute Laune nehmen. Verwünschungen, Warnungen, diabolisches Gelächter – es waren alles Ausbrüche, die von ihrem Willen zeugten, dem Roman ihre Prägung zu geben. Mitten in einer Mahlzeit stieß sie unversehens Wörter oder Sätze aus wie »Gerechtigkeit« oder »Das hat er verdient … Sie wird glücklich werden. Du wirst sehen, ich mache sie glücklich!«
Nun waren sie wieder zu Hause, und sie war entschlossen, sich George Eliot, alias Mary Ann Evans, gefügig zu machen.
Während Kieran seinen unruhevollen Gedanken nachhing, war er beim Melken bei der siebenten Kuh angelangt – dreiundzwanzig waren es insgesamt. Ein seit kurzem öfter auftauchendes Ziehen machte sich unterm Brustbein bemerkbar. Binnen kurzem würde es weiter ausstrahlen, nach oben, nach unten, nach allen Seiten, würde den Brustraum ausfüllen und bis zum Magen reichen. Erfahrungsgemäß breitete es sich diffus im ganzen Körper aus und erzeugte in ihm ein Verlangen, das sich nur stillen ließ, wenn er seine Frau in die Arme nahm, sie fest an sich drückte und sie so vor aller Verletzbarkeit schützte. Er wiederum empfand dann eine Selbstbestätigung, eine Verwirklichung all dessen, das sein wahres Wesen ausmachte, so, wie es gewesen war, wie es jetzt war und wie es immerfort sein sollte. Nur in dieser Ganzheit fand er zu seinem Selbstverständnis. Wäre ihm das genommen, wäre er nicht er.
In Gedanken versunken sah er zu, wie die warme süße Milch in den Eimer spritzte, und Dankbarkeit erfüllte seine Brust. Seine Erregung hielt dennoch an, schwand nicht, im Gegenteil, nahm eher zu. Sie war der Nährboden für seine Liebe. Sein ganzes Leben lang hatte er beim Anblick dieser Frau nur Zorn empfunden, und genau dieser Zorn war es, der seine Liebe zu ihr überhaupt ermöglicht hatte. Sein Groll barg das Wissen um ihre Verletzbarkeit. Wenn seine Wut am größten war, erwachte tief in seinem Innern das Bedürfnis, sie vor jedwedem Unheil zu bewahren. Er hatte Mitleid mit ihr, weil sie ungeschützt war; inmitten seines Wütens sah er ihre Entschlossenheit, ihren Trotz. Nur er konnte sie beschützen, nur er allein konnte seine eigene Boshaftigkeit bezwingen. Und mit diesem Wissen hatte er sein mit Hass gewappnetes Herz öffnen und sein wahres Ich erkennen können. Zu seiner Verwunderung hatte sie in ihre Ehe all das mitgebracht, was seine Liebe erst ermöglichte. Sie konnte ihn auch jetzt wie ehedem rasend machen. Nur hatte er erkannt, dass es ohne das nicht ging. Sein Grimm war der Nährstoff seiner Liebe, ohne ihn waren sein Sehnen und Verlangen gefährdet, drohten zu versiegen. Sie musste ihn einfach herausfordern, ständig ausprobieren, wie weit sie es treiben konnte, bis sein Geduldsfaden riss. Und auch dessen war er sich bewusst: Sie würde es stets darauf ankommen lassen. Ihr hartnäckiger Charakter ließ sie nie im Stich, wie Cupidos Pfeile traf sie mit ihren Ausfällen stets ins Schwarze. Ein zielgerichteter Blick, ein Achselzucken, ein Murren, ein Heben des Kopfes: Jeder Pfeil saß – und in jeder dieser Gesten fand seine Liebe erneut Bestätigung.
Er war mit dem Melken fertig. Kieran streute erst Kalk, dann Stroh auf die mit dem Schlauch abgespritzten Steinplatten und wanderte so die lange Reihe der Kühe ab – die Welt war für ihn wieder in Ordnung. Auf diese Art Befriedigung konnte er sich verlassen, und um dieses Gefühl nie zu verlieren, gönnte er sich immer eine Pause, um das Ergebnis seiner Mühen wohlgefällig zu betrachten.
Das Schwein hatte eine ihm genehme Kuh gefunden und sich ins Stroh gelegt, und zwar so, dass deren Atem genau auf seinen Bauch strömte und es in den vollen Genuss der Wärme kam, wie sie nur von einer Kuh ausgehen kann. Auch Sly, dem für heute keine Hütehundeigenschaften mehr abverlangt wurden, hatte sich auf dem Steinfußboden ausgestreckt und wartete mehr oder weniger geduldig auf die Aufforderung seines Herrn, ihm in die Spülküche zu folgen – eine Namensgebung, die der Raum seiner Lage in einer Burg verdankte –, wo der gute Mann ihm ein eigens zubereitetes feines Fresschen servieren würde.
Gerade als Kieran einen letzten Arm voll Stroh ausstreute, betrat Kitty mit für sie ungewöhnlich sachten Schritten die Halle. Sobald sie in Hörweite war, erklärte sie: »Ich habe beschlossen, wir wollen das Schwein nicht.«
»Um Himmels willen, lass es, wo es ist.«
»Es geht dahin zurück, wo es hingehört.«
»Sieh doch mal her. Es fühlt sich hier entschieden wohl und zu Hause.« Er deutete mit dem Kopf in die Richtung, wo das Schwein es sich bequem gemacht hatte.
»Es macht nichts als Ärger. Es wird die Burg zum Einsturz bringen – sie unterhöhlen – oder wer weiß was veranstalten. Ihm ist nicht zu trauen.«
»So ein Blödsinn! Wie soll man einem Schwein trauen oder nicht trauen?«
»Der eine tut’s eben, und der andere nicht. Ich jedenfalls nicht.«
»Aus welchem Grund hast du deine Meinung geändert, wie schon so oft?«
»Ich brauche keinen Grund, um meine Meinung zu ändern. Ich hab sie eben geändert. Und es bleibt dabei. Außerdem hat das Schwein meine Turmstube vollgepisst.«
»Was wollte es ausgerechnet in deiner Turmstube?«
»Pissen.«
»Ich meine, wie ist es da hinaufgekommen?«
»Einfach so. Der Raum hat schließlich keine Tür.«
»Und wieso hast du es nicht fortgejagt?«
»Ich war am Arbeiten – ich – ich hab’s einfach nicht gesehen – erst, als es pisste.« (Was sie ihrem Mann verschwieg war, dass vor dem schweinischen Akt Taddy auf seinem Weg treppauf durch ihr Arbeitszimmer gegangen war.)
»Ich mag das Schwein.«
»Und ich – ich nicht.«
»Damit wäre die Sache ja klar.«
»Gut. Das Schwein geht.«
»Nein. Das Schwein bleibt.«
Herausfordernd neigte Kitty den Kopf nach rechts. »Was ich sage, rührt dich wohl gar nicht?«
»Du hast deine Meinung gesagt, und ich meine. Das Schwein bleibt. Schließlich hat es uns zusammengebracht.«
Das stimmte. Das Schwein hatte sich in zweierlei Hinsicht als Segen erwiesen. Zum einen hatte es die jahrhunderte alte Fehde zwischen ihren beiden Familien, den McClouds und den Sweeneys, beendet. Und zum anderen hatte es Kittys an der Steilküste gelegenen Grund und Boden aufgewühlt und dabei das Skelett des allseits begehrten Verführers Declan Tovey ans Licht befördert, der dort unter den Kohlbeeten vergraben lag, offensichtlich Opfer eines Mordes. Das wiederum hatte zu einer despektierlichen irischen Totenwache geführt, während der der Stammsitz der McClouds unter den Stürmen und Wasserwogen ein- und schließlich ins Meer hinabstürzte und das bis zum heutigen Tag nicht wahrhaft beerdigte Skelett des sagenumwobenen Mr. Tovey mit sich riss. Das Schwein war aus unerklärlichen Gründen ihrem gerade aus New York eingetroffenen Neffen bis an Kittys Haustür gefolgt. Ein Missgeschick am Straßenrand hatte nur wenige Kilometer von ihrem Haus entfernt die Fahrspur mit einer ganzen Rotte ähnlicher Artgenossen bevölkert.
Zu jedermanns Erleichterung ruhte der unwiderstehliche Declan nun auf dem Meeresgrund, und zu Kittys noch größerer Erleichterung hatte das hartnäckige Schwein eine Heimstatt bei Lolly gefunden, die, wie es der Himmel wollte, zu den letzten erfolgreichen Schweinehirten im modernen Irland gehörte. Und die durch eine weit überraschendere göttliche Fügung nun mit Kittys amerikanischem Neffen Aaron, ebenfalls einem McCloud, verheiratet war.
Im Großen und Ganzen gesehen hatte das Schwein also mehr Gutes bewirkt, als Schaden angerichtet. Kitty hatte Kieran geheiratet, und sie bewohnten jetzt die Burg. Aber damals war nicht heute, und nur Kitty wusste um die Gründe ihrer neuerlich feindseligen Haltung gegenüber dem Schwein.
Kieran war über die Maßen erstaunt, als Kitty die Hände unter dem Kinn rang. Noch nie hatte er sie in so einer Bittstellerhaltung gesehen, geschweige denn in der Haltung zu einem Gebet. Selbst bei ihrer Hochzeit, am Altar vor Pater Colavin, der sie dermaßen überreichlich mit Segenssprüchen bedachte, dass sie sie selbst in einem langen Leben nie würden aufbrauchen können, war ihr Zugeständnis an die heilige Zeremonie auf ein angedeutetes Kreuzen der Finger in Magenhöhe begrenzt geblieben. Jetzt aber hatte sie die Hände fest ineinander verschlungen und hielt sie beängstigend nahe am Herzen. »Bitte, es kann nicht bleiben«, sagte sie. »Es – es bringt Unglück.«
»Bloß, weil du mit deiner Schreiberei Probleme hast, kannst du doch nicht die Schuld auf das Schwein schieben.«
»Es hat nichts mit meinem Schreiben zu tun.«
»Ach nein? Und es hat auch nichts mit deinem Schreiben zu tun, wenn du in Ecken starrst oder dich nach hinten umschaust, als würde dir jemand folgen?«
»Wovon redest du da?«
»Über dich und dein Gebaren, wenn du sitzt und über diese dämlichen Tullivers brütest, über die du etwas zu schreiben versuchst.«
»Es hat nichts mit den Tullivers zu tun.«
Kieran reckte Kopf und Schultern in die Höhe und trat einen Schritt zurück, als könnte er so seine Frau aus einer besseren Perspektive betrachten. Seine Augen verengten sich zu einem Schlitz. Als er nichts sagte, fragte Kitty: »Starre ich wirklich in dunkle Ecken?« Sie schien neugierig, auch beunruhigt.
Kieran lächelte und wiegte bedächtig den Kopf von einer Seite zur anderen. »Natürlich merkst du nicht, dass du es tust. Dazu bist du viel zu tief in deine Arbeit versunken. In dein Buch. Und dann kommt das Schwein und lenkt dich ab … «
»Es lenkt mich nicht ab«, fiel ihm Kitty ins Wort, wurde aber nicht heftig.
»Na gut, aber irgendwas tut es. Ich wünschte, du würdest mir verraten, was es denn sonst macht.«
Wie sollte Kitty ihrem Mann sagen, dass sie Geister sah – und dass das Schwein sie ebenfalls sah. Es war das Schwein mit seinem unverwandten Blick nach oben zur Galerie gewesen, kaum dass es auf der Burg angekommen war. Nur das Schwein und sein Verhalten hatten Kitty dazu gebracht, Taddy zu sehen. Auch andere Visionen, andere Erscheinungen hatte sie gehabt. Erst am frühen Nachmittag hatte das Schwein sie mit seinem Blick darauf aufmerksam gemacht, dass oben auf dem Turm Brid stand und auf das Meer hinausschaute. Und am Morgen war es wie angewurzelt stehengeblieben, weil es Taddy durch die Ställe hatte gehen sehen. Sie hatte es vom Fenster der Turmstube aus beobachtet. Zwar hatte sie Taddy und Brid schon bei der Hochzeit bemerkt, aber erst seit das Schwein bei ihnen war, hatte sie beide immer wieder zu Gesicht bekommen. War das Schwein aus dem Haus, verschwanden vielleicht auch die Geister.
Dass man diese Logik leicht widerlegen konnte, wurde gar nicht erst in Betracht gezogen. Um Beschuldigungen gegen das mit seherischen Kräften begnadete Tier abzuschmettern, vergaß sie vollends, dass das Schwein auf ihrem Hochzeitsfest überhaupt nicht zugegen gewesen war, als ihr das gespenstische Paar zum ersten Mal auffiel. Auch bei den wiederholten Malen, wenn sie auf ihrem Weg nach oben zum Eckturm auf der Wendeltreppe den großen Treppenabsatz erreichte, war das Schwein nicht dabei gewesen, und doch waren ihr da mehrfach Taddy und Brid erschienen, er die Harfe spielend, die keine Saiten hatte, sie am Webstuhl sitzend, ihr bloßer schmuddliger Fuß betätigte das Trittbrett, doch gab es weder Faden noch Tuch.
All das konnte Kitty nicht von ihrer Überzeugung abbringen, dass das Schwein eine Art Medium zwischen ihr und ihren Erscheinungen war. Sie setzte alles daran, die beunruhigende Wahrheit zu verdrängen, dass die trübsinnigen Geister sich allein ihr zeigten, aus Gründen, die nur mit ihr etwas zu tun haben konnten, und dass es keine Rolle spielte, ob das Schwein anwesend war oder nicht.
Vermutlich belastete sie auch der Gedanke, dass noch ein anderer von ihrem Geheimnis wusste – selbst wenn es nur ein Schwein war. Eine erschreckende Vorstellung, nicht die allein Wissende zu sein! Natürlich konnte das Schwein schwerlich ihr Geheimnis preisgeben, und doch hielt sie das Unmögliche für möglich. Was, wenn das Schwein sie verriet? Dass derart wahnwitzige Einbildungen an Idiotie grenzten, spielte dabei keine Rolle. Der Gedanke saß fest und nagte an ihr. Das Schwein musste zurück zu Lolly. Es wusste zu viel. Es sah zu viel. Und doch brachte sie nicht mehr über die Lippen als: »Bitte – es kann nicht bleiben. Ich hab’s dir schon gesagt. Es bringt Unglück.«
»Es hat uns doch aber zusammengebracht. Ist das ein Unglück?«
Jetzt klang ihre Stimme fast flehentlich. »Kann es nicht einfach weg, und Schluss?« Dass seine Frau sich aufs Bitten verlegte, ließ Kieran fast aus dem Gleichgewicht geraten. Er zwang sich zu einem kurzen Lacher. »Falls du plötzlich abergläubisch geworden bist, dies ist kein schwarzes Schwein. Die schwarzen sind es, die Unglück bringen. Unsers hier ist aber ein rosa Schwein.«
»Ob rosa, schwarz oder blau, ist mir völlig egal. Ich weiß nur, wir wollen es hier nicht haben. Bedeutet dir die Bitte deiner treu ergebenen Gattin denn gar nichts?«
Kieran packte die Angst. Irgendetwas war mit seiner Frau geschehen. Nicht, dass sie abergläubisch geworden war, aber dass sie sich für eine treu ergebene Gattin hielt, war entschieden befremdlich. Liebe, die hatte sie fürwahr, auch Leidenschaft und andere weibliche Attribute, aber Ergebenheit? Er sah sie an. Unter zaghaftem Lächeln versuchte sie, ihre Hände aus der verkrampften Bittstellerhaltung zu lösen und wieder sinken zu lassen. So viel stand für ihn fest: Er durfte auf keinen Fall weich werden. Das strittige Problem musste in der Schwebe gehalten werden. Man musste es jederzeit wieder aufgreifen können. Das hier war der Anfang des Streits, nicht sein Ende. Ihre sich fortan wiederholenden Versuche, dem Problem beizukommen, würden sich als ein Zeichen ihrer Vertrautheit erweisen. Ihr Disput würde ihre Zusammengehörigkeit nur festigen. Wenn er jetzt kapitulierte, würde er ihnen beiden die Möglichkeit nehmen, sich fortwährend zu streiten, sie würden sich zu fügen beginnen, und das würde die Bande lockern, die sie von Jugend an aneinander gekettet hatten – nämlich die trotzige, nie ins Wanken geratene Weigerung, einen Kompromiss einzugehen, geschweige denn dem anderen zuzustimmen. Eine ihm ergebene Frau wollte er nicht. Er wollte Kitty McCloud, das Mädchen, die Frau, die er von dem Tag an geliebt hatte, da seine Mutter und sein Vater sie als Feindin gebrandmarkt hatten, die er sein Leben lang zu verachten hätte. Dabei hatte er sie immer begehrt, hatte sie immer geliebt. Die Feindseligkeit, die man ihm eingeimpft hatte, gab seiner Leidenschaft nur noch mehr Nahrung – und das familiäre Verbot goss nur Öl in das Feuer seiner Begierde. Mit der Eheschließung hatte er sich von seiner Familie befreit, aber er durfte nichts tun, was die Gefahr barg, ihn von Kitty zu befreien. Sie war sein Ein und Alles, das Einzige, wonach ihn stets verlangt hatte. Nur musste sie Kitty McCloud bleiben – eigensinnig und unnachgiebig. Kieran kämpfte nicht um das Schwein, er kämpfte um seine Ehe.
»Das Schwein bleibt, wo es ist«, sagte er und war – durchaus mit einigem Erfolg – darum bemüht, dass seine Antwort weder penetrant noch hartnäckig, sondern nur entschieden klang.
Kitty machte ihrem seltsamen Zwischenspiel, in dem sie sich in den sattsam bekannten Überredungskünsten einer guten und liebenswürdigen Ehefrau geübt hatte, ein Ende, stemmte die eine Hand auf das Hinterteil einer Kuh und die andere in ihre rechte Hüfte. »Dir ist aber klar, dass alles, was fortan passiert, auf deine Kappe geht?«
»Ich werde die Stelle, wo es hingepisst hat, scheuern.«
»Es bleibt also hier in der Halle? Bei den Kühen?«
Schmunzelnd zeigte Kieran auf den Platz, den sich das Schwein gesucht hatte. Mit ihrem Maul berührte die Kuh jetzt fast das Schwein, und dessen Bauch hob und senkte sich friedlich und entspannt. »Macht es den Eindruck, es sehnte sich nach einem anderen Fleck?«
»Erwarte nicht, dass ich es überhaupt ansehe.« Sie war schon im Hinausgehen, als sie noch eins draufsetzte. »Und sorge dafür, dass es auch mich nicht anblickt.«
Entschlossen strebte sie nach draußen. Nichts erinnerte mehr an ihren zögernden Gang von vorhin. Sorgenvoll schaute ihr Kieran nach. Wie konnte er dieser prächtigen Frau etwas versagen!
Unversehens erhob sich das Schwein und verließ den wärmenden Ort; auch die Kuh stand auf und glotzte die keine zwei Fuß entfernte Wand an.
Eine Kuh am hinteren linken Ende fing an, unruhig hin und her zu treten, eine andere zu muhen. Das Schwein trottete ein Stückchen weiter und begann, mit dem Rüssel im Stroh zu wühlen. Zwei weitere Kühe wurden unruhig, dann eine dritte. Die meisten schlugen mit ihren Schwänzen hin und her, fuhren mit ihnen durch die Luft, als versuchten sie etwas abzuwehren. Das Schwein grunzte, wühlte heftiger, wie suchend, im Stroh. Jetzt streckte schon die Hälfte der Kühe den Kopf in die Höhe, reckte den Nacken, und unharmonisches Muhen strebte gen Decke und Himmel. Das Grunzen des Schweins wurde lauter und brach plötzlich ab. Auch die Kühe beruhigten sich. Sie senkten die Köpfe, ihr Brüllen wurde schwächer, ging in eine Art Schnaufen über. Die Kuh, die das Schwein sich als Schutz auserkoren hatte, legte sich wieder. Das Schwein kehrte zu ihr zurück, legte sich ebenfalls und schmiegte den Kopf an den Hals der Kuh.
Kieran sah sich prüfend um. In der Halle schien wieder Frieden eingekehrt zu sein. Er wartete noch einige Augenblicke, um sicherzugehen, dass alles seine Ordnung hatte, dann entschloss auch er sich zum Aufbruch. Erst jetzt bemerkte er, was die Tiere in Aufruhr versetzt hatte. Eine Frau aus der Nachbarschaft, nein, eher ein junges Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren, hatte die Halle betreten. Sie hatte sich für eine kühle Nacht gerüstet, denn sie war mit einem schweren braunen Mantel angetan, dessen Kapuze sie zurückgeschoben hatte. Das Kleid aus Leinen reichte ihr fast bis an die Knöchel. Sie war barfuß, an den Zehen klebte Schmutz, an den Füßen haftete Straßenstaub. Das braune Haar fiel offen über Schultern und Kapuze. Auf den ersten Blick machte sie einen sehr einfachen und schlichten Eindruck, aber als Kieran etwas genauer hinsah, fand er sie ausgesprochen hübsch. Zarte blasse Haut, blaue Augen, volle Lippen, die Oberlippe etwas kräftiger als die untere. Hals und Nacken waren von dem derben Stoff ihres Kleides wundgescheuert.
Sie schaute Kieran an, irgendwie erwartungsvoll, wie er meinte, falls er die leicht geöffneten Lippen und die sich etwas weitenden Augen richtig deutete. Er glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben. Hatte sie zu den Hochzeitsgästen gehört? Bekleidet war sie damals genau wie jetzt gewesen. Gewiss würde sie ihm gleich sagen, was sie herführte. Aber sie sagte nichts. Die schlanke Erscheinung starrte ihn nur unentwegt und mit gleichbleibendem Gesichtsausdruck an, in aufrechter Körperhaltung, den Kopf leicht zur Seite geneigt, den rechten Fuß vor den linken gesetzt.
Er wartete noch einen Moment, dann sprach er sie an. »Du suchst sicher meine Frau.« Das Mädchen strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und schob sie hinter das linke Ohr, fiel aber sofort wieder in ihre fast würdevoll anmutende Haltung zurück, behielt auch den erwartungsvollen Blick bei. »Oder kann auch ich etwas für dich tun?«
Er betrachtete sie genauer. Die Schattierung um den Nacken hatte er für einen grob gewebten Kragen gehalten, aber beim näheren Hinsehen stellte er fest, es war kein grobes Tuch, es war rohes Fleisch. Augenscheinlich hatte ihr ein derbes Gewebe die Haut bis aufs Blut aufgescheuert. Oder hatte sie da eine Verbrennung erlitten? Vielleicht konnte das Mädchen deswegen nicht sprechen. Kieran würde sie fragen. Aber noch ehe er sich zu der rechten Wortwahl entschließen konnte, setzte das Mädchen seinen rechten Fuß auf gleiche Höhe zum linken zurück, verharrte kurz in dieser Stellung und verschwand. Sie löste sich nicht auf, sie verblasste nicht, sie war einfach nicht mehr da, wo sie eben noch gewesen war.
Hatte er kurz geblinzelt? Hatte er zu einem Schatten in der Halle hinten gesprochen? Hatte sie ihn verlassen, als er vielleicht unbewusst woanders hingeschaut hatte? Er ging hinaus auf den Hof. Niemand. Nichts. Er lugte zurück in die Halle. Niemand. Er ging noch einmal in die Halle. Die meisten Kühe hatten sich – mit von der Wand abgewendetem Kopf – zur Ruhe gelegt. Das Schwein hatte seine Position verändert, so dass jetzt sein Bauch ein weiches Ruhekissen für das Maul der Kuh abgab.
Kieran tastete mit den Augen die Wände ab, alle Ecken. Er schritt prüfend die Kuhreihen ab. Er drehte sich unerwartet um, versuchte jemand zu ertappen, der ihm vielleicht folgte. Nur ein paar Schatten. Er blieb am Ende der Halle stehen, das Gesicht den Kühen zugewandt, schaute von einer Seite zur anderen. Mit befehlsgewohnter Stimme warnte er: »Ich halte nichts von blöden Streichen. Versuch es also nicht ein zweites Mal. Verstanden?«
Bevor jemand hätte eine Antwort geben können, war er schon wieder draußen auf dem Hof. Er war finster entschlossen, sich nicht umzudrehen, und wollte zur Spülküche, wo er mit sich allein sein würde. Auf dem Weg dahin gesellte sich zu der Liste der Möglichkeiten für den wundgeriebenen Hals des Mädchens ein weiterer Gedanke. Ein dickes Seil aus rauer Faser hätte die Haut aufgescheuert haben können. Die nächste Mutmaßung ergab sich zwangsläufig: Das Mädchen war vielleicht gehängt worden.
Jetzt wusste er, wer die Erscheinung gewesen war. Ihr Name hatte ihn seit seiner Kindheit begleitet. Ihr Name war Brid.
Doch es konnte gar nicht Brid gewesen sein. Brid war tot – tot seit über zwei Jahrhunderten. Das Mädchen eben aber lebte.